Читать книгу Blutgefährtin 2 - Thomas M Hoffmann - Страница 9
6. Der Anschlag
ОглавлениеZufrieden schmiege ich mich an Pierre. Ich fühle mich müde und würde am liebsten einschlafen, aber so viel Zeit haben wir nicht. Also bleibt mir nur ein Moment der Träumerei. Ich kann gar nicht beschreiben, wie verrückt ich nach diesem Mann bin. Es ist egal, ob das die normalen, menschlichen Dinge sind, wie wenn ich ihm bei seinem Shop helfe oder wie wenn wir über die besten Methoden diskutieren, unsere Weinstöcke zu pflegen, oder die eher speziellen Momente, wie die körperliche und intime Nähe. Ich fühle eine so tiefe Verbundenheit mit ihm, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass das jemals endet. Natürlich weiß ich, dass ich alt werde und Pierre nicht, aber das wird sich erst in ein paar Jahren bemerkbar machen. Warum sollte ich schon jetzt darüber nachdenken?
Ich denke an das zurück, was mir Germaine damals gesagt hat, dass wir Menschen diejenigen sind, die die Vampire an ihre vergangene Menschlichkeit binden. Es fällt mir schwer zu glauben, dass sich Pierre, wenn er mich nicht hätte, in eines dieser machtgierigen, mordlüsternen Monster verwandeln würde, die ich in der Vampirgesellschaft schon zu oft gesehen habe. Er ist einfach nicht so, aber trotzdem gefällt mir die Vorstellung, Trish, die Wächterin des Guten, die Beschützerin der ahnungslosen Menschen zu sein. Unwillkürlich muss ich lächeln, eine schöne Vorstellung.
Doch dann fällt mir wieder die Tatsache ein, dass ich alt werde. Wie viele Jahre mir wohl noch bleiben? Irgendwann muss ich eine Entscheidung treffen, will ich mich verwandeln lassen oder will ich ein Mensch bleiben? Eigentlich will ich nicht sterben, das Einzige, was mich davon abhält, schon jetzt den Weg in die übernatürliche Welt zu suchen, ist meine Sehnsucht nach Pierre. Würde ich zum Vampir, bräuchte ich einen menschlichen Partner, von dem ich leben könnte und Pierre müsste sich eine andere Frau suchen. Das will ich nicht, er gehört mir und ich werde ihn niemals teilen. Nicht nur ich binde Pierre an seine Menschlichkeit, Pierre bindet mich seinerseits an meine Menschlichkeit. Und so soll es auch bleiben.
Ich muss doch an den Rand des Schlafes geraten sein, denn plötzlich schrecke ich hoch, weil mich jemand vorsichtig über das Gesicht streichelt.
«Es ist Zeit», meint Pierre mit sanfter Stimme.
Ich schaue ihn kurz an, wie er mich mit lächelnden, liebevollen Augen ansieht, und ergreife dann Besitz von seinem wundervollen Mund. Wie gut, dass wir den intimen Teil schon hinter uns haben, sonst wären wir mit Sicherheit nicht aus dem Bett und zu spät gekommen. Lachend löst sich Pierre.
«Trish, du böses Mädchen. Es gehört sich nicht, seine Gastgeber warten zu lassen, nur weil du nicht genug bekommen kannst.»
Ich boxe ihn gegen den Arm, wie immer ohne jeden sichtbaren Erfolg.
«Dazu gehören aber immer zwei und ich habe das Gefühl, dass du bei einer Verzögerung auch mitwirken würdest.»
«Bevor ich mich schlagen lasse», murmelt Pierre und nähert sich für einen weiteren Kuss. Doch da hat er die Rechnung ohne mich gemacht. Wenn ich ihn jetzt erneut küsse, komme ich nie raus. Also tauche ich unter ihm weg und schlüpfe aus dem Bett.
«Du benimmst dich wie ein frischverliebter Jugendlicher. Wie alt bist du jetzt? 87? Da solltest du wissen, dass man seinen Gastgeber nicht warten lässt.»
