Читать книгу Kurvenwasser - Thomas Mader - Страница 18
Libido. Drei unbedachte Worte, und man ist gebunden
ОглавлениеNackt stand Zak auf einem Felsvorsprung und betrachtete die Gischt des Flusses, wie er tosend in die Unterwelt eintauchte. Der Wasserstaub wallt hoch, dehnt und sehnt sich verzweifelt, sich dem Unvermeidlichen zu entziehen, bevor der Luftzug der Wassermassen ihn gewaltsam in den Fels saugt. Erst dreihundert Meter weiter kommt der Fluss wieder ans Licht. Vor zwei Monaten, so hatte man ihm in Lanquin erzählt, sei ein Franzose von eben dieser Stelle herabgestürzt; es sollte Tage gedauert haben, bis er wieder auftauchte, zerschlagen in zweiundsechzig Teile.
Zak schaute sich um: Semuc Champey, das Weltnaturerbe. Der Fluss hat sich einen Tunnel durch den Kalkstein geleckt und so eine natürliche Brücke geschaffen. Kurioserweise kann man diese Brücke nur schwer trockenen Fußes überqueren, denn auf ihr kreuzt der Fluss sich selbst, hier fließt ein Nebenarm des unterirdischen Laufes. Darum sieht die Brücke auch gar nicht wie eine aus, denn ihre Oberfläche besteht aus einer Treppe sanft geformter Becken. Lianen verhängen die hohen Wände zu beiden Seiten. Und er: allein und nackig in dieser paradiesischen Badephantasie, ein Stockwerk über dem Hades.
Verträumt balancierte Zak über einen Kalksteinwulst, der zwei Sinterterrassen voneinander trennte, und beobachtete die Fische, die unter ihm wie Wünsch-Dir-Was-Groschen glitzerten, da quoll zwischen den Bäumen am Uferrand eine Wagenladung Besucher hervor. Aus seinem selbstgenügsamen Zustand gerissen und besorgt, die unfreiwilligen Zuschauer durch seine Nacktheit zu provozieren, hechtete Zak in das tiefer gelegene Becken und schwamm rasch zu der Stelle, an der er seine Badehose abgelegt hatte. Als die anderen ihm lachend winkten, planschte er verlegen hinüber.
Er traf vier Guatemalteken und eine Deutsche, die als Anhalterin mitgefahren war. Wie er war Judith allein unterwegs.
★
Sie fuhren gemeinsam zurück nach Lanquin. Judith und Zak saßen auf der Ladefläche des Pick-Ups zusammen mit einem der vier Jungen. Unterwegs hielten sie an, um ein altes Bauernehepaar aufzunehmen.
Nebel hatte sich zwischen den grünen Karstkegeln verfangen. Dabei war die unbefestigte Straße schon schlammig genug vom Regen. Auf einem steilen Stück drehten die Räder durch, und der Wagen begann rückwärts zu rutschen.
Der Fahrer zeichnete sich nicht durch besondere Geistesgegenwart aus, sonst hätte er das Gas weggenommen und wäre kontrolliert hinabgerollt. Stattdessen ließ er den Motor aufheulen, Schlamm spritzte zu allen Seiten, und der Wagen schlitterte mit beängstigender Zielstrebigkeit auf die Böschung zu. Im letzten Moment, der Pick-Up drohte zu kippen und seitlich den Hang hinunterzupoltern, sprang Judith sehr sportiv über die Reling. Zak und der Junge saßen auf der falschen Seite und konnten nicht mehr reagieren. Bevor der Wagen sich jedoch überschlug, wurde er von einem Busch gestoppt.
Perplex befreite sich Zak aus dem Gestrüpp und kletterte von der Ladefläche. Erst jetzt wurde er gewahr, dass die beiden Alten, mit dem Rücken zur Fahrerkabine sitzend, während des ganzen Hergangs keine Miene verzogen und sich nicht gerührt hatten. Nun erhoben sie sich gelassen: Die schrumpelige Bäuerin klopfte ihre Kleider aus, nahm kommentarlos ihr Bündel und ließ sich von ihrem Mann vom Wagen helfen.
So standen sie denn alle auf der Straße und diskutierten (mit Ausnahme der Indianer) über den Unfallhergang, über den entstandenen Schaden und wie man das Auto wieder auf die Straße bekommen könne. Das Gesicht des Fahrers, vormals von der Farbe einer Kakaobohne, hatte sich jetzt umgestülpt und wabbelte weiß auf seinem Hals wie das Fleisch der halbierten Kakaofrucht, die er eine halbe Stunde zuvor den Deutschen zum Kosten gegeben hatte.
