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Lotos. Oder der Versuch, ohne Urteile durch die Welt zu ziehen

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Als seine dritte Woche in Guatemala anbrach, wurde Antigua ihm schon zu klein und zu touristisch, obwohl es sich doch gar nicht geändert hatte in der kurzen Zeit. Aber sein Blick war schärfer geworden. Zak fokussierte auf die bewaffneten Wachleute vor den Gringokneipen, auf die ausländischen Kellner. Der Einheimische wird sogar als Dienstleister verdrängt, zur Kulisse degradiert.

Und Zak kamen Zweifel, ob er tatsächlich sein altes System verlassen hatte, das er doch von außen hatte betrachten wollen. Waren das am Ende gar keine verschiedenen Welten, die erste und die dritte? … Antigua jedenfalls bot ihm vor allem das Angenehme und Gewohnte.

Deshalb hatte Zak am vergangenen Wochenende den Atitlán-See besucht, mit den Dörfern Panajachel, Santiago und San Pedro. Aber hier wimmelte es nur so von Aussteigern und Reisenden, die so lautstark auf der Suche nach sich selbst waren, dass sie nur ihr eigenes Echo finden würden, egal wohin sie gingen … Zugegeben: Es war verführerisch, hier für einige Wochen oder gar Monate hängen zu bleiben: mit all den interessanten Typen zu rauchen, in der Überzeugung, dass nichts sinnvoller wäre, als einfach gut zu leben. Aber irgendetwas störte ihn. Es war so … unecht.

Das Echte jedoch war auch die Woche darauf in Chichicastenango nicht zu finden, trotz oder wegen der Marimba-Bands, der barock duftenden Kopalharz-Pfannen und der Weihrauchschwenker vor den Kirchen. In Zaks Reiseführer stand, sie würden vom Tourismusministerium bezahlt … Auch der prächtige Markt rief nur ein leises Gefühl der Exotik in ihm ab – aber nein, er wollte nicht kaufen und kiffen und gaffen und zu Hause davon erzählen; er wollte mit seinem Herzen erfahren. Das hatte er beschlossen im Kater nach dem missglückten Lívingston-Rausch. Darum ging er für eine Woche an die Pazifikküste nach Monterrico.

Hier gab es nichts außer dem Strand und einer Dépendance seiner Spanischschule mit fünf Lehrern und ebenso wenigen Schülern.

Lars, ein hünenhafter Däne, langweilte ihn mit seinen ständig gleichen Reden: „Es muy importante practicar y hablar el español.“ Er war sehr stolz auf seine Grammatik, die er brauchen würde, um in Guatemala business zu machen; er kam aus der Textilbranche.

Monika, eine Deutsche, hatte sich von ihrem Mann getrennt, ihren Job aufgegeben, alles verkauft und war ausgewandert.

Ronald, ebenfalls deutsch, hatte gerade ein halbjähriges Architekturpraktikum auf Haiti hinter sich.

Claire kam aus Quebec und sprach kein Englisch.

Aúra, die Chefin der Schule, war wie die anderen Lehrer sehr jung; eine halbe Indianerin. Ronald bezeichnete sie scherzeshalber als astuta, impertinente y increible – schnippisch, frech und einfach unglaublich.

Trotz dieser Gesellschaft fühlte Zak sich nach dem Ortswechsel zunächst allein und leer. In der ersten Nacht ging er nicht zu der großen Fiesta zu Ehren des örtlichen Schutzheiligen, vermutlich das größte Fest des Jahres. Stattdessen lag er unter seinem Moskitonetz und lauschte verzweifelt der schamlosen Lebensfreude, wälzte sich in kaltem Schweiß und Schuldgefühlen gegenüber Laila.

Erst das Tageslicht machte alles erträglicher, und er nahm wieder Anteil an den neuen Bildern: Auf den staubigen Wegen liefen Schweine herum, unter den wenigen Laternen saßen doppelfaustgroße Kröten. Der vulkanische Sand brannte heiß unter den Füßen, und jeden Abend fuhr die letzte Sonne so glutig und rot in die Wolken wie Wind in die Asche eines Lagerfeuers. Nur am Wochenende sollte es voll werden, hatte Aúra ihn gewarnt: neureiche Yuppies aus der Hauptstadt, die mit Strandbuggies den Sand aufmischen und ihre Bierdosen liegen lassen … Eines Mittags fand Zak den Leichnam eines Hundes mitten auf einem Weg – zwei Rabengeier hatten säuberlich ein winziges Loch hineingepickt und bedienten sich daraus.