Ich versuche, vorwurfsvoll zu klingen, aber irgendwie gelingt mir das nicht angesichts der hochgezogenen Augenbrauen von Pierre. Eigentlich sind seine Augen sowieso verführerisch und wenn er diesen Gesichtsausdruck aufsetzt, dann könnte ich wirklich schwach werden. Mit einem Ruck wende ich mich ab und dem Waschbecken zu. Einer muss schließlich vernünftig sein. Nachdem ich mich ein wenig frisch gemacht, meine Haare geordnet und mich angezogen habe, drehe ich mich wieder zu Pierre und lande genau in seinen Armen. Er ist inzwischen ebenfalls aufgestanden, hat sich zurechtgemacht und nur darauf gewartet, dass ich fertig werde.
«Aufgeschoben ist nicht aufgehoben», flüstert er mir ins Ohr, dass mir ein Schauder über den Rücken läuft.
«Versprochen?» flüstere ich zurück.
«Versprochen», sagt er und gibt mir einen Kuss.
Mit einem Lächeln hake ich mich bei ihm ein und wir verlassen zusammen das Zimmer. Der Saal für den Empfang befindet sich auf der linken Seite den Gang runter, also wenden wir uns dorthin. In dem Augenblick, in dem wir fast die Tür des Saales erreicht haben, ertönt ein Schrei hinter uns, der so voll ist von Grauen und Verzweiflung, dass es mir kalt den Rücken herunter läuft.
Wir wirbeln beide herum, um zu sehen, woher der Schrei gekommen ist. Genauso ergeht es anderen auf dem Gang, denn inzwischen haben die Gäste begonnen, ihre Räumlichkeiten zu verlassen. An einem Durchgang, etwa drei Türen jenseits des Zimmers, in dem wir uns aufgehalten hatten, entsteht eine merkliche Unruhe, ein Mann fängt dort an zu schluchzen und zu rufen, offensichtlich in allerhöchstem Entsetzen. Ich blicke zu Pierre, dessen Gesicht plötzlich verhärtet ist, mein Herz klopft heftig, meine Muskeln verkrampfen.
Was ist dort passiert? Pierre scheint sich nicht rühren zu wollen, also ergreife ich die Initiative und eile vorwärts, vorbei an Menschen oder Vampiren, die offensichtlich nicht genau wissen, wie sie sich angesichts der Situation verhalten sollen. Pierre ruft etwas, aber ich ignoriere ihn, jemand weint und klagt und ich habe bislang keinen Vampir getroffen, der sich so verhält. Also muss es ein Mensch sein.
Der Durchgang, an dem all die Unruhe entstanden ist, ist der Eingang zu einem weiteren Zimmer. Ich dränge mich zu dem Eingang, der durch verschiedene Personen blockiert ist. Kaum habe ich freie Sicht, bleibe ich ebenfalls geschockt stehen, die Hände vor den Mund geschlagen, um nicht aufzuschreien. In dem Zimmer liegt eine Mumie, ein Toter oder eine Tote, die aussieht als wäre sie bereits über 100 Jahre tot. Ich kenne diese Art von Mumien, das da war ein Vampir gewesen. Und da seine sterblichen Überreste zu sehen sind, kann das nur eines bedeuten. Er oder sie wurde von einem anderen Vampir getötet, getötet durch Aussaugen.
Vor der Mumie hockt ein Mensch, ein Mann, die Stirn auf den Boden gelegt, in allergrößter Verzweiflung weinend. Ich kenne den Mann flüchtig, er ist einer aus dem Bekanntenkreis von Germaine, er war heute in unserer Gruppe mit dabei, hat aber nicht viel gesagt. Seine Vampirin ist Schatzmeisterin bei Louis. Nur sein Name will mir nicht einfallen. Seine Vampirin ist Schatzmeisterin? Nach dem, was ich sehen kann, war sie die Schatzmeisterin, denn offensichtlich ist diese Mumie der Überrest seiner Vampirin. Ich habe sie vor gar nicht einmal zwei Stunden noch auf dem Empfang gesehen.
