Читать книгу Argenta - Thomas Kühlkamp - Страница 8

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Kapitel 1

Peter hasste die Schule. Zumindest tat er das in diesem Moment. Vielleicht hasste er auch nicht die Schule, er hasste nur ganz sicher seine Schule. Er war ein Heimkind, überdurchschnittlich intelligent und freundlich. Eine Kombination, die ganz und gar nicht zu einer Schule passte, in der jeder vornehmlich an sich selbst dachte und alles andere als Normalität und Mittelmaß eine Bedrohung darstellte. Es waren auch keine besonders guten Voraussetzungen dafür, solche Freunde zu finden, mit denen Peter gerne zusammen war und seine Zeit verbringen wollte.

Luke war ein echter Lichtblick gewesen. Peter und er hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Sie konnten über dieselben Dinge lachen und fanden die gleichen Leute seltsam. Sie diskutierten stundenlang über alle möglichen Themen und erzählten sich, welche Mädchen sie heimlich toll fanden. Luke war witzig und nett gewesen, und Peter hatte jeden Tag mit ihm genossen. - Dann war er plötzlich weg gewesen, von heute auf morgen umgezogen, wie Peter selbst früher das so oft gemacht hatte. Peter war sich so allein vorgekommen, wie noch nie in seinem Leben. Sein Zimmernachbar Jan hatte seine Chance genutzt und ab dem Zeitpunkt das Leben im Heim noch unerträglicher gemacht, als es eh' schon war. In der Schule hatte sich Peter immer mehr zurückgezogen. Seine Nachmittage oder auch den ein oder anderen Vormittag verbrachte er mittlerweile lieber alleine in der Bibliothek. Man konnte es nicht anders sagen: sein Leben war ziemlich trostlos. Und der Tag heute war um keinen Deut besser als die letzten davor.

Peter saß auf dem Schulhof und schaute genervt auf seine Uhr. Die Pause war gerade erst angefangen. Sein Platz lag im Schatten einer großen Kastanie. Hinter seinem Rücken erstreckte sich eine alte Ziegelmauer, die den Schulhof von der Straße trennte. Etwas weiter entfernt standen die großen Müllcontainer der Schule und immer lagen Papierreste oder einige leere Trinkpäckchen auf dem Boden um ihn herum. Peter störte das nicht, zumal es dazu führte, dass die anderen Schüler diesen Bereich weitgehend mieden. Einziger Lichtblick war Bea, die mit ihren Freundinnen zusammenstand und sich angeregt mit ihnen unterhielt. Sie sah wirklich toll aus und wann immer sich die Gelegenheit bot, versuchte Peter sie unbemerkt zu betrachten. Nicht, dass er sich irgendwelche Chancen ausgerechnet hätte. Er hatte mit seinen dreizehn Jahren zwar einen schlanken und drahtigen Körper und dazu ein ebenmäßiges Gesicht mit großen Augen und dichten blonden Haaren, aber Bea spielte in einer anderen Liga. Sie war beliebt, kam aus einem guten Elternhaus und erfüllte so ziemlich jedes Klischee eines perfekten Teenies. Sie war für diese Schule geboren.

Peter seufzte hörbar und holte sein Buch aus der Tasche, um sich damit für den Rest der Pause die Zeit zu vertreiben.

»Was liest du gerade?«

Peter schrak zusammen und schaute in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ein älterer Mann stand angelehnt an der Mauer hinter ihm und Peter fragte sich, wo er so plötzlich hergekommen war. Weil Peter nicht sofort antwortete, drehte der Mann seinen Kopf ein wenig zur Seite, um einen Blick auf das Buch werfen zu können. Er nickte kurz anerkennend, als er sah, dass es sich um den Roman Herr der Fliegen handelte. Dann wartete er ab. Wenn Peter hätte schätzen müssen, hätte er gesagt, dass der Mann vielleicht 60 Jahre alt wäre. Das graue Haar und der gepflegte Bart vermittelten einen fast würdevollen Eindruck. Der elegante Anzug unterstrich diese Wirkung noch. Am auffälligsten waren aber die blauen Augen, die Peter interessiert und aufmerksam musterten.

»Ich lese gar nicht. Ich habe nachgedacht.«

»Worüber?«

»Das ist doch wohl in erster Linie meine Sache, oder?«

»Du hast Recht, tut mir leid!«, sagte der Mann ruhig.

»Was tut ihnen leid?« Peter war es seit längerer Zeit nicht mehr gewohnt, dass sich irgendjemand bei ihm für irgendetwas entschuldigte.