Im Mondlicht glitzerte der anthrazitfarbene Strand, während Zak die schwarz und ungeheuer hereinrollenden Wellen beobachtete. Immer wieder das gleiche Spiel: Die Stiere stürmen heran, glänzend wie Presskohle, bäumen sich auf, dass ihre Muskeln schwellen und ihre Mäuler schäumen, erbrechen ihre ganze Kraft, ihr weißes Fleisch nach außen und stürzen dann verhalten in sich zusammen wie eine gesprengte Häuserreihe. Die letzten Blasen platzen über dem Sand, und wenn das Wasser sich zurückzieht, hinterlässt es nur eine feine Linie.

Er saß schon lange hier und sah, wie die Linie sich auf ihn zuschob. Dieser Strich, für den die Welt soviel Kraft aufgewendet hatte. Alle Wirbel reduziert, und man glaubt zu erkennen, was das alles bedeuten soll: Wellenberg, Wellental – beides unter einer Wasserhaut.

Irgendwann würde die Linie ihn erreichen, und bei diesem Gedanken gab es keinen Rückhalt mehr. Lolas wundervoll geschwungenes Becken; Lola, mit einem Stück Wassermelone durch Nürnberg trottend, sie beide, Taxifahrer nach Sex-Shops fragend … ach, und in der Schule: ihre Lolalöwenlocken leuchten in der Raucherecke … Zak erinnerte sich ihrer gemeinsamen Einkäufe: das Ein- und Ausladen der unendlich vielen gekauften Dinge; Tigerbettwäsche, müde nach Hause getragen und ohne Zeit ausprobiert: Lola, sei zahm! Mit einem Kloß, zu groß, um ihn hinunterzuschlucken, auf der Straße stehen … in Holland – auf dem Damm, in den Dünen, auf der Toilette einer Tankstelle: vereint – Musik hörend, Mojo, Reggae, unser Song, mal verliebt, dann genervt, entmutigt, nicht sicher, verheult und wieder vertragen. Nach dem Flohmarkt die indische Liebesnacht … so kitschig wie die Sonnenuntergänge und die Milchstraße über Monterrico.

Heute noch hatte er mit Laila gesprochen; für dieses Telefonat war er fast den ganzen Tag unterwegs gewesen. Monterrico lag hinter einem Mangrovenreservat: Mit einem Boot über das Brackwasser, anschließend per Bus nach Chiquimulilla, wo das nächste Büro der Guatel hockte.

Auf dem Deck der lancha quiekten zwei Ferkel in der Sonne, beide in ein Netz gewickelt und mit allen Vieren an einen Tragstil gebunden. Schwärme weißer Reiher, fremdartige Vögel, flüchtige Gedanken an Lola. Im Bastkorb einer faltigen Bäuerin wand sich ein gefesselter Hahn zwischen zwei gigantischen Papayas.

Die pazifische Küstenebene war flach und heiß. Immer wieder hielt der Bus, um zähe Campesinos mit Cowboyhüten und groben Leinensäcken oder Bündeln mit Zuckerrohr zusteigen zu lassen, oh staubige endlose wunderschöne Fahrt! Chiquimulilla lag höher, im Kaffeegürtel am Fuß der vulkanischen Kordilleren. Die Bürgersteige waren in ihrer unbequemen Höhe für die starken Regengüsse ausgelegt. Handgemalte Pepsi-Reklamen an den Häusern in der einen Straße – Coca-Cola-Banner über der anderen. Um jede Straße wurde hart gekämpft. Vor jeder Bank Wächter mit Maschinenpistolen. Obst, Krach, Gerüche.

Zak hat den Tag über nur wenige Worte gesprochen, und wie das ist, wenn man sich eigentlich viel und wichtiges zu sagen hätte, bringt er, bringen sie beide – Laila und er – nur ein stockendes Gespräch zustande:

– Wie geht’s? Was machen Sven und Hendrik denn so? Ja, mir geht’s auch gut, mmhm. Selbst die Kokosnüsse schwitzen an den Palmen, ach, es gibt so viel zu erzählen. Ich vermisse dich. Ja … ich dich auch! Und bitte weine nicht, die Zeit ist so kostbar, und ja … was soll ich sagen, das wird wohl das Beste sein. Grüß schön, und … ich liebe dich!

Verwirrt macht Zak sich auf den Weg zurück.

Flammen verzehren wie jeden Abend die dünnen Wolken, als er die letzte lancha nach Monterrico besteigt. Und bald sieht er die Sterne. Zuerst schwach, dann so stark, dass sie sich im Wasser spiegeln, das wie ein bleierner Spiegel unter ihm liegt. Kaum bewegt durch das langsam tuckernde Boot.