Grauen erfüllt mein Herz. Eben noch war sie eine lebendige, freundliche Vampirin gewesen, eingebunden in eine feste Beziehung zu ihrem Blutgefährten, der sie offensichtlich von ganzem Herzen geliebt hat. Und jetzt ist sie tot, getötet von wem auch immer. Der grausamen Welt der Vampire zum Opfer gefallen, so wie es vor eineinhalb Jahren auch Pierre fast ergangen wäre. Ich kann die Trauer dieses Mannes nachempfinden, wenn Pierre so vor mir läge, dann wäre ich nicht bloß traurig, ich wäre zerstört.
Ich kenne den Mann nicht wirklich, aber es erfasst mich eine Traurigkeit, als hätte ich ihn und seine Vampirin schon lange gekannt. Keiner der Umstehenden scheint sich rühren zu wollen, also trete ich nach vorne, knie neben dem Mann nieder und lege ihm eine Hand auf die Schulter. Ob ich irgendetwas sagen soll? Mir fällt nichts ein, deshalb schweige ich. Der Mann scheint durch seinen Schmerz hindurch meine Berührung wahrzunehmen und richtet sich auf. Sein tränenüberströmtes Gesicht wendet sich mir zu, er schaut mich an, als wäre alle Kraft aus ihm entwichen. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich erkennt, aber ich finde es wichtig, dass jemand bei ihm ist.
Plötzlich werden seine Augen groß, sein Gesicht verwandelt sich in Sekundenbruchteilen von mutloser Trauer in grenzenlose Wut. Bevor ich überhaupt begreife, was vor sich geht, schießen seine Hände vor, packen mich am Hals und ich werde von seinem Gewicht zu Boden geworfen. Er wirft sich auf mich, fängt an zu schreien.
«Warum? Warum habt ihr sie umgebracht? Was hat sie euch getan, dass ihr sie töten musstet? Sprich endlich, sag es mir. Warum, warum nur?»
Seine Finger drücken mir die Luft weg, Panik schießt durch meinen Körper, ich kann nicht mehr atmen, geschweige denn etwas sagen. Verzweifelt zerre ich an seinen Fingern, aber gegen seine wahnsinnige Wildheit komme ich nicht an. Die Welt fängt an sich zu drehen. Luft! Ich muss Luft holen. Mit aller Kraft versuche ich zu atmen, aber seine Finger drücken unbarmherzig zu. Er schreit weiter wie ein Verrückter.
Dann ist das Gewicht plötzlich weg, seine Finger lösen sich von meinem Hals und ich kann endlich keuchend Luft holen. Ich muss ein paar Mal tief ein- und ausatmen, bevor ich in der Lage bin zu begreifen, was eigentlich vor sich geht. Pierre steht schützend vor mir, er hat den Mann von mir gerissen und zur Seite gestoßen, so dass er an der Wand zusammengesackt ist, immer noch wimmernd.
«Warum, warum nur?»
Keuchend und voller Entsetzen starre ich ihn an. Was hat er? Warum hat er mich angegriffen? Ich kann nur vermuten, dass der Schmerz ihn wahnsinnig gemacht hat. In diesem Augenblick drängt sich jemand nach vorne, den ich als Jean erkenne, der Vampir von Germaine. Er bleibt einen Moment stehen, um die Lage zu erfassen. Dann kniet er bei der Mumie nieder und untersucht sie. Was immer seine Erkenntnisse sind, sein Blick geht anschließend zu dem Mann.
«Weißt du, wer ihr das angetan hat, Sorrano?»
Die Stimme des Vampirs ist beherrscht und sachlich, er ist jemand, der auch in kritischen Lagen die Nerven behält. Er muss seine Frage noch einmal wiederholen, bevor der Mann, der offensichtlich Sorrano heißt, reagiert. und seinen leeren Blick Pierre zuwendet.
«Er. Er war es. Aber ich weiß nicht warum.»
Der Schock durchfährt mich wie ein Blitz. Wie kommt er dazu, Pierre zu beschuldigen? Pierre war die ganze Zeit bei mir, diese Behauptung ist eine glatte Lüge. Ich öffne meinen Mund, um ihm zu widersprechen, aber Pierre ist schneller.
«Das ist eine Lüge. Ich war die ganze Zeit hindurch mit meiner Blutwirtin zusammen in unserem Ruheraum. Ich habe diese Vampirin kaum gekannt und heute auch nicht direkt mit ihr gesprochen.»
