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Sturm und Drang. Tropischer Zucker, tropisches Salz (Ja!, lieber Jack K.)

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Das Rainbow-Café war ein sanfter Einstieg. Hier trafen sich vor allem die Rucksack-Leute, die in Antigua Spanisch lernen wollten, kaum Guatemalteken, was an den Preisen lag. Sterne über dem Patio, die Wände berankt, Bob Marley und immer wieder Bobby.

Zak wollte einen Brief schreiben, aber er fand keinen Anfang. Bilder von Freunden drängten sich auf, ihre Gesten und Stimmen und Frisuren, Nasen und Münder – aber es bereitete ihm Schwierigkeiten, das Puzzle zusammenzufügen. Schon nach einer guten Woche löste sich die Erinnerung von den Sinnen und wurde ganz abstrakt. Einzig Laila stand da als eine pur sinnliche Erscheinung, groß vor seinem Herzen, winzig gegen sein Ego … Zak nahm sich vor, nicht über sie zu schreiben, über Liebeskummer und all das. Vielleicht würde sein Brief trotzdem an sie gehen, vielleicht auch an niemanden.

In der ersten Nacht habe ich mich übers Ohr hauen lassen: 20 Dollar für ein Zimmer. Aber ist es nicht schrecklich, so mit dem Geld anzufangen? Nun bin ich bei einer Familie untergekommen – schrieb er. Der Vater leitet meine Spanischschule. Es ist seltsam mit dieser Familie zu wohnen – Javier, seine Frau, drei Kinder und die Großeltern – und man kann kaum mit ihnen reden; außer mit Javier natürlich, der spricht Englisch. Nett, aber geschäftlich. Im Grunde ist mir nur der Opa sympathisch. Wie er sich hinter einer Tür versteckt, um die kleine Isabella zu überraschen. Oder wie er mit Jorge, dem älteren Sohn, auf einem Bein durch die Garage tanzt.

Ich wohne in einem Anbau auf der Dachterrasse. Von meinem Bett aus, durch ein kleines Fenster, über Wellblech, gekalkte Fassaden und Bäume hinweg, kann ich den Vulkan Agua sehen: Ganz Guatemala ist lavaunterspült.

Auf der Marktstraße dann verkaufen braungesichtige, braunhändige Männer Cashews. Kinder gebückt vor Schuhen, Indianerfrauen balancierend unter Körben voller Stoffe. Und die Bettler sind faulenden Körpers darauf angewiesen, dass die Fremden sich zu einer unbeabsichtigten Gabe hinreißen lassen.

Nur kurzes Mitleid hier, besser Hochstimmung wegen der duftenden Luft. Aber die schlägt allzu rasch wieder um in Bedrücktheit und Sehnsucht: Ich will weiter. Alles zieht mich und drückt mich von allen Seiten auseinander und zusammen und fort. Doch ich muss verharren. Und so kommt es, dass ich auf Bänken sitze, um zu beobachten, um zu lesen oder zu schreiben, und aller Saft verdunstet; innen werde ich ganz trocken. Wo stehe ich, wohin gehe ich, wie funktioniert die Welt? Jede Bewegung, jeder Gedanke wird übergroß, weil im luftleeren Raum alles auseinanderstrebt.

Eine Situation, die ich verrückterweise gewollt und herbeigeführt habe. Nichts sehnlicher gewünscht, und tatsächlich finde ich nun in gewissem Sinn Gefallen daran. Ich hier! In einem fremden Land, ohne Laila oder einen anderen Plan für dieses Jahr. Riders on the storm, into this world we’re thrown, wie ein Stöckchen ohne Hund, Baby, mach’s mir mit … ja! Ich bin bereit für ein heiliges Ja, ein eiliges Drauflos, bereit auch für die Konsequenzen. Ach! lieber Jack K., du weißt doch am besten, wie es in mir aussieht.

Irritiert schaute Zak auf – eine zerlumpte Alte kam hereingetippelt. Sie hatte keine Zähne mehr und keine Schuhe. Nachts konnte es empfindlich kalt werden. Zak gab ihr Kleingeld, als er an der Reihe war, aber es verschaffte ihm kein gutes Gefühl. Er sah ihr nicht in die Augen. Dann schrieb er weiter:

Ein kleines Abenteuer ist mir tatsächlich schon zugestoßen. Anfang der Woche habe ich Petra kennen gelernt: Einsneunzig groß und stämmig, Münchnerin, Typ Oktoberfest, studiert Romanistik. Seit drei Wochen ist sie hier, um Spanisch zu lernen. Hat einen guatemaltekischen Liebhaber namens Roberto, anderthalb Köpfe kürzer als sie.