Ab und an streift es eine Art Seerosen mit lila Blüten; zu denen hat Aúra ihm eine Geschichte erzählt: Der Sage nach handelte es sich um Nymphen, die einem Wanderer einen Wunsch gewähren, wenn er sich wie sie der Strömung aussetzte … Als Zak sich weit hinauslehnt, kann er ihre sanften Finger über die seinen streichen fühlen.

Die Mangrove wirkt abwesend, aus dem noch glimmenden Himmel geschnitten. Und je dunkler es wird, desto deutlicher klafft dieses Nichts zwischen Himmel und Wasser. Pioniere auf ihrer Reise zum Mittelpunkt der Erde. Er sucht nach Strukturen, nach Blättern und Stelzwurzeln, einfach nach einem Halt, doch da ist nichts, nur ein Riss in der Welt. Er beginnt zu fallen, wird angesogen … von einem leuchtenden Punkt. Und noch einer und plötzlich hunderte, tausende Sterne, die aufblitzen und wieder vergehen. Ein Flug ins Mangrovenuniversum, das explodiert aus einem Punkt hoch verdichteter Sehnsucht; es breitet sich aus, und der dimensionenlose Raum gewinnt eine neue Tiefe … Raumgleiter, Traumsplitter, einsamer Ritter … Die Mangroveninseln, die das Boot umschifft, funkeln nun tatsächlich wie Christbaumdekoration, nur nicht so aufdringlich, viel diskreter, konzentriert in sich selbst.

Lucieros hatte Aúra die kleinen Leuchtkäfer genannt, Zak solle sie nicht berühren, er würde sich sonst die Finger verbrennen.

Während Zak also wie eine Schwimmpflanze am Strand hockte, im Lotossitz die Wellen auf sich zurollen ließ, da riss es ihn plötzlich los von seiner Erinnerung und vom Konkreten. Und im Geiste trieb er hinaus aufs Meer der Abstraktion, fühlte sich fernsichtig und seekrank zugleich.

Ich liebe dich – hatte er das etwa nicht gesagt! Und dennoch war er hier – wie ließ sich das auflösen? Der Zielkonflikt, von dem Petra gesprochen hatte: Sich dem Zufall überlassen oder sich ein Ziel stecken? Freiheit oder Sicherheit wählen, Reise oder Liebe. Aber da waren nicht nur diese zwei Seiten: Aus jedem Winkel seines Lebens flüsterten ihm kleine Männchen Erklärungen, Ansichten, Einstellungen ins Ohr. Und alle versuchten sie, sich gegenseitig zu widerlegen.

Die Eltern sagen: Geld verdienen, eine Familie gründen, denn du sollst zufrieden sein. Die Freunde fordern: Komm! Das ziehen wir uns rein. Bob Marley singt: One Love. Jim Morrison: Gib Gas! Die Ökos: Autos machen keinen Spaß. Die Punks: Haste mal zehn Cent! Der Fernseher: Kauf mich! (… implodiert und brennt.) Der Pfarrer: Gott ist das Licht! Die Atheisten: Stimmt ja nich’ … Licht aus! Kommen die Rechten, singen: Ausländer rrraus! Und der Intellektuelle: Sieh das mal differenzierter, hey, lass uns das mal ausdiskutieren … und just hier erscheint Albert Einstein und doziert, Zeit und Masse eines Objekts verhielten sich relativ zu seiner Geschwindigkeit oder so ähnlich. Wie ist das, haben Dicke dann mehr Zeit oder bewegen sie sich einfach langsamer? … Scheiße, wie soll man sich denn für etwas entscheiden, wenn alles so gottverdammt relativ ist?!

Vor einigen Tagen erst hatte Zak Siddhartha von Hermann Hesse gelesen – die Geschichte von Buddha, der auszog, um die Erleuchtung zu finden. Doch es braucht viele Umwege und gegensätzliche Erfahrungen, bis Siddhartha an sein Ziel gelangt und sein inneres Nirvana findet, eine unstörbare Gelassenheit vor allen Wünschen. Aber davor hat er eben all diese Umwege gehen müssen, musste Bettler, Kaufmann, Liebhaber, Mönch sein, um sich zu finden … Und war das nicht auch die Idee von Jack Kerouac und Henry Miller, von Bruce Chatwin und Charles Bukowski, die Botschaft aller begnadeten Flüchtigen und Süchtigen? … So hatte auch Zak sich vorgenommen, von den Gegensätzen zu leben und ohne Urteile durch die Welt zu ziehen.