Jean blickt uns nachdenklich an und wendet sich dann wieder Sorrano zu.
«Hast du irgendwelche Beweise für deine Behauptung?»
Sorranos Gesicht ist inzwischen wieder von Wut verzerrt.
«Als Yvonne das Zimmer verließ hat sie gesagt, dass sie sich mit dem Gesandten treffen wolle, um eine geschäftliche Angelegenheit zu klären. Hier gibt es nur einen Gesandten und das ist der da.»
Die Menge um uns herum hat dem Geschehen bisher lediglich zugeschaut, aber nach diesen Worten schlägt die Stimmung plötzlich um, es sind gemurmelte Kommentare zu hören, die ich kaum verstehe, aber der Tonfall ist nicht freundlich. Mehrere Vampire drängen sich nach vorne, darunter einer, den ich nicht kenne, der jetzt das Wort ergreift.
«Was willst du wegen dieses ungeheuren Mordes unternehmen Jean? Ein Mitglied unserer Gemeinschaft ist von einem wie dem da getötet worden.»
Jean erwidert diese Anschuldigung vollkommen ruhig.
«Es gibt keine Beweise dafür, dass Pierre der Täter ist.»
Damit deutet er an, dass das Wort von Pierre schwerer wiegt als das Wort eines Menschen, wie Sorrano. Zum ersten Mal bin ich froh über diese Diskriminierung in der vampirischen Gesellschaft. Doch das scheint die anderen nicht zu stören. Manche fangen an zu schieben, noch mehr Unruhe entsteht, einige Rufe ertönen.
«Diese Amerikaner wollen uns doch nur beherrschen.»
«Einen Mord zu begehen. Das darf nicht ungestraft bleiben.»
«Eine solche Tat verdient den Tod.»
Ich merke, wie Pierre sich versteift. Er packt mich, schiebt mich zur Wand und stellt sich schützend vor mich. Mein Herz schlägt bis zum Hals, der immer noch schmerzt, bestimmt sind Sorranos Fingerspuren dort deutlich zu sehen. Gegen diese Meute haben wir keine Chance. Vier, fünf Vampire haben sich vor uns aufgebaut und starren uns feindselig an. Fäuste sind geballt, einige Augen blitzen gelb. Jeden Augenblick können sie uns angreifen.
Pierre geht in Verteidigungshaltung, er wird bis zum Letzten kämpfen. Ich selbst kann nichts zu unserer Verteidigung beitragen, noch nicht einmal mein Vampirjäger Messer habe ich dabei. Jede Bewegung kann einen Angriff provozieren und so stehen Pierre und ich stocksteif. Gibt es denn nichts, was wir tun können? Pierre scheint dieselben Gedanken zu haben, er hält seinen Vampir noch unter Kontrolle.
«Wir haben Madame Delon nicht getötet. Wer immer mit diesen Gesandten gemeint war, wir sind es nicht.»
Pierres Stimme ist vollkommen ruhig, ich habe immer an ihm bewundert, wie sehr er sich in problematischen Situationen beherrschen kann. Normalerweise wenigstens. Damals vor eineinhalb Jahren, als Gregori mich angriff, da hatte er sehr unbeherrscht reagiert und war deshalb fast getötet worden. Doch jetzt ist die Lage so aussichtslos, dass selbst die Tatsache, dass ich bedroht bin, nicht ausreicht, Pierre zum Kampf zu zwingen. Langsam rücken die feindlichen Vampire näher, sie knurren und zischen. Da baut sich Jean vor uns auf und herrscht die anrückenden Vampire an.
«Wie könnt ihr es wagen, das Wort eines Vampirs in Zweifel zu ziehen. Diese stehen unter dem Schutz von Louis. Wer ihnen auch nur ein Haar krümmt, dessen Leben ist verwirkt.»
Doch seine Worte rufen lediglich Unmut hervor.
«Willst du einen Mord an den unseren ungestraft lassen, Jean?»
«Wir wollen Rache, jetzt sofort.»