»Du sitzt hier, ich störe dich und habe mich noch nicht mal vorgestellt.« Der Mann sprach freundlich und Peter konnte in seinem Gesicht keine Spur von Spott oder Häme erkennen.

»Und? Wer sind sie und was wollen sie von mir? Ich habe sie noch nie hier gesehen!« Auch wenn die Situation nicht wirklich bedrohlich war, fühlte sich Peter ziemlich unbehaglich. Ein so deutliches Interesse eines unbekannten Erwachsenen ihm gegenüber konnte eigentlich nichts Gutes bedeuten. Der Mann schaute Peter einen Moment ruhig an. Offenbar ahnte er, was Peter dachte. Langsam lehnte er sich zurück und räusperte sich.

»Ich heiße Francesco Paolo und ich würde mich freuen, wenn du dir ein wenig Zeit nehmen würdest, um dich mit mir zu unterhalten. Ich erzähle dir in Ruhe, warum ich hier bin und was ich von dir möchte - und dann sehen wir weiter.«

Peter Unbehagen verstärkte sich noch. Was wollte dieser Mann nur von ihm? Die ganze Situation war beängstigend seltsam und doch faszinierte ihn die Offenheit des Mannes.

»Die Pause ist gleich vorbei und ich muss zurück in den Unterricht«, wandte er nun ein und klappte demonstrativ sein Buch zu.

»Das ist kein Problem«, sagte der Mann und lächelte Peter nun freundlich an, während er näher kam und sich in einiger Entfernung neben Peter setzte. »Du bist von der nächsten Stunde befreit.«

Peter schaute den Mann erstaunt an. Konnte er ihm das wirklich glauben? Paolo saß einfach da und wartete. Und plötzlich war sich Peter sicher, dass der Mann die Wahrheit sagte.

»Na, dann schießen Sie mal los!«, forderte Peter nach einem weiteren kurzen Moment den Mann auf und fühlte dabei, dass er gespannter war als er sich eingestehen wollte.

»Du heißt Peter Jakobson«, fing der Mann an. »Deine Eltern waren Ingenieure und sind in Chile bei einer Explosion gestorben, als du sechs Jahre alt warst. Zuvor hast du mit ihnen die Welt bereist. Jetzt lebst du seit sieben Jahren im Heim. Du fühlst dich dort nicht besonders wohl, genauso wenig wie hier in der Schule. Du besuchst gerne die Bibliothek und bringst dir teilweise den Schulstoff und vieles darüber hinaus selbst bei. Die letzten Bücher, die du gelesen hast, sind ein Buch über die Entstehung des Universums und ein Pflanzenlexikon.«

Peter hörte Paolo fasziniert zu. Ihm war völlig schleierhaft, was hier gerade vor sich ging und warum dieser Mann all diese Informationen über ihn gesammelt haben könnte.

»Sie wollten mir etwas über sich erzählen«, unterbrach Peter den alten Mann und schaute ihn dabei fragend an.

»Das ist richtig«, erwiderte Paolo gelassen, »aber ich dachte, es wäre dir gegenüber nur fair, wenn du weißt, dass wir über dich schon Einiges wissen.«

»Wenn mich das beeindrucken soll, ist Ihnen das bisher noch nicht gelungen, Herr Paolo«, sagte Peter mit trotziger Stimme und nicht ganz wahrheitsgemäß. »Ein Blick in meine Akte beim Jugendamt dürfte dafür ausreichend gewesen sein.«

Als wenn Paolo Peters Einwand überhaupt nicht gehört hätte, fuhr er weiter fort.

»Vor vier Wochen hast du ein Smartphone-Handy gefunden und es zu den anderen Sachen in dein Geheimfach hinter deinem Schreibtisch gelegt. Die Dinge, die du dir im Laufe der Zeit besorgt hast, sind gut gewählt: Eine große Anzahl unterschiedlicher Prepaid-Handy-Karten, ein bisschen Bargeld, eine Minitaschenlampe, einen Ausweis von einem Jungen aus deiner Schule, der dir ziemlich ähnlich sieht und gute Funktionskleidung. Ich überlasse es deiner und meiner Fantasie, warum du gerade diese Dinge gesammelt hast. Du interessierst dich für ein hübsches Mädchen aus deiner Schule, ich glaube Beatrice ist ihr Name. Du sorgst dich um Collin, euren jüngsten Neuzugang im Heim und beschützt ihn vor den üblichen Willkommensgrüßen deines Zimmernachbarn Jan. Seit zwei Wochen lässt du ihn in der Zeit zwischen dem Abendessen und dem Schlafengehen nicht aus den Augen. Tag und Nacht schleppst du ein altes Diktiergerät mit dir herum, auf dem du alles das sprichst, was dir wichtig erscheint und was dich bewegt. Leider ist es vor zwei Wochen kaputt gegangen. – Peter, ich will dich nicht beeindrucken, aber ich möchte dir klar machen, dass wir intensiv Erkundigungen über dich eingezogen haben. – Das meine ich mit fair

