Читать книгу Argenta - Thomas Kühlkamp - Страница 13

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Kapitel 6

Peter versuchte langsam die Augen aufzumachen, doch das grelle Licht blendete ihn so, dass er sie schnell wieder schloss. Er hatte fürchterliche Kopfschmerzen, konnte sich zum Glück jedoch sofort an alles erinnern. Um ihn herum nahm er jetzt langsam aufgeregte Stimmen wahr, die laut durcheinander schrien. Jemand beugte sich zum ihm hinunter und sprach ihn an.

»Peter, kannst du mich hören? Peter, alles in Ordnung?«

Peter versuchte, noch mal die Augen zu öffnen. Diesmal war die Sonne von einem Gesicht verdeckt. Es war Jana.

»Ja, es geht schon«, flüsterte Peter, dann wurde ihm schlecht und er drehte kurz seinen Kopf zur Seite, um sich zu übergeben. Das war ihm unglaublich peinlich, aber Jana schien es nichts auszumachen. Denn sie hielt beherzt seinen Kopf fest und sagte leise zu ihm:

»Bleib liegen. Du hast eine Gehirnerschütterung. Du bist mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen, als du auf dem Boden aufgeschlagen bist. Tut dir noch etwas anderes weh?«

Peter versuchte, sich auf den Rest seines Körpers zu konzentrieren. Bis auf einen erträglichen Schmerz im rechten Bein, fühlte er nur das unnachgiebige Pochen in seinem Kopf. Dieses Pochen wurde plötzlich zu einem unerträglichen Stechen, als eine dröhnende Stimme aus dem Hintergrund immer näher kam und lauter wurde.

»Was ist denn hier passiert? Macht Platz da!« Hagenstein riss Jana heftig nach hinten weg und als sein rotes Gesicht vor Peter auftauchte, schloss dieser schnell wieder seine Augen.

»Hey, wach auf! Was liegst du hier so rum?«

Peter fand trotz seines Zustandes, dass das die dümmste Frage war, die er jemals gehört hatte. Mit zusammengebissenen Zähnen murmelte er leise:

»Ich ruhe mich aus, Herr Hagenstein!«

Peter hatte eigentlich so leise sprechen wollen, dass Hagenstein ihn nicht verstand, aber anscheinend besaß der Schulleiter ein ausnehmend gutes Gehör.

»Versuch ja nicht, mich für dumm zu verkaufen, Peter Jakobson. Da kommen drei Schülerinnen in mein Büro gestürzt und schreien, dass jemand verletzt ist. Und jetzt liegst du hier, nachdem du gerade mal drei Wochen Schüler dieser Schule bist, und hast eine Riesenbeule an deinem Hinterkopf. Jetzt rede endlich und mach gefälligst die Augen auf, wenn ich mit dir spreche!«

Peter fühlte, wie er an den Schultern ein wenig hin und her gerüttelt wurde und er fragte sich unwillkürlich, was Hagenstein mit einem ernsthaft verletzten Schüler alles anstellen würde. Peter öffnete erneut mühsam seine Augen. Hinter Hagenstein wurde das angsterfüllte und von Panik gezeichnete Gesicht Jonathans erkennbar und Peter ging es sofort etwas besser.

»Ich habe die Kletterwand ausprobiert und bin ausgerutscht.« Peter sprach langsam und schaute dabei Jonathan direkt in die Augen. »Dabei bin ich aus Versehen mit dem Kopf an einen der Tritte gestoßen.«

»Wie hoch bis du denn geklettert?« Hagensteins Frage kam schneidend und wie aus der Pistole geschossen. Jonathans Augen wurden bei dieser Frage immer größer und einzelne Schweißperlen traten auf seine Stirn.

»Ich weiß es nicht genau. Ich glaube ich habe mit dem ausgestreckten Arm eine dicke rote Linie berührt.«

»Mit dem ausgestrecktem Arm?« Hagenstein schien kurz zu überlegen, welche Schlussfolgerungen über die Höhe sich daraus ziehen ließen. Er schien sehr erleichtert, als er endlich zu einem Ergebnis kam. Spöttisch zog er die Augenbrauen hoch.