Nach einigen Bieren im Rainbow, einem Cuba Libre im Chimenea und zwei doppelten Tequilas im Macondo kramte Roberto – in seiner Eigenschaft als Fremdenführer – einen rostigen Schlüssel hervor und winkte uns, ihm zu folgen. Vor einer mit Stuckrosen berankten Fassade machte er Halt. Nuestra Señora de la Merced – so hieß die Kirche, und Roberto öffnete eine Tür in ihrem Portal. Durch hohe kahle Säle, einige Treppen hoch, und wir standen auf einem Flachdach. Oder vielmehr im zweiten Stock, dem seit zweihundert Jahren Decke und Wände fehlen; hier und da ragten Mauerreste auf.

Im Nachbargebäude, hinter hellen Fenstern, saßen junge Guatemalteken und lernten. Roberto sagte, er komme öfter hierher abends, um sich einen zu rauchen, mit ein paar Freunden vielleicht. Dann bläst er den Rauch in Richtung Abendschule – symbolisch, wie er sagt. Was immer er damit meint.

Der Himmel leuchtet selbst in der Nacht, ein invertiertes Glühen, und die Schatten der umgebenden Berge stehen scharf dagegen. Darüber gewaltige Wolkentürme. Ein fernes Gewitter. Wir bleiben stehen, legen die Köpfe in den Nacken, sehen Sterne, Sterne, Sterne, atmen, drehen uns im Kreis … übermütig von Alkohol und ewigem Frühling. Der Agua über uns, von langsam sterbenden Blitzen inszeniert. Und wir im Rausch. Und ich wusste, dies ist wirkliches Erleben, irgendwie Freiheit. So glücklich kann ein Tier nicht sein!

Wir machten Pläne, am Wochenende etwas zu unternehmen: Roberto meinte, er habe Freunde in Lívingston an der karibischen Küste, und wir könnten dort umsonst übernachten.

Schließlich stiegen wir hinab in den Innenhof, turnten auf dem Brunnen der Fische herum und wollten gehen. Von außen hatte jemand abgeschlossen. Wir mussten rufen, und ein alter Mann machte uns auf. Er sagte nichts, aber vor der Tür lagen Menschen in Fetzen, die zu uns aufblickten, ein Stück zur Seite rollten, um uns durchzulassen. Still und schnell gingen wir, ohne uns umzudrehen.

Zak stockte: Da kam Roberto. Fast jeden Abend ließ er sich im Rainbow blicken, und jetzt grüßte er Zak mit seinem Schmuggel-Englisch – immer ein paar spanische Worte darin, ohne dass man es recht merkte.

„Nächste Woche habe ich meinen ersten großen Auftrag“, sagte er, „einen ganzen Reisebus. Von dem Hotel aus, wo ich arbeite. Schau: Ich hab mir extra eine neue Uhr gekauft!“

Roberto hielt ihm stolz eine vergoldete Taschenuhr vor die Nase.

„Hübsch, wirklich! Deine Uhr ist was Besonderes. Bist du aufgeregt wegen des Busses? Weil’s dein erster ist, mein ich.“

„Ja, so ein Bus voll mit Touristen, das ist schon was anderes als eine Gruppe von fünf Leuten, jedenfalls wenn man gut sein will … Aber weißt du, mein Vater war Fremdenführer. Von ihm habe ich alles gelernt, was ich brauche, um auch einmal ein guter Führer zu werden. Meine Mutter sagt, als Kind sei ich ein guter Lügner gewesen. Mein Vater sagt, das sei eine gute Voraussetzung.“

„Ich denke, Lügner ist das falsche Wort. Vielleicht bist du ein guter Schauspieler, oder was meinst du?“

„Gracias amigo. Das mit dem Schauspieler gefällt mir. Weißt du, Zak, wenn ich mich so fühle, als sei ich ein Schauspieler, wenn ich nach einem langen Tag nicht mehr ich selbst bin, dann setze ich mich hinter mein Haus und rauche eine Tüte. Ich wohne bei meiner Familie, wir sind acht, aber ich habe zum Glück mein eigenes Zimmer. Vielleicht sitze ich auch einfach nur da und träume und spüre, dass ich lebe.“

Roberto hatte große Augen und ein Gesicht, das er ähnlich eindrucksvoll knautschen konnte wie der späte Joschka Fischer. Zak dachte, dass Roberto gut zu seinen Freunden in Deutschland gepasst hätte.

