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Abflug. Das Relativitätsprinzip im Schein der letzten Liebeskerze

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Als Zacharias aus kargem Schlaf erwachte, versuchte er sich Müdigkeit vorzutäuschen, denn der Abschied stand bevor. Laila, bei der er geschlafen hatte, brachte ihn um vier Uhr morgens, als ihre rote Liebeskerze erst halb abgebrannt war, zum Haus seiner Eltern, küsste ihm Lebewohl, sagte ihm all das, was wichtig war, und schon stand Zacharias unter einem missmutigen Oktoberhimmel, der zwingend und zerrissen ihm selbst entquollen schien. Er hatte Laila kein Versprechen geben wollen, hatte ihr nur erklärt:

– Ich will frei sein, will zumindest das Gefühl haben, frei zu sein. Und so kann ich auch nicht von dir verlangen, dass du auf mich wartest … Wir wussten ja von Anfang an, dass ich gehen würde … was passiert, das passiert – aber vielleicht passiert ja auch nichts, wenn das Gefühl dagegen spricht … Wichtig ist nur, dass wir uns alles sagen; und ich werde dich nicht anlügen … Ich liebe dich. Aber ich muss jetzt gehen.

– Es ist deine Entscheidung, hatte Laila geantwortet. Ich will dich nicht abhalten. Du sollst nur wissen … ich weiß, du willst das jetzt nicht hören, es ist dir unangenehm, du willst dich nicht festlegen, aber … ich würde gern was mit dir aufbauen. Ist das nicht Liebe? Denk nur bitte drüber nach. Ich wünsch dir alles Gute.

Zak, wie ihn seine Freunde nannten, erlebte jeden Augenblick zeitverzögert. Lailas Worte tanzten ihm noch durch den Kopf, als das Auto längst abgefahren war. Es waren auch nicht genau die Worte, die gefallen waren, sondern die Essenz aus dem, was Laila und er schon hunderte Male besprochen hatten – so oft, bis sie selbst daran glaubten.

Er hatte sich schon immer auf Ankündigungen verlassen, wenn es darum ging, sich selbst einen Handlungszwang aufzuerlegen. Wenn zum Beispiel seine Eltern oder Freunde ihn fragten, was der eigentliche Grund für seine Reise sei, antwortete Zak manchmal etwas hochgestochen:

– Ich will eine Welt kennenlernen, die anders ist; weil unsere nicht alles sein kann. Nach dem Relativitätsprinzip kann man ja nicht feststellen, wie schnell und wohin sich das eigene System bewegt, wenn man keinen äußeren Bezugspunkt hat. Man muss erst ausbrechen, um den Käfig zu sehen. Genauer kann ich es euch nicht beschreiben.

Darauf erwiderten einige: – Du hast wohl zu viel in deinen Büchern gelesen … Das ist doch reine Zeitverschwendung … Das muss man sich mal vorstellen, du verlierst ein ganzes Jahr mit solchem Unfug! Du musst eine Ausbildung machen oder studieren, du musst arbeiten, musst verdienen, was Vernünftiges machen. Du wirst dich nach einem Jahr in Lateinamerika nicht wieder eingliedern können: Du musst, du musst, bumm bumm, bumm bumm.

Andere warnten ihn, gegen Windmühlen zu kämpfen: – Die Welt ist so, wie sie ist, mein Junge, du kannst sie nicht ändern, das haben schon andere vor dir versucht … und du siehst ja, was daraus geworden ist!

Aber es gab auch Leute, die ihn besser verstanden, dazu gehörten seine Eltern, die sagten: – Natürlich ist die Welt schön und aufregend. Und du sollst sie dir ja auch erobern. Aber warum Lateinamerika, warum Guatemala? Dort ist es so gefährlich. Sieh doch die Guerilla! Die Überfälle, die Erdbeben, die Krankheiten! Und diese Armut! Überleg es dir noch mal, flieg doch nach Australien.