Peter sagte nichts, aber das Gespräch nahm eine sehr beunruhigende Wendung und ein dumpfes Gefühl der Angst bemächtigte sich seiner. Er merkte, wie dieses Gefühl immer stärker wurde und er plötzlich nicht mehr klar denken konnte. Paolo schaute Peter aufmerksam an und wartete. Ein paar Minuten waren bestimmt verstrichen, als Peter noch einmal leise fragte:

»Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?«

»Ich gebe dir eine Chance, wie du sie nur einmal im Leben bekommen wirst, eine Chance, die dein Leben so sehr verändern wird, wie du dir es in deinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen vermagst. Ich komme von einer sehr großen und gemeinnützigen Organisation. Diese Organisation führt eines der größten und bedeutsamsten Gesellschaftsexperimente durch. An diesem Experiment nehmen mittlerweile fast tausend Menschen teil. Meine Organisation betreut und beobachtet das Experiment von Anfang an und wertet die Ergebnisse aus.«

»Okay, und was habe ich mit dem Ganzen zu tun?«, fragte Peter dazwischen.

»Wir suchen für unser Experiment einen weiteren Teilnehmer – und haben dabei an dich gedacht.«

»Warum gerade ich?«

»Weil wir glauben, dass du über die Eigenschaften verfügst, die wir brauchen - um das Experiment voranzubringen.«

»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Peter verwirrt. »Was sollen das für Eigenschaften sein?«

Paolo lächelte wieder und hob bedauernd die Hände.

»Das, lieber Peter, kann ich dir leider nicht sagen. Es ist ein sehr offenes Experiment, das uns allerdings nur dann Erkenntnisse gewinnen lässt, wenn die Teilnehmer nichts über das Ziel wissen.«

»Da wäre ich doch bescheuert, wenn ich bei der Informationslage einfach mitmachen würde!«, rief Peter ungläubig. »Da werden sie nie einen finden!«

»Warten wir es ab!«, erwiderte Paolo und blickte Peter ernst an.

»Ihnen ist schon klar, dass sich das Ganze ziemlich absurd anhört?«

Paolo lachte.

»Ja, das kann ich mir vorstellen!«

Peter war sich nicht sicher, ob Paolo ihn auf den Arm nehmen wollte, auch wenn es überhaupt nicht den Anschein machte.

»Erzählen Sie mir bitte mehr von dem Experiment«, bat er Paolo.

»Das Experiment begann vor dreißig Jahren«, klärte ihn Paolo weiter auf. »Die Teilnehmer haben ihr vorheriges Leben komplett aufgegeben und sind an einen besonderen Ort gebracht worden, um dort gemeinsam zu leben und eine neue, bessere Gesellschaft aufzubauen. Und das tun sie heute noch jeden Tag. Ich kann dir versichern, dass die Lebensbedingungen dort sehr gut und mit nichts zu vergleichen sind, was du bisher in dieser Welt kennen gelernt hast. Wie lange das Experiment geht, ist völlig offen. Wer sich darauf einlässt, muss mit diesen Bedingungen klarkommen.«

»Das heißt, dass ich von hier weggehen und zu diesen Leuten ziehen müsste?«, fragte Peter dazwischen.

»Das hieße es in der Tat«, antwortete Paolo.

»Was habe ich davon, wenn ich mitmachen würde?«

»Eine wunderbare, neue Welt! Ein Leben mit einer Familie, einer Mutter und einem Vater, ein eigenes Zimmer in einem schönen Haus. Mitmenschen, die gemeinsam miteinander leben wollen und nicht zwangsweise müssen. Lehrer, die deine Begabungen fördern und nicht als Bedrohung empfinden!« Paolo machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »Bei diesem Experiment geht es um sehr viel. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass wir bei der Suche nach einem geeigneten Teilnehmer viele verschiedene Personen überprüft, getestet und schließlich in die engere Wahl genommen haben. - Am Ende bist du übrig geblieben.«

Peter schwirrte der Kopf. Das alles konnte doch nur ein alberner Scherz sein!