„Wie wär’s mit einem Tequila, vos?!“, fragte er. Und sie tranken einen gesalzenen Klaren.

Kurz darauf erschien Petra. Eine Weile unterhielten sich die drei, bis Roberto einem Freund zuwinkte, der sich suchend zwischen den Tischen umblickte.

„Das ist Edgar, Fremdenführer wie ich, aber er macht Bergtouren und hat bereits sämtliche Vulkane Guatemalas bestiegen. Stimmt’s Edgar?“

Eddie nickte, er sprach nur wenig Englisch und in der Folge fast gar nichts, aber das schien auch seinem Charakter zu entsprechen. Er war klein, kleiner noch als Roberto, aber ungleich drahtiger. Die Haut eine Nuance dunkler und gröber sein Gesicht, auch mehr indianisch – lavaunterspült.

„Wie steht’s Freunde?“, rief Roberto: „Ich denke wir sollten einen Tequila Sunrise trinken – gibt’s hier so was, ja? An manchen Tagen, wisst ihr – manchmal – da braucht man schon einen Tequila Sunrise … Übrigens sollten wir uns über Lívingston unterhalten. Stellt euch vor: Die Sonne scheint heiß von oben, und eine mamacita geht mit einem Korb Papayas auf dem Kopf über die Straße und ihre Hüften, ihr Popo, ihre Papayas … So einen Takt habt ihr noch nie gesehen.“

Roberto stand auf und imitierte die von ihm beschriebene Szene, indem er einmal den Tisch umtänzelte und sich dann selbst auf den Hintern schlug – worauf Petra ihn böse ansah. Er blieb am Kopfende stehen, stützte sich mit beiden Armen auf und flüsterte in den Kerzenschein:

„Und Mangos – oh! und Fisch und frischer Hummer. Und das Kokosbrot, das die dort backen. Das müsst ihr probieren! Und abends, überall sweet reggae music, sag ich euch, und dicke Mamis sitzen in den Bars. Wenn du die siehst, denkst du dir: Dios, sind die dick! – und dann schleppen sie dich zum Tanz, und du machst dicke Augen, wie die tanzen können … Wir könnten in einem Drei-Sterne-Hotel schlafen, sag ich euch, mit Jacuzzis unterm Sternenhimmel. Ein guter Freund von mir arbeitet dort, der kann mir das gar nicht abschlagen, so viele Gäste hab ich ihm schon vermittelt. Leute, wir müssen unbedingt nach Lívingston! Wir müssen!“

Wie Roberto sprechen konnte mit seinem lustigen Englisch! Wie er sich über den Tisch beugte mit funkelnden Augen, sein Gesicht wundersam geglättet. Wie er mit seinen Händen runde Dinge aus der Luft griff und ihnen vorknetete. Zak wollte plötzlich alles wissen über diesen sagenhaften Ort, und er hörte sich rufen: „Dann lasst uns doch fahren! Jetzt sofort. Noch heute Abend!“

Petra verzog die Miene, aber Roberto nahm die Steilvorlage an.

„Ja, wenn wir den Nachtbus von Guatemala-Stadt nehmen, dann sind wir morgen früh schon in Río Dulce. Ein Freund von mir kann uns von dort mit seinem Boot nach Lívingston bringen. Und dann Freunde … Reggae-Time! Leute, Leute! Lívingston, ich sag euch: LÍVINGSTON! Wenn ihr das wollt, wenn ihr das wirklich wollt – dann lasst uns los, aber jetzt sofort!”

Roberto kam über solche Reden ins Schwitzen, und die neuen Freunde tranken noch einen Tequila, um das Feuer des Augenblicks zu schüren, und noch ein Bier, um nicht zu verbrennen, und noch einen Tequila, um die Glut nicht erlöschen zu lassen. Und so schmolz der Widerstand und sie beschlossen, den Spanischunterricht oder ihre Jobs in den nächsten Tagen sausen zu lassen.