Natürlich brachte Zak auch einige Argumente, die selbst vom Standpunkt der anderen für sein Vorhaben sprachen: So eine Reise konnte kein verlorenes Jahr sein, mit all der Erfahrung, die er erwerben würde, vor allem mit einer neuen Sprache. Insgeheim aber wischte er alle Einwände beiseite: Keiner seiner Freunde und Verwandten sprach aus Erfahrung, glaubte er, vielmehr waren es Angst oder Klischees, die aus ihnen sprachen, oder sie konnten einfach nicht loslassen.

Er wollte weg, es stieß ihn und es zog. Voriges Jahr in Südfrankreich hatte es ihn gepackt: Gerade On the road gelesen und mit Nadia aus Montreal durchgezecht, eine ganze Nacht durchgeredet, nur geredet – über das Grab von Jim Morrison in Paris, über Nietzsche, Dionysos und den ganzen Rest – noch eine Flasche Wein auf den Klippen – und über das Reisen, die Idee des Reisens. Nadia war diese Idee, war es gewesen … so lange schon unterwegs und so viele Geschichten, und zum Schluss hatten sie immer nur halbe Sätze gebraucht, of course, of course – dieses Verstehen mit nur wenigen gemeinsamen Worten.

Seitdem träumte Zak. Wollte high sein von der Freiheit (und dem was in ihr wächst). Wollte fremde Menschen berühren, Staub schmecken und Kokossaft trinken und was man so tut in wilden Straßen, in schattigen Gärten. Er wollte die Anden sehen und die Karibik und unbedingt den Amazonas; und besser noch selbst durch Lateinamerika rauschen, voll und biegsam, alles auf- und mitzunehmen im Oberlauf, um sich schließlich ins Meer zu schütten, braun und fruchtbar.

In Guatemala würde die Reise beginnen und in Caracas enden, darauf hatte er sich festgelegt – mehr nicht; der Rest würde sich ergeben. Nur wenig hatte er gelesen über Lateinamerika, ohne Urteile wollte er durch die Welt ziehen. Und seinen Spanischkurs an der Volkshochschule hatte er in alter Schultradition verschlampt, die Freunde und das Feiern waren wichtiger gewesen. Er fühlte sich also schlecht vorbereitet, aber sich darüber Sorgen zu machen, lohnte nicht. Der Rucksack war gepackt und viel zu schwer von den vielen Büchern, und er musste das jetzt durchziehen: Liebe und Freundschaft zurückweisen, wofür auch immer.

Laila, seine Lola wenn es heiß wurde – jeden Tag ihrer kurzen Beziehung hatte er ihr neue Namen gegeben, und dieser war geblieben – Lola also war dazwischengekommen vor drei Monaten, als sein Entschluss schon lange feststand. Es war einfach passiert, obwohl er sich gegen diese Liebe gewehrt hatte.

Und nun stand er hier: eine gewöhnliche Straße im Ruhrgebiet, seine erste Straße. Laila hatte nicht mit hinein kommen wollen zu seinen Eltern, aber er würde jetzt nicht nachgeben. Sein Gesicht verzerrte sich, konnte sich nicht wieder entkrampfen, so wie das ist, wenn man um jeden Preis die Tränen zurückhalten will.

Zu viele Worte zum Abschied tun weh.

Auf der Vergangenheit liegt glühender Staub.

Alles war gut, und nichts wird mehr, wie es war.

Küss mich, als wäre es das letzte Mal.

Die Rücklichter von Lailas Wagen schwimmen fort, und ein aquatischer Druck legt sich auf seine Ohren, die Zeit verdichtet sich zu einem Kloß in der Kehle. Atemlos sieht Zak am Dortmunder Flughafen seine Eltern im Eck einer reflektierenden Glasscheibe verschwinden. Der Zubringerbus rollt über Fahrbahnmarkierungen hinaus auf das Flugfeld, wo der Himmel grenzenlos wird und die Schwerkraft nichts gilt. Hier läuft man Gefahr, durch einen unbedachten Schritt den Halt zu verlieren und sich überschlagend und schreiend gegen die aschige Wolkenmasse zu stürzen.

Erste Zwischenlandung, der Schiphol-Airport in Amsterdam: Geschäftsleute und Stewardessen tragen ein Lächeln, der Rest der Reisenden ist duty-free-nervös oder wartet souverän, schläft auf Gepäckstücken und braunen Plastiksitzen. Keine Zigarette! Dieser Versuchung würde er nicht nachgeben. Nur nicht nachgeben jetzt!