Er löste seine überkreuzten Beine und ließ sich in den kühlen Sand fallen.

Der Gedanke, dass alle Erfahrungen wichtig und richtig waren, egal ob gut oder schlecht, gab ihm ein leichteres Gefühl, nahm etwas Verantwortlichkeit von seinen Schultern. Aber das löste nicht sein Problem: Er musste sich ja trotzdem für oder gegen eine jede Handlung entscheiden. Und wie sollte das gehen ohne Urteile – wo doch der Instinkt versagen musste unter dem Anprall dieser ungeheuren Datenflut. Wo doch jeder wusste, dass seine kleinste Handlung (vermutlich katastrophale) Folgen hatte, die auf der ganzen Welt zu spüren waren. Sei es der Kauf einer Aktie, eines Liters Benzin oder einer Banane.

Konnte er das einfach ignorieren? Gab es tatsächlich keinen Maßstab?

Es war niederschmetternd, aber er fand keine losgelöste Wahrheit. Alles, jedes Urteil, jedes Handeln sah er an Interessen und Standpunkten festgemacht … Was war Moral anderes, als eine mehrheitliche Übereinkunft zum Selbstschutz des Bürgertums – eine in Zwänge überführte Angstvorstellung? (Und galt das nicht besonders für die Treue?) Dabei brauchen wir uns nicht zu sorgen: Es gibt keine Sünde, keine Strafe, nur Konsequenzen.

Manchmal wünschte er seine Logik zum Teufel. Es wäre so viel beruhigender gewesen, hätte er sich die Welt in Gott getaucht vorstellen können. Aber Zaks Weltbild ließ das nicht zu. Gott – war das nicht der Versuch, eine kategorische Antwort zu geben auf eine nicht zu beantwortende Frage? Bis hierhin mein Sohn und keinen Schritt weiter! Gott war den meisten nur ein simples Basta. Dabei müsste er als permanente Frage definiert sein.

Im Grunde sehnte Zak sich danach, einfach etwas glauben zu können, aber das war nicht möglich. Da war die naturwissenschaftliche Sozialisation davor. Ein paar philosophische Schinken vom Onkel geerbt, Biologie und Physik die Lieblingsfächer. Die Gewissheit, dass alle Erkenntnis vorläufig war. Ein Häuflein Sand rann durch seine Finger … die Zeit … die Wellen … die Wiedergeburtslehre des Buddhismus – totaler Quatsch. Aber den Energieerhaltungssatz, den konnte er akzeptieren, ja. Der Sand hier war größtenteils zerriebene Lava, doch ein Teil mochte von einem Korallenriff stammen, mochte einmal das Skelett eines Kopffüßers gewesen sein. Und es war gut möglich, dass einzelne Mineralienmoleküle eines bestimmten Sandkorns einmal ihren Weg in eine organische Zelle finden würden. Der Kopffüßer als Bestandteil einer Palme. Nichts geht verloren.

Ging es nicht auch hier und jetzt darum, etwas umzuwandeln? Konkrete Sehnsucht in abstrakte Liebe. Ein Leiden in etwas Positives. Tiefes Empfinden ist kein Masochismus mehr.

Du musst Geduld haben, dachte er. Und jedenfalls fürs Erste weigerte Zak sich, die Liebe und die Freiheit gegeneinander auszuspielen, denn er hatte das Gefühl, dass dies ein Streit um Begriffe und Mythen war, die nach Belieben gefüllt werden konnten. Warum sollte Freiheit immer einen Riss im Leben erzeugen? … Er wollte forschen, was hinter den Ideen steckte, bevor er sich entschied. Und weiter treiben über die See, um sicher wieder in der Mangrove zu stranden.

Am ersten November hatte Ronald Geburtstag. Zak hatte kleine Geburtstagskerzen aufgetrieben, drehte eine gelbe Kokosnuss von einer Palme und bastelte zusammen mit Claire und Aúra eine Geburtstagsnuss für Ronald … Das vielfarbige Wachs der abgebrannten Kerzen hing bald von der coco loco herab wie Stalaktiten.

Am darauf folgenden Abend wurde Claire bei einem Strandspaziergang überfallen. Der Mann hatte ein T-Shirt vors Gesicht gebunden, griff sie von hinten und drückte ihr ein Messer an den Hals. Als Ronald herbeigelaufen kam, flüchtete der Mann.

Kurvenwasser

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