Roberto rotierte. „Zak und Petra, ihr müsst Edgar und mir das Geld auslegen, aber es ist nicht viel, zwanzig Dollar vielleicht. Schau her Zak, ich gebe dir meine neue Uhr – und wenn du das Geld nicht zurückbekommst, dann darfst du sie behalten … Gut?! Wie kommen wir nach Guate? … Vielleicht kann uns dein Vetter fahren, Edgar … Sicher, er wird es machen. Passt auf, ihr lauft schnell nach Hause und holt eure Sachen, und Edgar und ich werden uns um alles kümmern!“

So lief Zak aufgeregt zum Haus seiner Gastfamilie. Vorbei an dem Quartier aus Pappe und Wellblech, vor dem tagsüber Frauen saßen und ihre Babys stillten, eingehüllt in nicht mehr leuchtende Stoffe. Schnell, schnell, allein mit tequilaschwerem Atem. Nur an einer Mauer mit Stacheldraht und Scherben blieb Zak stehen um zu pinkeln. Ein alter Baum, der über die Mauer hinauswuchs – der Anblick seiner nach Freiheit strebenden Äste – erzeugte ein wohliges Brausen über seinem sauren Magen.

Angekommen schrieb er eine Nachricht für die Familie und raffte das Nötigste in einen Handrucksack: Badehose, ein Handtuch, Regenschutz und hundert Dollar, sein Tagebuch und eine Sonnenbrille, mehr nahm er nicht mit. Dann stellte er sich auf die Straße vor die Friedhofsmauer und wartete auf die neuen Freunde, während es zu nieseln begann.

In der frischen Luft wurde er ein wenig nüchtern, aber der Alkohol hatte nur einen kleinen Teil zu seiner Begeisterung getan. Alles lag deutlich vor ihm: Es gab keine Sicherheit, keine Gewissheit, und er fühlte sich wohl dabei.

Ein Wagen fuhr vor. Zak zwängte sich auf die Hinterbank, und ein Lockenkopf mit Schnauzbart (Robertos Vetter) stiefelte aufs Gas. Kurz hinter Antigua tankten sie noch mal und holten Bier und Kippen.

Nun regnete es heftig. Bald waren die Straßen überspült, und wie Lametta hing der Regen im feierlichen Himmel. Doch Don Lockenkopf trat durch, und durch das halb geöffnete Fenster sprenkelte warmes Wasser in Zaks Gesicht und auf seine Hose und auf seine Zigarette. Es lief innen an der Tür hinab und bildete eine Pfütze im Fußraum. Es war wundervoll, es war gigantisch. Er fühlte sich frisch und war nun sicher, dass er lebte, wirklich lebte. Er atmete den feinen Regen und rief, wie alle riefen:

„LÍVINGSTON! Yeah, vamos a Lívingston! Das ist es, Freunde! Das ist es!“

So taumelte ihr Wagen durch die Nacht, mäandrierte wie ein reißender Strom, wie eine feuchtfröhliche Champagner-Flut durch die grünen Kurven, durch die Vororte von Guatemala-Stadt. Über Brücken brauste der Wagen, über die barrancos hinweg – jene Schluchten, die das Hochplateau von Guatemala durchziehen wie die Arme eines Kraken, mit ihren schrottbedeckten Steilhängen, und unter dieser Lage aus Schrott krabbeln kleine Menschen … und auch über die schäumte der Wagen hinweg.

Erst am Busterminal in der Zone Eins machte Lockenkopf Halt und Roberto sammelte zehn Dollar von Petra und zehn Dollar von Zak ein, um ihn zu entlohnen. Dann fuhr Locke davon, und sie standen im Regen. Es war noch vor elf, aber kein Bus fuhr mehr – nicht nach Río Dulce, nicht nach Antigua zurück. Regenschnüre zuckten im Licht der Laternen.

Zone Eins war um diese Zeit eine üble Gegend: Misstrauische Gesichter, traurige Häuser, armselig und nass. An den Ecken lungerten Huren und Transvestiten, Krüppel schleppten sich umher. Doch dann waren da wieder Inseln der Wärme, wo sie Planen über den gebrochenen Gehsteig gespannt hatten, wo die Leute miteinander aßen: Fleischbrühe aus großen Töpfen oder dampfenden Reis mit Bohnen und Hähnchenkeule.

Petra und Zak trugen ihre Rucksäcke vor der Brust unter ihren Regenjacken, aber das nützte nichts. Alle Blicke folgten ihnen, schon weil sie Regenjacken trugen. Sie flüchteten in eine Spelunke namens Oasis.

Auf einem Podest über der Tanzfläche standen einige Instrumente herum, entlang der Wände flitzten daumendicke Kakerlaken. Sie waren die einzigen Gäste, aber die Stimmung stieg mit dem Pegel: Bald tanzten Petra und Roberto zärtlich bis wild, was bei ihrem Größenunterschied sehr komisch wirkte. Und Zak sprang an die Bongos, um unsachgemäß darauf herumzutrommeln … bis der Wirt ihn ärgerlich zurückpfiff.