»Ich mache dir jetzt einen Vorschlag, Peter. Ich komme in zwei Tagen bei dir im Heim vorbei und hole dich ab. Ein Mitarbeiter unserer Organisation wird dir noch ein wenig mehr über das Experiment erzählen. Wenn du dann immer noch in deinem alten Leben bleiben möchtest, bringen wir dich wieder nach Hause und vergessen die ganze Idee.«

Peter dachte nach. War sein Leben gerade so toll, dass ihn ein solches Angebot ganz kalt lassen konnte? Was hatte er zu verlieren? Sein Leben im Heim mit den immer wiederkehrenden Attacken von Jan? Oder sein tristes Dasein hier auf dem Pausenhof?

»Das Ganze ist kein schlechter Scherz?«

»Ich kann dir versichern, dass es das ganz sicher nicht ist.«

»Könnte ich bis ganz zum Schluss noch frei entscheiden?« Peter erschrak zu Tode, als sich das selbst fragen hörte.

»Ohne jede Einschränkung«, lächelte Paolo ihn an. »Und ehrlich gesagt: Was hast du schon zu verlieren?«

»Was haben Sie zu verlieren?« fragte Peter nun gerade heraus.

»Nichts«, sagte Paolo und zuckte mit den Achseln. »Außer vielleicht eine sehr geeignete Person, die unser Experiment hätte bereichern können. Aber wenn du Nein sagst, machen wir uns auf die Suche nach einem anderen Kind. Eines, das mehr Mut hat.«

Peter schaute um sich, betrachtete den leeren Schulhof und blickte durch eines der Fenster in eine Klasse, aus der fröhliches Gelächter erklang. Er gehörte nicht dazu, das spürte er ganz deutlich und innerhalb einer Sekunde war er sich darüber im Klaren, dass er sich im Grunde genommen schon entschieden hatte. Es gab hier nichts, das er vermissen würde und was konnte noch schlechter sein als sein derzeitiges Leben? Natürlich war es vollkommen verrückt. Und alles in ihm schrie, dass eine solche Chance niemals umsonst zu haben war. Aber andererseits war er durchaus bereit, einen hohen Preis dafür zu bezahlen.

»Sie sind gefährlich oder?«

»Wie kommst du darauf?«

»Ich will gar nicht wissen, wie Sie das alles über mich herausbekommen haben«, sagt Peter langsam und vorsichtig. »aber Sie scheinen über Mittel zu verfügen, die andere nicht haben.«

»Du hast recht«, erwiderte Paolo und schaute Peter dabei fest in die Augen. »Ich bin mächtig und es ist gut, dass du das weißt. Aber ich bin nicht wirklich gefährlich.«

Peter war sich nicht sicher, ob er Paolo seine Harmlosigkeit so einfach glauben sollte, dennoch ging er nicht weiter darauf ein.

»Ich kenne Sie nicht und es muss Ihnen klar sein, dass ich nicht ohne jegliche Vorsichtsmaßnahme mit Ihnen gehen werde.«

»Das versteht sich von selbst, Peter«, entgegnete Paolo. »Was schwebt dir vor?«

Peter musste kurz überlegen. Er wollte es diesem Mann nicht zu einfach machen.

»Sie können mich am Freitagmorgen früh vom Heim abholen, am besten nach dem Frühstück. Ich will, dass Sie an die Tür klopfen, mit meinem Heimleiter sprechen und ich mit der offiziellen Erlaubnis des Jugendamtes mit Ihnen gehen darf. Ist das für Sie machbar?«

Paolo stand vorsichtig auf und kam langsam auf Peter zu. Freudestrahlend hielt er ihm die Hand hin und Peter zögerte nur einen kleinen Augenblick, dann schlug er ein. Zehn Sekunden später war Paolo verschwunden und erst jetzt merkte Peter, dass er einen kleinen Gegenstand in der Hand hielt. Langsam öffnete er sie und blickte auf ein gerade mal daumengroßes digitales Aufnahmegerät. Vor genau diesem Modell hatte er zwei Tage zuvor in einem Kaufhaus gestanden und es sehnsüchtig betrachtet. Doch natürlich war es viel zu teuer und für ihn unerschwinglich gewesen. Nun drückte Peter vorsichtig auf den Aufnahmeknopf, hob es langsam hoch zu seinem Mund und begann zu sprechen.

»Heute habe ich etwas Unglaubliches erlebt. …«

Argenta

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