»Du bist also aus einem Meter Höhe hinuntergefallen und liegst hier, als ob du fast von Dach gesprungen wärst?« Er ließ Peters Schulter los und richtete sich auf. Peter fiel unsanft auf seinen Kopf zurück und war nur froh, dass der Fallschutz, auf dem er lag, aus weichem Rindenmulch bestand.

»Ja dann«, rief Hagenstein laut und klatschte in die Hände, »wollen wir alle mal wieder in die Klassen gehen. Die Pause ist längst vorbei. - Peter, würdest du bitte noch dieses ekelige Erbrochene wegmachen und dann«, er zögerte kurz und betrachtete Peters Beule, »solltest du vielleicht nach Hause gehen und die Verletzung Elisabeth zeigen.«

Damit wandte er sich um und ging mit den anderen Schülern, von denen sich der eine oder andere das Grinsen nicht verkneifen konnte, in Richtung Schultür. Plötzlich meldete sich Jana zu Wort.

»Sie werden es bestimmt für richtig erachten, wenn ich Peter zur Sicherheit begleiten werde, Herr Hagenstein. – Er hat eine, wenn auch leichte, Gehirnerschütterung.«

Peter fiel sofort auf, dass das nicht als Frage formuliert war und auch Hagenstein schien sich darüber im Klaren zu sein. Schon öffnete er den Mund und Peter erwartete eine Zurechtweisung, die sich gewaschen hatte, doch dann hielt Hagenstein inne und schaute Jana nur böse an. Mit einem säuerlichen Lächeln nickte er ihr zu und verschwand aus Peters Sichtfeld.

Wenige Minuten später waren Jana und Peter allein auf dem Schulhof.

»Kannst du gehen?«, fragte sie und half Peter mit einem kräftigen Ruck auf die Beine.

»Ja, ich glaube schon«, antwortete Peter, obwohl er sich nicht ganz sicher war. »Woher weißt du, dass ich eine Gehirnerschütterung habe?«

»Ich habe Erfahrung damit«, antwortete sie kurz angebunden.

»Und Hagenstein weiß davon?«

Verwirrt drehte Jana sich zu Peter.

»Natürlich weiß er davon. Jeder weiß das hier im Dorf.«

»Also da, wo ich herkomme, ist es ziemlich selten, dass ein dreizehnjähriges Kind eine Gehirnerschütterung diagnostiziert und dem Schulleiter sagen kann, was bei einem Unfall gemacht werden soll und was nicht.« Peter ließ diese Feststellung einfach so im Raum stehen und war gespannt, wie Jana reagieren würde. Sie schien zu überlegen, doch dann gab sie sich einen Ruck.

»Ich bin hier so etwas wie die nächste Dorfärztin«, sagte sie ruhig. Peter musste wider Willen laut lachen und wurde dafür sofort mit höllischen Kopfschmerzen bestraft. Jana dagegen verdrehte genervt die Augen. Peter hatte sie nicht kränken wollen und fragte daher ernsthaft interessiert weiter.

»Woher willst denn jetzt schon wissen, was du später einmal werden wirst? Interessierst du dich so sehr für Medizin?«

»Nein – oder vielleicht doch, ich weiß es eigentlich nicht so genau.« Jana machte eine Pause und schaute Peter fest in die Augen. »Diese Frage hat mir noch keiner gestellt.«

Peter schaute sie mit gezogenen Augenbrauen und gekrauster Stirn auffordernd an und wartete auf weitere Erklärungen, während sie sich langsam nebeneinander herlaufend vom Schulhof entfernten.

Es dauerte einen kurzen Moment, bis Jana weiter redete.

»Seitdem ich denken kann, bin ich von Ärzten und kranken Menschen umgeben. Meine Mutter ist Ärztin in dem einzigen kleinen Krankenhaus, das wir auf Argenta haben. Sie hat mich häufig mitgenommen und ich durfte überall im Krankenhaus spielen und herumlaufen. Alle waren immer sehr nett zu mir und haben mir alles Mögliche gezeigt. Mein Vater ist der Kinderarzt in Eleon. Seitdem ich sieben Jahre alt bin, darf ich ihn bei seinen Patientenbesuchen begleiten. Mit neun Jahren habe ich angefangen, die Kinder zu untersuchen und erste leichte Diagnosen zu erstellen. Irgendwann habe ich ihn gefragt, warum er mich immer mitnehmen würde und da hat er mir geantwortet, dass ich dafür vorgesehen wäre, später als Erwachsene Ärztin zu werden. Das war dann eigentlich aber auch nicht mehr sehr überraschend.«

Peter schaute sie ungläubig an.