Immer wieder schauten zwielichtige Typen rein, um im Separee Koks zu dealen oder die Toilette zu bekotzen. Die Freunde tranken weiter Tequila und malten sich die Karibik in den schönsten Farben aus. Um drei Uhr waren Eddie und Roberto eingenickt, Petra und Zak hingen erschöpft auf ihren Stühlen.

„Die beiden haben ganz schön reingehauen“, sagte Petra. „Für sie war es ja umsonst! Ich hoffe, dass das nicht so weiter geht. Wir können doch nicht alles für sie bezahlen.“

Zak zuckte mit den Schultern. Das Geld war ihm gerade egal.

Petra rüttelte Roberto wach, sie wankten zur Busstation und fanden einen Warteraum, nass, stinkend und mit Pelz im Mund. Auf groben Säcken (Stoffe und Mais darin) lümmelten einige Bauern. Ausgestreckt auf den Sitzen lag eine Frau, den Kopf mit einem bunten Tuch umwickelt. In der Ecke stillte eine Indianerin ihr Kind. Der Bus fuhr um halb fünf morgens, ein Ticket kostete sechzehneinhalb Dollar.

Den ersten Teil der Reise verdöste Zak, aber als es aus dem Hochland in die Tiefebene ging, wurde es zu heiß dafür. Er wischte sich den Schweiß von den Lidern und sah verstrahlt auf die vorbeiziehenden Bananenstauden und die Kokospalmen und die Straßenkreuzungen mit den Bruchbuden unter dieser harten Sonne: Los Amates und Río Hondo, wo Softdrinks in Plastikbeuteln und Papayastücke in Plastikbeuteln und überhaupt alle Dinge in Plastikbeuteln verkauft wurden.

Plastikbeutel lagen auch im Gras und zerfetzt auf der Straße, im Graben und in den Gärten der Hütten. In Bananera wohnten die Menschen auf einem Plastik-Erde-Gemisch, der Müll stapelte sich vor ihrer Haustür. Die verlassenen Schienenstränge der US-Fruit-Company, eiserne Fesseln einer vergewaltigten Stadt, lagen verborgen unter Plastik, und Aasgeier stolzierten sadistisch darüber hinweg. Ein junger Mann saß im Schatten und zerstörte gelangweilt eine Plastikkiste mit seiner Machete.

Zak wunderte sich: In der allgegenwärtig vor sich hingammelnden Folie bildeten sich Wasserpfützen, Brutstätten für Krankheitserreger und Moskitos, aber niemand machte Anstalten aufzuräumen, wenigstens vor seiner Haustür … Vielleicht, ja, wahrscheinlich waren die Menschen einfach von den Plastikverpackungen überrannt worden wie von einer biblischen Plage. Von kleinen Parasiten, die sich einnisten in den Haaren, in den Hautfalten und im Schambereich der Stadt.

An einer Raststätte deckten sie sich wieder mit Dosenbier und Chips ein. Und trotz des exotischen Geschmacks der Reise kam Zak plötzlich das altbekannte Gefühl zu einem Fußballspiel zu fahren: Sich genüsslich mit Freunden einen ballern, falsch singen und sich einen Dreck um den Rest der Welt scheren: Ja, das wollte er jetzt.

Es regnete wieder, als sie gegen Mittag in Río Dulce ankamen. Im Nu waren sie pitschnass und suchten Unterschlupf in einer einfachen cantina. Unter der Decke drehten sich zwei altmodische Ventilatoren, und neben der Eingangstür befand sich eine Musikbox, auf der alle englischen Titel falsch geschrieben standen.

„Edgar und ich werden jetzt unseren Freund Carlos suchen“, verkündete Roberto. „Der bringt uns nach Lívingston. Ihr werdet sehen, ab jetzt wird alles gut laufen.“

Und tatsächlich: Als es aufhörte zu regnen, kamen Roberto und Edgar mit Carlos wieder: Schwarzes gelocktes Haar, Lederbänder mit Holzperlen und Haifischzähnen um Hals und Handgelenke, sein buntes Hemd flatternd im Wind. Carlos mochte um die zwanzig sein, ein freches Lächeln hatte sich in seinem zartbraunen Gesicht festgesetzt. Er sprach flüssiges Karibik-Englisch, als er alle zu sich nach Hause einlud

Der Markt am Kai war mit einer schwarzen Plane überdacht, in der sich schwer der Regen gesammelt hatte. Hier kauften sie Gambas, Krebse und Gemüse, dann sprangen sie auf einen Pick-Up zu Hühnern und Säcken mit Futter. Carlos wohnte bei seiner Familie im Hinterland. Es war das erste Mal, dass Zak auf der Ladefläche eines Pick-Ups mitfuhr, und der Wind, der wieder einsetzende Nieselregen, diese Plötzlichkeit berauschten ihn.