Zak wirft einige Münzen in den Schlitz eines Telefons, um mit Laila zu sprechen. Natürlich gibt es nichts zu sagen, was nicht schon gesagt worden wäre, aber sein Magen ist so flau, er hat das Gefühl all die unverdaulichen Worte auskotzen zu müssen. Ihm antwortet nur das Besetztzeichen, ein gleichmäßiges Tuten, dessen Rhythmus sich bei jedem neuen Versuch beschleunigt, bis es in ein langes Fiepen übergeht, das sich hartnäckig in seinem Ohr festsetzt und erst über Grönland wieder abflaut.

Zweiter Stopp, Mexiko-Stadt: Aus der Luft besehen eine mit exotischen Makrobausteinen bestückte Platine. Durchstoßen von den Kegeln der Vulkane wie von den Buchsen eines Plastikgehäuses ohne Deckelstück. Überhitzt, bedrohlich qualmend, Systemabsturz programmiert … Sein Sitznachbar verabschiedet sich. Viele geplatzte Äderchen im Gesicht, den ganzen Flug über hat Zak mit dem Mann kein Wort gesprochen, nun zwängt der sich an Zaks Beinen vorbei, holt seine Tasche aus dem Ablagefach und verneigt sich leicht.

„It was a pleasure“, sagt er höflich und lässt sich von der Stewardess ein Erfrischungstuch geben, ehe er das Flugzeug verlässt.

Keine Zigarette, kein klebriger Rauch, den Schmerz zu binden. Noch nicht … Stattdessen sitzt Zak in einer silbernen Maschine, die (getrieben von der Kaufkraft ihrer Insassen) als Speerspitze einer Abgaslanze durch den Himmel stößt. Es ist einfach so dermaßen unwahrscheinlich. Sein Kopf ist leer, die Luft so dünn hier oben. Er kommt nicht klar, glaubt nie mehr nah heranzukommen an dieses Leben, das unter ihm ameisenhaft seinem System folgt. Wie vermessen auch, sich in eine solche Höhe emporzuschwingen, sich herausheben zu wollen. Vielleicht war da doch etwas gewesen, Zuhause, dass er sich als ein Bestandteil des Ganzen hatte fühlen können … verbunden … so etwas wie Einheit? Und hier oben … ist er ein Nichts.

Plötzlich scheint ihm, er würde schwer und trotzdem körperlos und diffundiere auf unbehagliche Weise durch seinen Sitz hindurch, fiele blind seinem Ziel entgegen.

Guatemala-Stadt drängte auf Zak ein, sobald er aus dem Flughafengebäude trat, beschrie ihn mit feuchtem Atem.

Taxi, mista, taxi! … Shoe shine, shoe shine! … Cheap, very cheap, mista! … muy barrato … hey mista! Señor! Señor?

Eine warme, feuchte Wand, durch die er sich hindurchzwängte, um leer und ohne Wissen von dieser neuen Welt auf einen Parkplatz zu stolpern. Schweiß überall. So wollte er nicht anfangen: sich gleich von diesen Bauernfängern abzocken lassen. Zusammenreißen jetzt! Den Flug, den Abschied abschütteln.

Schließlich gelang es ihm mit seinen paar Brocken Spanisch, nach einem Bus zu fragen. Richtung Antigua, dort würde er gleich morgen mit der Suche nach einer Sprachschule beginnen.

Fast stürzte Zak beim Einsteigen, da sein Rucksack sich im Türrahmen verkantete. Der Fahrer trat schon das Gaspedal durch, da packte der Beifahrer ihn am Arm und zog ihn hinein. Belustigt sahen die übrigen Passagiere zu, wie Zak im Mittelgang ungeschickt seinen Rucksack abstreifte, wie er in gebückter Haltung stehen blieb und sich alle drei Schlaglöcher den Kopf stieß. Bis hinter ihm noch weitere Fahrgäste zustiegen und ihn in den hinteren Teil des Busses zwangen.