»Du meinst, dass man dich dein ganzes Leben darauf vorbereitet hat, einmal Ärztin zu werden? Das darf doch nicht wahr sein!«

»Aber warum denn nicht?«, antwortete Jana. »Jeder muss doch etwas für die Gemeinschaft tun und den Leuten zu helfen, gesund zu werden, finde ich nicht so schlecht. Alle Kinder hier werden auf die Erfüllung einer bestimmten wichtigen Aufgabe hin erzogen.«

»Aber was ist, wenn eines der Kinder keine Lust hat, die für ihn vorgesehene Aufgabe zu übernehmen?«, fragte Peter so erschüttert, dass er kurz stehen bleiben musste. Doch Jana schaute ihn nur völlig verständnislos an.

»Das kommt nur sehr selten vor und ehrlich gesagt, das macht doch auch gar keinen Sinn!«

»Oh! Na klar!«, war das Einzige, was Peter dazu einfiel.

»Was soll das denn jetzt?« Jana hatte den ironischen Unterton in Peters Stimme durchaus wahrgenommen und nun war er an der Reihe, sich zu erklären.

»Stell dir doch mal vor, jemand ist dafür bestimmt, als Erwachsener die Bücherei bei euch zu leiten. Jetzt findet dieser Jemand Bücher total langweilig und baut viel lieber Häuser! Wäre es da nicht sinnvoller, ihn ein Architekt oder Maurer werden zu lassen?«

»Aber Peter, wenn dieses Kind schon vom ersten Tag seiner Geburt an mit Büchern, Texten und Geschichten zusammengebracht wird, ist es doch total unwahrscheinlich, dass es Bücher nicht lieben wird. Stattdessen wird es eine Aufgabe erfüllen dürfen, die niemand anderer besser erledigen könnte. – Und dann gibt es ja noch die Sichtung

»Die Sichtung

»Die Sichtung findet für alle dreizehnjährigen Kinder am Ende des Schuljahres statt. In diesem Jahr sind wir dran. Es ist so eine Art Prüfung, in der geschaut wird, ob wir tatsächlich für die vorgesehene Aufgabe geeignet sind. Alle anderen Schüler haben dann schulfrei und den ganzen Tag werden mit uns verschiedene Tests durchgeführt. Es gibt eine Kommission, die das Ganze bewertet und dann das Ergebnis in eine Liste einträgt. Die Sichtung ist eine ziemlich große Sache hier auf Argenta

»Dann gibt es ja doch eine Möglichkeit, seine vorgesehene Aufgabe zu wechseln.«

»Ja, schon«, erwiderte Jana nachdenklich, »aber wie gesagt, das kommt nur sehr selten vor.«

»Wie ist es bei dir, hast du dir jemals gewünscht, etwas anderes zu werden als Ärztin?«, fragte Peter, wobei er kurz überlegte, wie wohl seine Sichtung im Sommer aussehen würde.

»Ich bin immer mittendrin im Geschehen. Die Pfleger und Ärzte im Krankenhaus, die Eltern der kranken Kinder und auch die Kranken selbst haben nie ein Problem damit, dass ich über ihre Krankheiten und Leiden etwas erfahre oder bei der Behandlung mit dabei bin. Ich darf mithelfen, Vorschläge machen und werde ernst genommen. In der Schule rufen mich die Lehrer bei jedem Unfall und ich muss die Wunden verbinden. – Nein, ich habe noch nie darüber nachgedacht, etwas anderes werden zu wollen!« Jana schaute Peter seltsam an und ihm wurde klar, dass es für sie sehr ungewöhnlich sein musste, über solche Fragen nachzudenken. Doch dann lachte sie plötzlich.