Zu beiden Seiten wuchsen Palmen und Obstbäume, Bananen wie grüne Sterne auf flachen Hügeln. Doch das Erstaunliche war die Konsistenz des Lichtes: Er konnte es fühlen, so weich und mild, gedämpft durch die Wolken; und weiter hin zum Horizont, wo die Wolkendecke aufgerissen war, wehte Sonnenschein wie Seide über das Land. Zak stand und hielt sich am Überrollbügel fest, und jedes Mal, wenn sein Magen über einer Bodenwelle leicht wurde, gackerte ein Huhn zu seinen Füßen. Es ging ab von der asphaltierten, mathematisch geraden Straße und über Holterdipolter-Wege und Brücken aus Baumstämmen und durch Schlammlöcher, und schließlich waren sie da. Petra bezahlte den Fahrer.

Carlos Mutter besaß einen Kiosk an der Straße, dahinter zwei einfache Häuschen. Geflochtene Hängematten hingen zwischen Verandapfosten und Palmen. Drinnen wie draußen – da gab es keinen großen Unterschied – liefen die ewigen Hühner herum.

Während die Mutter und eine Schwester von Carlos das Essen zubereiteten, flegelten sich die unerwarteten Gäste im Garten und öffneten Kokosnüsse mit einer Machete, ließen sich die Milch aus den Mundwinkeln laufen. Was ein Land, welch ein Leben! Einfach gewiss, aber nicht arm.

Es gab sopita de camarón. Aber beim Essen bemerkte Zak, wie Petra und er mehr und mehr von der Unterhaltung ausgeschlossen wurden, die nun in Spanisch verlief. Er störte sich nicht weiter daran.

Nachher zog Petra ihn jedoch zur Seite: „Immer wenn ich etwas sage, tut Carlos so, als würde er kein Englisch verstehen. Wir bezahlen hier das Essen, und der macht sich lustig über uns … zumindest über mich. Ich bin ziemlich enttäuscht von Roberto, dass er dieses Spielchen mitmacht.“

Zak nickte, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Es gefiel ihm einfach … dieses Treiben, alles zuzulassen.

Petra und Zak drängten zum Aufbruch, aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie sich auf den Weg zurück nach Río Dulce machten. Zak hatte seine Zweifel, weil es schon Nachmittag war und weil Carlos zu Hause blieb – dabei war er es doch, der sie mit seinem Boot nach Lívingston hatte bringen sollen.

Wolkenmasse drängte schwarz über den Horizont. Bald klatschten ihnen einzelne dicke Tropfen ins Gesicht, in ihrer Wucht verstärkt durch die Fahrgeschwindigkeit. Also setzte Zak sich um und sah die mathematische Straße hinter ihnen zurückbleiben. Parallel dazu lief eine Stromleitung wie eine Telegrafenlinie aus alter Zeit. Zum ersten Mal auf diesem Trip musste er an Laila denken; es regnete, dann wieder nicht …

Eddie tippte ihm auf die Schulter und zeigte nach vorn, schweigend wie immer. Ein Regenbogen stand dort solide hinter dem nächsten Hügel: eine leuchtende Wachsstiftzeichnung im recycelt-grauen Raum. Die Straße führte genau darauf zu.

Schneller! Schneller! So schnell konnte also das Gemüt umschlagen, wenn es auf ein Jahr befreit war von allem Haben und Soll. Von Nachdenklichkeit in höchste Erregung, ins Jubilieren mit nur einem Blick. Der Regenbogen dort vorn wird ihm plötzlich Symbol und Déjà-vu, irgendwie das Tor zu etwas Großem. Dies ist das Abenteuer seines Lebens, na klar. Das ist die Karibik!, denkt er. Immer wieder: Das ist die Karibik! … Tropischer Zucker, tropisches Salz … Ja. Ja. Ja! Und es ist kein Problem sich fallen zu lassen in den Moment, denn nichts Unerwartetes wird unerwünscht sein und anders herum. Oh Lívingston!

Regen verfängt sich in seinen Wimpern, und vor den zusammengekniffenen Augen bricht sich das Bild: In jedem Wassertropfen ein farbiger Stern. Unwirklich dieses Spiel, wie auch die Hügel und die Wolken und der Griff, an dem er sich festhält – unwirklich und ungreifbar auch die Menschen.