Dann fällt kein lautes Wort mehr, die Spannung, die in der Luft liegt, hat jeden zum Schweigen gebracht. Ich merke, wie sich Pierres Muskeln anspannen. Ob ihm einer der Vampire in Gedanken Drohungen zugerufen hat? Mit zusammengepressten Lippen suche ich nach einem Ausweg, doch es gibt keinen. Jeden Augenblick kann hier die Hölle losbrechen.
«Was ist hier los?»
Die Stimme donnert so laut, dass ich zusammenzucke. Die Aufmerksamkeit ist nicht mehr auf Jean, Pierre und mich gerichtet, denn die Menge teilt sich und Louis tritt in den Raum, hinter ihm Germaine. Er lässt seinen Blick einen Moment schweifen, aber er verzieht keine Miene, als er die Leiche von Madame Delon sieht. Germaine allerdings schlägt sich eine Hand vor dem Mund, man kann erkennen, wie betroffen sie ist. Louis fixiert Jean und die anderen Vampire in aller Ruhe.
«Also, was ist hier los?»
Als die anderen nichts sagen, antwortet Jean.
«Madame Delon wurde so von ihrem Blutwirt gefunden, Louis. Jemand hat sie umgebracht. Sorrano sagt, dass sie zu einem Treffen mit dem Gesandten wollte, um eine geschäftliche Angelegenheit zu besprechen. Er behauptet, Pierre wäre mit dem Gesandten gemeint, Pierre bestreitet das.»
«Ich habe Madame Delon weder getroffen, noch hatte ich eine geschäftliche Angelegenheit mit ihr zu besprechen, Herr», wirft Pierre ein.
Louis sagt nichts, sondern blickt zu den Vampiren, die eben noch drauf und dran waren, uns anzugreifen.
«Und was habt ihr mit der Angelegenheit zu tun?»
Die Angesprochenen schweigen betreten, aber als Louis nicht locker lässt, antwortet einer von ihnen, der wohl der Wortführer ist.
«Eine solche Untat darf nicht ungesühnt bleiben, Herr. Wenn die sogenannte Auserwählte anfängt, hier unsere Leute zu ermorden, dann müssen wir dem entschieden entgegentreten.»
«Ihr seid ein Idiot, Foutainbleau. Aber sei versichert, dass der Schuldige für diese Tat bestraft werden wird.»
Louis wendet sich uns zu, meine Spannung steigt wieder. Wir sind durch sein Erscheinen gerettet worden, daran habe ich keine Zweifel. Aber auf welche Seite wird er sich in diesem Fall schlagen? Jetzt wird erkennbar werden, was Louis eigentlich für Ziele verfolgt.
«Hast du diese Vampirin getötet, Pierre?»
«Nein.»
«Bist du bereit, mir deine Erinnerungen zu öffnen?»
Pierre zögert. Wenn er seine Erinnerungen öffnet, dann kann Louis lesen, was wir die letzte Stunde gemacht haben, worüber wir geredet haben. Auch Stimmungen und Gefühle lassen sich auf diese Weise erkennen. Manchmal bin ich auf diese besondere Kommunikationsform neidisch, die Vampire untereinander haben, aber manchmal bin ich auch ganz froh, wenn Pierre nicht sehen kann, was in mir vorgeht. Aber wenn er jetzt seine Erinnerungen öffnet, dann kann Louis wesentlich mehr sehen, als nur dass er diesen Mord nicht begangen hat.
«Ja.»
Innerlich atme ich auf. Pierre ist genau wie ich zu dem Schluss gekommen, dass der Beweis unserer Unschuld wichtiger ist als die Offenlegung dessen, was wir in der letzten Stunde gemacht haben. Zumal das für Vampire völlig normal ist. Louis und Pierre sind für einen Moment in tiefem Augenkontakt miteinander verbunden. Dann wendet sich Louis an Sorrano.
«Dieser Vampir hat den Mord nicht begangen.»