»Du siehst also, eine einfache Gehirnerschütterung wie bei dir kann ich sicher diagnostizieren und auch sonst weiß ich wahrscheinlich jetzt schon eine Menge mehr, als einige der Quacksalber bei euch draußen.«

Peter schmunzelte ein wenig. Er war sich ziemlich sicher, dass Jana und die Menschen hier keine Vorstellung davon hatten, welche technischen oder medizinischen Veränderungen sich in den letzten dreißig Jahren in der Welt um sie herum ereignet hatten und es war ihm bisher auch nicht in den Sinn gekommen, irgendwem davon zu erzählen. Vor allem wurde ihm jedoch etwas anderes plötzlich bewusst. Trotz seiner Schmerzen fühlte er sich irgendwie gut. Vielleicht lag es daran, dass er gerade das erste Mal seit langer Zeit wieder mit einem anderen Kind zusammen war, mit dem er sich wirklich gut und normal unterhalten konnte. Wenige Minuten später standen sie vor dem Haus seiner Zieheltern und ein wenig unbeholfen verabschiedeten sie sich voneinander.

»Wie lange muss ich mich jetzt schonen, Frau Doktor?«, fragte Peter und lächelte sie an.

»Bleib zwei Tage im Bett, das wird reichen. Ich werde Hagenstein und Fernandez Bescheid geben, dass du nicht zur Schule kommen kannst.«

»Danke«, sagte Peter und ging langsam die Auffahrt hoch.

»Äh, Peter?«

Er hielt inne und drehte sich noch mal um.

»Ja?«

»Halte mich bitte nicht für neugierig, aber das hat mich schon die ganze Zeit irgendwie interessiert.«

»Was?«

»Was hast du damals im Wald gemacht, als du dort alleine an deinem ersten oder zweiten Tag hingegangen bist?«

Peter brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, worüber Jana eigentlich sprach, doch dann begriff er endlich.

»Oh, hast du das damals etwa auch mitbekommen? Hagenstein hat mir an meinem ersten Schultag schon die Leviten gelesen.«

Nun lächelte Jana Peter an.

»Peter, alle im Dorf wissen davon!«

Peter stutzte kurz und überlegte. Er hatte seit seiner Vereinbarung mit Elisabeth und Mike noch ein paar Mal an den Steinbruch gedacht, sich die Sache jedoch immer wieder schnell wieder aus dem Kopf geschlagen. Jetzt fragte Jana nach und ihm wurde schlagartig klar, dass es ihm trotz der Schwierigkeiten sehr schwer fallen würde, seinen Plan zu Errichtung der Hütte ganz aufzugeben. Und wäre es nicht schön, jemanden wie Jana bei der Umsetzung des Projektes an seiner Seite zu haben? Peter zögerte einen Augenblick, doch dann gab er sich einen Ruck.

»Komm das nächste Mal mit! Dann werde ich es dir zeigen!« Und mit diesen Worten verschwand er endgültig durch die Gartentür.

Peter fühlte sich schon nach einem Tag im Bett wieder fit, doch Elisabeth zwang ihn, auch noch den Mittwoch zu Hause zu bleiben.

»Wenn Jana gesagt hat, du sollst dich zwei Tage erholen, werden wir das auch so machen«, sagte sie und beendete damit die Diskussion, die Peter vom Zaun brechen wollte. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich ausgiebig mit den Dingen in seinem Zimmer zu beschäftigen. Die meiste Zeit verbrachte er damit, den Kran zusammen zu bauen, was ihm große Freude bereitete. Auch unterhielt er sich viel mit Elisabeth, die ihm die Möglichkeit bot, etwas über sich zu erzählen, ohne ihn zu bedrängen. Sie war eine gute Zuhörerin und wenn er mit ihr bei einer heißen Tasse Schokolade zusammen saß, spürte er seit langer Zeit in seinem Leben wieder so etwas Ähnliches wie Geborgenheit. Zeit verbrachte er auch damit, Pläne für den Bau der Hütte zu zeichnen. Aus einem zunächst einfachen Unterstand war dabei in seinen Gedanken immer mehr eine feste Behausung geworden. Auch wenn er es kaum abwarten konnte, mit der Arbeit zu beginnen, war ihm doch klar, dass er viel Geduld haben musste. Er musste zunächst versuchen, das Leben hier auf Argenta näher kennen zu lernen und konnte sich dabei eine neuerliche Regelverletzung nicht erlauben. Zudem hatte er das Gefühl, dass er sich noch ein bisschen mehr Zeit nehmen musste, um Jana näher kennen zu lernen, bevor er sie wirklich in seine Pläne einweihen konnte.