Das Flackern der Leuchtreklamen durchdringt die Großstadtdämmerung: Motorengeheul, Gase, unscharfe Gesichter, leidend in Neonglut. Geduckt und eilig vor dem schonungslosen Licht der Röhren, in Ahnung eines künftigen Armageddon.

Nach einer Weile beginnt Zak zu zweifeln, ob dieses Gefährt ihn jemals nach Antigua bringen wird: An jeder zweiten Ecke wechselt der Bus wütend die Spur und bremst scharf, um den winkenden Leuten Gelegenheit zu geben, während der Fahrt aufzuspringen.

„Antigua?“ – Zaks Frage löst Gelächter und eine Diskussion aus. Schließlich fragt ein Schuljunge auf Englisch, ob Zak nicht lieber ein Taxi nehmen will … nein?

„Rapido! Rapido!“, ruft der Junge, und sie springen aus dem Bus und hetzen durch diese große Endzeit-Disco von Stadt. Musik von Maschinen, die Straßen tanzen vor Menschen, jeder Stroboskopblitz lang gezogen zu einer ganzen Nacht … Bis der Junge vor einer langen Reihe von Holzbuden stehen bleibt und mit beiden Armen winkt, um einen Bus anzuhalten oder wenigstens auf Schrittgeschwindigkeit zu bremsen. Er ruft dem Beifahrer etwas zu und stößt Zak hinein, ohne ihm Gelegenheit zu geben, sich zu bedanken.

Zak findet Platz auf der Kante einer Sitzbank, neben ihm ein ebenso unglücklich Platzierter, sie beide Schulter an Schulter. Aufkleber mit blühenden Rosen und dem leidenden Jesus, Blinklichter und undenkbarer Bömmelkram schmücken das Cockpit, das hätte Laila gefallen. Ein Plastikkondor, über dem Fahrersitz aufgehängt, zuckt wild herum wie das Pendel einer Standuhr, wenn die Zeit aus den Fugen gerät.

Das Licht flackert und fällt schließlich völlig aus, die Ergebenheit der Insassen kann man nur mehr riechen; das Gemurmel ihrer Lebensgeräusche geht unter im Dröhnen dieses Rennens. Draußen aber arrangieren sich die Objekte mit dem neuen Koordinatensystem: Scheinwerfer, Fenster und Reklamen dehnen sich zu den geschwungenen Linien einer zu lange belichteten Fotografie. Losgelöst von ihren bisherigen Bezügen, beginnen die Dinge sich zu drehen und winden. Haarscharf weicht der Fahrer immer wieder Ecken und Kanten aus, die ihrerseits völlig unerwartete Manöver fahren. Blind vom Tränenfluss der Ranchero-Musik rauschen die Geisterbusse zitternd und stöhnend, Bobs im Eiskanal, durch die immer enger werdenden Kurven.

Zak schaut auf den Schoß seiner linken Nachbarin, die gerade die korrekte Menge an Quetzalscheinen aus einem Socken pellt – ja, aus einem Socken. Er zählt ebenfalls sein Fahrgeld ab – sieben Quetzales – und realisiert dabei zum ersten Mal, dass es sich um fremdes Geld handelt, nicht um Mark oder Dollar oder Pfund, sondern um vergilbtes Pyramiden-Tukan-Bananengeld, und er händigt es dem Beifahrer aus.

Nach einer Zeit, die er nicht einschätzen kann, hält plötzlich der Bus, und die Hälfte der Fahrgäste steigt aus.

„¿Antigua aqui?“ – Ein alter Mann runzelt ihm auf diese Frage zu.

Draußen ist die Luft kühl und unverbraucht. Menschen wie Mäuse verschwinden blitzschnell in ihren Löchern, und der Bus rappelt davon, in eine beängstigende Stille hinein. Zak schnallt seinen Rucksack um und stiefelt los. Die Gebäude sind flach und klotzig, die Fenster vergittert, von den Wänden blättert der Putz,

und das Kopfsteinpflaster schluckt alle Farben. Ihm ist unwohl: Zu seiner Müdigkeit kommt das bedrohliche Gefühl, alles von Wert bei sich zu tragen. Nur ein Hotel jetzt, egal ob Palast, ob Bretterbude. Ein sicherer Ort und erst mal eine heiße Dusche.

Kurvenwasser

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