Ein leises Murmeln geht durch die Menge. Jetzt ist wohl einigen klar geworden, dass sie hier fast Unschuldige ermordet hätten, nicht zu reden von dem Krieg der darauf mit den nicht-amerikanischen Vampiren losgebrochen wäre. Sorrano erbleicht, der Schreck steht ihm ins Gesicht geschrieben. Germaine hat sich neben ihn gestellt, ihre Hand liegt auf seiner Schulter. Jetzt drückt sie kaum merkbar zu, aber ich bin sicher, dass alle Vampire hier diese Bewegung gesehen haben. Schließlich habe ich sie auch bemerkt.
«Wiederhole, was geschehen ist, als du deine Herrin das letzte Mal gesehen hast», befiehlt Louis.
Mit stockender Stimme erzählt Sorrano, aber inhaltlich sagt er nichts anderes, als was er vorher bereits in Kurzform mitgeteilt hatte. Die Frage ist, wen Madame Delon mit dem Gesandten gemeint hatte. Sorrano ist gerade fertig mit seiner Erzählung als an der Tür eine hektische Bewegung entsteht. Jemand drängt sich durch die herumstehende Menge.
«Herr, bitte kommt schnell. Es ist etwas sehr Merkwürdiges geschehen.»
Louis schaut den Neuankömmling stirnrunzelnd an, folgt ihm dann aber ohne weiteren Kommentar. Die meisten Menschen und Vampire folgen ihm, nur Sorrano kniet weiterhin neben den Überresten seiner Vampirin. Germaine scheint bei ihm bleiben zu wollen. Ich blicke fragend zu Pierre.
«Lass uns mitgehen. Wir müssen erfahren, was hier los ist», sagt Pierre mit leiser Stimme.
Also schließen wir uns den Schaulustigen an. Der Weg führt durch einen weiteren Gang und eine Seitentür ins Freie. Das Grundstück um das Haus herum besteht im Wesentlichen aus Gras, Blumenbeeten und ein paar Bäume. Wie bei Vampiren üblich, umschließt eine hohe Mauer das ganze Areal. Auf dem Rasen liegt eine Gestalt, eine Traube von Menschen und Vampiren darum herum. Louis kniet daneben, liegt dort etwa noch ein ermordeter Vampir?
Als wir uns näher herandrängen, sehe ich, dass das kein Vampir sein kann. Ein getöteter Vampir zerfällt entweder zu Staub, wenn man sein Herz mit Holz durchbohrt oder man ihn enthauptet, oder er verwandelt sich in eine Leiche mit dem Alter, das er als Mensch gehabt hätte, wenn ein anderer Vampir ihn aussaugt. Letzteres ist mit Madame Delon geschehen. Doch der Mann, der da regungslos auf dem Rasen liegt, sieht wie ein normaler Mensch aus, also wird es wohl auch ein Mensch gewesen sein. In diesem Augenblick erhebt sich Louis.
«Dieser Vampir ist nicht tot, er ist lediglich bewegungslos. Seine Gedanken sind etwas träge, aber gut verständlich. Etwas hat ihn an der Schulter getroffen, danach konnte er sich nicht mehr bewegen.»
Das ist doch ein Vampir? Ein erstauntes Murmeln geht durch die Leute um uns herum. Auch ich bin erstaunt. Ein Vampir ist normalerweise entweder extrem beweglich oder tot. Ich habe bislang noch nichts von einer Möglichkeit gehört, Vampire zu betäuben. Auch Pierre hat die Stirn in einer Art gerunzelt, die mir zeigt, dass er sehr verwundert über die Entwicklung ist. Louis blickt sich im Kreis um.
«Seien Sie versichert, dass diese Vorfälle heute genau untersucht werden. Bitte halten Sie sich bereit, wir werden jeden einzelnen, egal ob Mensch oder Vampir, nach dem befragen, was er in der Pause gesehen oder gehört hat. Niemand geht ohne meine ausdrückliche Genehmigung. In zehn Minuten trifft sich der Rat im blauen Zimmer.»
Der Rat ist der innere Zirkel um Louis herum, ihm gehören sowohl Vampire als auch Menschen an. Ich weiß, dass Germaine dazugehört, aber sonst weiß ich nicht sehr viel darüber. Jetzt blickt Louis zu uns.
«Ich möchte die Vertreter der Auserwählten bitten, an der Ratssitzung teilzunehmen.»
Damit wendet er sich um und geht in das Haus zurück.