Nach zwei Tagen durfte er endlich wieder zurück in die Schule. Er setzte sich neben Jana und sie freute sich sichtlich, dass er wieder da war. Das Thema Wald mieden sie beide, doch auch so hatten sie sich viel zu erzählen. Peter lernte die unterschiedlichen Lehrkräfte immer besser kennen und Jana wurde nicht müde, ihm von den Eigenarten und Marotten jedes einzelnen zu berichten. Sie erklärte ihm die Abläufe in der Schule, zeigte ihm die vielen unterschiedlichen Fachräume und beschrieb ihm während der Pausen die anderen Kinder aus der Schule. Sein Sturz hatte Peters Ansehen bei den Mitschülern nicht geschadet. Sie hatten durchaus bemerkt, wie gut er sich in der Kletterwand geschlagen hatte. Mehrmals, wenn Jonathan gerade nicht in der Nähe war, war der eine oder andere zu ihm gekommen und hatte ihm geraten, doch damit weiterzumachen. Auch Peter hatte das Klettern gut gefallen. Nach dem Unterricht blieb er nun häufig ein wenig länger in der Schule und probierte Klettertechniken aus, die er in der Pause bei Jonathan und anderen abgeschaut hatte. Einmal begleitete ihn Jana dabei und war tief beeindruckt von seinen Fortschritten.

»Du hast wirklich Talent zum Klettern«, sagte sie ihm in der Woche nach seiner Rückkehr. Sie standen in einer Ecke des Schulhofes und beobachteten, wie Jonathan sich geschmeidig an den Griffen und Tritten der Kletterwand entlang hangelte.

»Was haben eigentlich alle mit dem Klettern auf dieser Insel?«, fragte Peter. »Man könnte meinen, die Leute beschäftigen sich mit nichts anderem.«

»Es ist schon eine wichtige Sache hier«, entgegnete Jana. »Ich kenne tatsächlich keinen einzigen Menschen, der es nicht zumindest mal versucht hätte. Ich weiß nicht mal genau, warum das so ist, aber die besten Kletterer sind hier auf Argenta eine wirklich große Nummer.«

»Und Jonathan gehört dazu?«, fragte Peter nun mit Blick auf den Jungen in der Kletterwand.

»Das kann man wohl so sagen. Vor ihm musst du dich in Acht nehmen. Er hält sich für was Besseres und steht gerne im Mittelpunkt. – Außerdem hasst er es, wenn man ihm die Schau stiehlt.«

»Wer sollte das denn wollen?«, fragte Peter und musste neidvoll anerkennen, wie gut Jonathan gerade eine besonders schwierige Stelle mit einer geschickten Körperdrehung meisterte. Jana lachte laut auf.

»Na, du natürlich!«, rief sie.

»Ich?«, fragte Peter überrascht.

»Klar!«, antwortete Jana kopfschüttelnd. »Seit Wochen reden die Leute hier im Dorf von nichts anderem als dir. Du bist eine Riesensache. Alle hier sind unglaublich gespannt, was du tust, wie du sprichst und wie du bei uns klarkommen wirst. Und du kannst dir bestimmt auch vorstellen, dass nicht alle nur begeistert sind.«

Peter schaute Jana fragend an.

»Hagenstein?«

Jana zuckte mit dem Schultern und schaute dann ein wenig schuldbewusst zur Seite.

»Na super!«, brummte Peter, »dann kann ich mir die eine oder andere Sache ja gut erklären. Das hätte mir Verstappen vielleicht von Anfang an erzählen sollen.«

»Gib ihm und den anderen ein wenig Zeit«, beschwichtigte Jana. »Es ist doch irgendwie auch verständlich, dass einige Menschen hier Angst vor dir haben.«

»Warum sollten sie denn vor mir Angst haben? Bin ich so furchterregend?«

»Vielleicht nicht du als Person«, erklärte Jana, »aber du steht für die unbekannte Welt da draußen. Keiner von uns weiß, welche Ideen und Vorstellungen du hier nach Argenta bringst und was das mit uns machen wird.«

»Was soll ich denn schon als einzelnes Kind Schlimmes anrichten können?«, fragte Peter und zog dabei die Augenbrauen hoch.