Es dämmerte bereits, als sie um fünf Uhr in Río Dulce eintrafen. Alle blickten auf Roberto.

„Es ist wohl zu spät geworden für Lívingston“, sagte der. „Wir sollten das auf morgen verschieben.“

„Wir hatten nur eine Übernachtung geplant“, warf Petra ein.

„Und Carlos wird uns fahren mit seinem Boot?“, versicherte sich Zak.

„Die Sache ist die …“, druckste Roberto herum. „Carlos hat kein richtiges eigenes Boot, er fährt im Auftrag von jemandem, und wir müssen ihm schon etwas zahlen.“

„Und wie teuer wird das?“, fragte Petra.

Roberto überlegte. „Ungefähr zehn Dollar“, sagte er dann. „Maximal.“

„Für jeden?“

„Für jeden.“

Petra ging hoch: „Du hast uns doch gesagt, wir würden von hier aus umsonst nach Lívingston kommen! Vertraut mir, vertraut mir! Schon die Busfahrt hat das Dreifache gekostet von dem, was du uns versprochen hast. Genau wie das Vetterntaxi nach Guatemala. Und die Rückfahrt kostet noch mal soviel. Und wir beide müssen das ganze auch noch für euch mit bezahlen!“

„Aber wir schlafen doch bei Carlos, oder?“, mischte sich Zak ein.

„Er wird gleich nachkommen, dann können wir ihn noch mal fragen.“

„Was soll das heißen?“

„Es sind ja auch gar nicht so viele Betten da … und seine Mutter hat erst vor kurzem ein Baby bekommen.“

Petra weinte. „Das hättest du uns aber früher sagen müssen! Jetzt stehen wir da. Und was kostet ein Hotelzimmer überhaupt?“

„Hör mal Petra, ihr kriegt unseren Teil auf jeden Fall wieder. Das verspreche ich Euch!“

„Ach ja? Schon wieder eines deiner Versprechen! Bis jetzt hast du ja noch nicht so viele eingelöst.“

„Immerhin sind wir doch in Río Dulce …“

„Da wär ich ohne dich aber auch hingekommen – und billiger auf jeden Fall.“

Auch Zak war die Ausflüchte leid, sein Hochgefühl angesichts des Regenbogens hatte sich ins Gegenteil verkehrt. Er hatte gerechnet und erkannt, dass sein Geld keinesfalls bis Lívingston reichen würde. Und da ärgerte es ihn plötzlich doppelt, dass er soviel Geld für eine halbe Sache ausgegeben hatte. Gleichzeitig lief sein Spanisch-Unterricht weiter, und er hing in diesem Río Dulce rum … Er fluchte und war nahe daran, Roberto und den unbeteiligten Eddie und die verheulte Petra einfach stehen zu lassen. Aber es fuhr kein Bus mehr, und wohin sollte er schon gehen.

Kopflos liefen sie also die schlammige Hauptstraße hoch und runter, wütend aufeinander und enttäuscht. Petra und Zak vorne, die beiden Guatemalteken weiter hinten. Die Betonbauten zu beiden Seiten: Mintgrün und Pantherpink – die einzigen Farben, die es hier zu geben schien.

Am Ufer des Río Dulce gab es die Bar Hollymar. Dahinter hatte Roberto ein vergammeltes, aber billiges Zimmer gefunden, und hier, so hatten sie schließlich beschlossen, wollten sie ihr restliches Geld vertrinken. Roberto und Edgar hielten sich an die Theke, Petra und Zak setzten sich an den Steg und ließen ihre Beine übers Wasser baumeln. Vor ihnen lag der braune Fluss wie ein See; weit entfernt das andere Ufer, wo er die knorrige Mangrove unterspülte.

Petra sagte: „Ich bin froh, dass diese Sache geklärt ist, Zak. Vorhin war ich richtig wütend auf Roberto, aber im Grunde ist es mir jetzt gleich.“

„Ja“, erwiderte Zak, „mir ist es auch egal. Ich war, glaub ich, nicht wirklich wütend, sondern nur enttäuscht … auch über mich selbst. Weil es irgendwie genauso gelaufen ist wie immer.“

„Wie meinst du das?“

Sie schwiegen einen Moment – dann sagte Zak: „Weil ich mir eben vorgenommen hatte, nicht so zu reisen. So – was kostet die Welt?! Hast du die Gesichter der Leute gesehen, als wir uns schon heute Morgen im Bus betrunken haben? Die haben das nicht verstanden. Ich habe das selbst nicht ganz verstanden.“