»Das weiß ich nicht. Aber irgendeinen Grund muss dein Kommen haben und irgendeinen besonderen Sinn muss die Verwaltung darin sehen. Sonst hätte sie dich nicht hergeschickt. Und ehrlich gesagt, da kann man schon mal die eine oder andere Minute drüber nachdenken.«

Peter drehte sich um und betrachtete, wie Jonathan elegant auf den Boden sprang und sich von Henry sein T-Shirt geben ließ. Einer Eingebung folgend wandte sich Peter an Jana.

»Für welche Aufgabe ist Jonathan vorgesehen?«

»Jonathan ist der Sohn von Bukowski, unserem Ortsvorsteher«, antwortete sie und ein bedauernder Unterton war nicht zu überhören. »Ich denke, Jonathan geht zurecht davon aus, dass er irgendwann in der Zukunft Bukowskis Nachfolge antreten und damit der mächtigste Mann hier in Eleon sein wird.«

In der Klasse warteten sie auf den Lehrer, den Peter am wenigsten leiden konnte. Zirkone war ein überheblicher junger Mann mit schütterem Haar, der sich gerne über die Fehler seiner Schüler lustig machte, seinem Schulleiter gegenüber jedoch eine fast erniedrigende Ehrfurcht an den Tag legte. Während er an Peters Beiträgen in der Regel kein gutes Haar ließ, lobte er Jonathan stets überschwänglich. Nun war Peter auch klar, warum das so war. Im Fach Regelkunde liebte es Zirkone besonders, Peters Unwissenheit herauszustellen. Peter war sehr schnell klar geworden, dass es in diesem Unterricht nicht darum ging, die Gesetze in Frage zu stellen und auf ihre Sinnhaftigkeit hin zu überprüfen. Zirkone verfolgte lediglich das Ziel, die Einhaltung der Gesetze den Kindern so einzutrichtern, dass sie sich etwas anderes gar nicht mehr vorstellen konnten. Da Peter mit so einem Unterricht herzlich wenig anfangen konnte, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, sich einfach still zu verhalten und möglichst an etwas anderes zu denken.

»Heute wollen wir uns mit der unglaublich wichtigen sechsten Regel von Argenta beschäftigen. Jonathan, würdest du sie bitte einmal vorlesen.« Zirkone nickte Jonathan wohlwollend zu und ließ seine kleinen Augen über die Schar der Schüler kreisen. Er legte stets großen Wert darauf, dass alle Anwesenden mit der nötigen Ergriffenheit zuhörten. Jonathan stand auf und las mit feierlicher Stimme.

»Der Principal und die Verwaltung gewährleisten unsere Versorgung und unseren Wohlstand. Dafür gebührt ihnen unsere Dankbarkeit und Ehrerbietung. Allen ihren Anweisungen, die der Organisation und materiellen Versorgung von Argenta dienen, sind unbedingt Folge zu leisten

»Danke, Jonathan, das hast du ganz hervorragend vorgetragen«, säuselte Zirkone, so dass Peter beinahe schlecht wurde. »Nun, da wir mit Peter jemanden in unserer Mitte haben, der fast gar nichts von Argenta weiß, müssen wir bei der heutigen Besprechung wohl ein wenig weiter ausholen.«

Peter rang sich ein gequältes dankbares Lächeln ab, das Zirkone ebenso falsch erwiderte.

»Vielleicht hast du ein paar Fragen dazu, Peter?«

»Das habe ich tatsächlich, Herr Zirkone«, erwiderte Peter zähneknirschend. »Ich würde gerne noch mehr über den Principal und die Verwaltung erfahren.«

Zirkone lächelte nachsichtig und gab die Frage mit einer ausladenden Handbewegung an den Rest der Klasse weiter. Fast die ganze Klasse zeigte auf und Henry durfte als erster antworten.

»Vor dreißig Jahren sind auf der ganzen Welt unterschiedliche Menschen gesucht worden. Sie wollten es wagen, ein ganz neues Leben zu beginnen und eine neue Gesellschaft zu gründen.« Henry hörte sich an, als ob er aus einem Schulbuch vorlesen würde und wahrscheinlich hatten sie alle diesen Text tatsächlich auswendig lernen müssen. »Diese Menschen bildeten die erste Generation von Argenta. Ausgesucht wurden sie von den Mittlern. Sie stellen die Verbindung zwischen der Verwaltung und den Bewohnern von Argenta her. Sie ergründen, was die Menschen zum Leben benötigen. Zusammen mit der Verwaltung versuchen sie, uns diese Dinge zur Verfügung zu stellen. Allerdings gibt es dabei eine wichtige Vorgabe. Die Anzahl der Wünsche, die erfüllt werden können, ist begrenzt. Die Forderungen dürfen niemals maßlos werden.«

Zirkone nickte nun Jana zu. Die sah Peter an und berichtete weiter.

»Zweimal im Jahr gibt es eine Ausschüttung. Bei diesem großen Ritual werden den Bewohnern von Argenta die Dinge überreicht, die die Mittler und die Verwaltung besorgt haben. Eines ist für uns hier jedoch ganz wichtig: Obwohl die Verwaltung eine solch wichtige Rolle spielt, mischt sie sich niemals darin ein, wie wir hier miteinander umgehen oder welche Regeln wir auf Argenta für unser Zusammenleben festsetzen. Das ist ganz alleine unsere Sache.«

Nun sprach Zirkone selbst, wobei er die Augen geschlossen hatte und ein glückliches Lächeln seinen Mund umspielte.

»Niemand von uns hat bis auf die Mittler jemals Mitarbeiter der Verwaltung gesehen oder gesprochen. Es gibt jedoch eine Ausnahme: Einmal im Jahr kommt der Principal persönlich hier zu uns, um an den Feierlichkeiten zum großen Kletterwettkampf zwischen den drei Dörfern teilzunehmen. Es ist eine hohe Ehre für uns, wenn er dann für 24 Stunden bei uns weilt, mit uns feiert oder sich auch die einen oder anderen Nöte eines Bewohners anhört. So ist unsere Tradition und so wird es für immer sein.«

Damit endete der Vortrag. Peter wartete einen Moment, ob noch jemand etwas sagen würde, dann hob er zaghaft den Arm. Er wusste genau, dass Zirkone es nicht leiden konnte, wenn Peter nach der Besprechung der Gesetze und Regeln irgendwelche Fragen hatte. Aber das war Peter egal.

»Peter, wieder wird es dir gelingen, diesen ergreifenden Moment mit einer banalen Frage zu zerstören, aber sei's drum. Was möchtest du wissen?«

Peter überlegte kurz, wie er seine Frage formulieren sollte, doch dann legte er einfach los.

»Das hört sich wirklich toll an, wie das hier auf Argenta läuft. Aber habt ihr euch eigentlich noch nie dafür interessiert, wer hinter dieser Verwaltung steckt und vor allen Dingen – warum sie das alles für euch macht?«

Für eine kurze Zeit war es totenstill in der Klasse und da niemand von den Schülern darauf eine Antwort hatte, übernahm das Zirkone.

»Peter, wir alle wissen, dass wir Teil eines besonderen Experiments sind. Das Ziel dieses Projektes ist uns allerdings nicht bekannt und wir wollen es auch nicht wissen. Wir leben hier glücklich zusammen in einer Gemeinschaft und allein dafür tragen wir die Verantwortung. Für dich als Neuling ist das sicherlich schwer zu verstehen«, sagte er und bedachte Peter mit einem überheblichen und kalten Lächeln, »doch für uns ist die Sachlage ganz einfach: Die Verwaltung unterstützt uns, weil wir es verdient haben!«

Peter stutzte. Für ihn drängte sich unwillkürlich die Frage auf, womit um Himmels Willen die Menschen hier eine solche unglaubliche Gunst verdient haben könnten. Sie waren freundlich und nett. Aber waren sie so etwas Besonderes? Doch bevor er seine Ansicht laut aussprechen konnte, klingelte es. Zirkone nahm nach einem letzten Blick über die Klasse seine Tasche und verließ das Klassenzimmer. Peter atmete kurz durch, überdachte das zurückliegende Gespräch und war sich plötzlich sicher, dass ihn der Unterrichtsschluss vor einem weiteren äußerst unerfreulichen Konflikt gerettet hatte.

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