Petra prostete ihm zu und lächelte. „Also, ich will hier nur Urlaub machen und mein Spanisch für meine Prüfungen aufbessern. Aber was suchst du eigentlich hier – in Guatemala, in Amerika?“

„Ich weiß nicht“, sagte Zak. „Ein Ziel eben … Das Abenteuer des Zufalls.“

„Das hört sich für mich nach einem ganz grundlegenden Zielkonflikt an: Ein Ziel suchen und sich gleichzeitig dem Zufall überlassen – das schließt sich doch irgendwie aus.“

„Vielleicht … Na, dann sagen wir, ich suche eine andere Einstellung zum Leben.“

„Wie sieht denn die bisherige aus?“

Zak überlegte – „Zwischen vierzehn und achtzehn erschien es mir noch vollkommen einleuchtend, dass der Sinn darin besteht, mit Freunden zu feiern, in Clubs zu fahren, um zu rauchen und zu trinken und einfach dabei zu sein … Das war die Zeit, in der man üblicherweise die Doors kennenlernt: Was zählt, das sind die Höhe- und Tiefpunkte und nichts dazwischen – so ähnlich hat Jim Morrison das mal gesagt … Aber irgendwann dazwischen hab ich doch die Augen aufgemacht und bemerkt, dass unsere nächtlichen Straßen gepflastert sind mit Bierdosen, Trinkbechern und Strohhalmen, mit halbgegessenen Dönern und ausgespuckten Peperonis. Mein Gott, jede Nacht verkleckern wir Herden von Lämmern auf dem Bürgersteig.“

Petra unterbrach ihn: „Wenn du so unzufrieden bist mit deinem Lebensstil, warum änderst du ihn nicht einfach?“

„Ich finde das nicht so einfach. Vegetarier bin ich seit einem Jahr, rauchen tue ich nur noch auf Feten, und meinen Wagen hab ich für diese Reise verkauft. Aber ich glaube nicht, dass das wirklich etwas ändert.“

Petra nickte. „Zuhause denke ich auch oft: Es lohnt sich nicht, zum Beispiel für etwas zu spenden, das ist doch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Wenn, dann möchte ich was Richtiges bewegen. Hier dagegen, im Urlaub, verschiebt sich meine Wahrnehmung, und ich finde plötzlich, dass durchaus die Kleinigkeiten zählen. Gerade die. Denn die bestimmen ja mein eigenes Leben. Und jedes Mal im Urlaub nehme ich mir vor, diese Einstellung mit nach Hause zu nehmen: Dass es eben nicht um Alles oder Nichts geht, sondern um die kleinen Dinge …“ Sie blickte sich um. „Und darum sollten wir jetzt vielleicht zu den anderen gehen. Was meinst du?“

Roberto und Eddie kippten rückwärts in ihre Betten. Petra und Zak dagegen lagen noch lange wach, wegen der Moskitos und weil sie sich vor den speckgeschwärzten Matratzen ekelten. Schließlich wickelte Zak sich in sein Regenzeug und zog sich sogar die Kapuze über den Kopf – es half alles nichts.

Um Mitternacht klopfte es plötzlich an der Tür. Petra öffnete. Es war Carlos, der einen Rucksack für Roberto abliefern wollte. Petra nahm und öffnete ihn, er war voll mit Gras. Sie schubste Carlos zur Seite, schleuderte den Rucksack an ihm vorbei und knallte ihm die Tür vor sein nächtliches Grinsen. Roberto war so betrunken, dass er dabei kaum ein Auge aufmachte. Auch Zak war sich nicht sicher, ob er nicht träumte.

Am nächsten Morgen sprangen sie in den schlammbraunen Río Dulce und wuschen sich den Schweiß der Nacht von den Körpern, dann fuhren sie zurück. Am späten Nachmittag, einige Kilometer vor Antigua, gab Zak das Pfand, die vergoldete Uhr, an Roberto zurück. Er wollte sie nicht behalten, das Geld war ihm egal. Die beiden Guatemalteken verabschiedeten sich mit dem Versprechen zum Abend ins Rainbow zu kommen – sie erschienen nicht.

Drei Tage später traf er Roberto auf der Straße. Zak sagte ihm, das ausgelegte Geld könne er behalten, es sei nicht so wichtig. Roberto aber bestand darauf, ihm alles zurückzuzahlen, und sie verabredeten sich ein zweites Mal im Rainbow. Roberto versetzte ihn erneut, doch damit hatte Zak gerechnet.

Kurvenwasser

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