Judith war von oben bis unten mit Schlamm besudelt. Zak zog sie ein wenig auf: „Hey Jody, dein Colt schleift!“ – eine Reminiszenz an den unbekannten Stuntman, Colt Sievers, TV-Held seiner Kindheit und aller Kinder aus den letzten Tagen der drei Kanäle. (Jody, seine erste und einzige Bildschirmliebe.)
„Ja, lach nur, kleiner Haui“, rief Jody – sie hatte verstanden. „Du wirst nie ein Stuntman sein!“
★
Lanquin bestand im Wesentlichen aus drei Straßen, so dass es kein Wunder war, dass sie in derselben Herberge wohnten.
„Hast du gesehen“, fragte Zak, „wie locker die Oma geblieben ist?“
„Ja. Echt süß, wie sie nachher dastand und die Arme in die Seiten gestemmt hatte. Als wäre das mal wieder typisch.“
Jody lachte, und es klang herzlich und unbeschwert. Ihre braunen Haare waren kinnlang und kringelten sich um die Ohren. Den Nachmittag verbrachten die beiden damit, im Patio Bier zu trinken und sich gegenseitig in ihr Leben einzuweihen. Wie Zak erfuhr, hatte Jody vor vierundzwanzig Jahren eine glückliche Kindheit in einer ostfriesischen Kleinstadt angetreten und unter Einbeziehung aller legitimen Verlängerungsfristen erfolgreich abgeschlossen. Schließlich war sie nach Hamburg gezogen, um das Schreinern zu lernen. Über das Holz hatte sie ihre grüne Ader entdeckt und machte sich nun bei Greenpeace stark; ansonsten wohnte Jody am Kiez und war zum St. Pauli-Fan mutiert, wie sie sagte. Sie hatte zwei Monate lang Chile, Peru und Bolivien bereist und noch zwei Wochen drangehängt, um Guatemala zu sehen. Morgen Abend wollte Jody eine Reisefreundin aus Südamerika in Río Dulce treffen – im Hollymar, wo Zaks Karibiktrip mit Petra, Roberto und Vulkan-Eddie abgesoffen war. Noch immer war Zak heiß auf Lívingston. Sie beschlossen, es gemeinsam bis Río Dulce zu machen.
Eine Stunde vor Einbruch der Dämmerung gingen mit einem fernen Krach das Licht und der Fernseher an. Lanquin bezog nur drei Stunden täglich Strom von einem Generator, wie die herbeieilende Herbergsmutter freudig erklärte – eine heilige Zeit, die auf die zwei beliebtesten Seifenopern im guatemaltekischen Fernsehen zugeschnitten war.
„Hier soll es riesige Tropfsteinhöhlen geben“, bemerkte Zak nach wenigen Minuten, als ihm wieder einmal klar wurde, dass er nie, nie, nie in seinem kurzen Erdenleben diese telenovelas verstehen würde.
„Der Eingang ist nicht weit“, sagte Jody. „Ich war schon da. Aber es wird gleich dunkel.“
Sie machten sich trotzdem auf den Weg. Der Pfad führte an das Ufer desselben Flusses, der Semuc Champey durchbohrt hatte … Ein bedrohlich wirkender Schlund klaffte in einer Felswand. Schwärzer noch als die Nacht, die plötzlich über Lanquin gefallen war.
Die beiden stiegen einige Stufen hinauf und berieten unentschlossen. Ein Schauer durchlief Zak, etwas hatte seine Wange gestreichelt – vielleicht nur ein Luftzug, der Atem des Berges?
Klick. Der Lichtkegel der Taschenlampe enthüllte ein zuckendes Gewimmel: Hunderte, Tausende von Fledermäusen schwärmten aus der Höhle, legten sich als warmer, flirrender Strom um ihre Körper. Jody und Zak standen still, wagten nicht, sich zu bewegen. Versuchten sich zu beherrschen. Zentimeter vor ihren Nasen, vor den Händen und den Beinen und ihren Bäuchen lenkten die Fledermäuse ein und flossen um sie herum wie um zwei Tropfsteine. Den Sinnen der Tiere überlassen, gewannen sie langsam Vertrauen. Keine Maus würde sie antasten.
Dieser muffige Luftzug, durchzogen von Biomasse – es war sogar ein angenehmes Gefühl: Aktivierungsenergie. Bestrahlt mit Leben. Durch einen Schwarm Makrelen tauchen.
„Das nimmt ja überhaupt kein Ende“, stieß Jody zwischen den Zähnen hervor. Aber tatsächlich schwirrten die Vampire nur noch vereinzelt aus ihrer Gruft.
„Möchtest du noch immer hinein?“, fragte Zak.
„Natürlich, jetzt erst recht.“
Vollkommene Finsternis und die Wärme des Tages hatten sich drinnen gestaut. Der Weg in der Höhle war teilweise mit Geländern und Laufbohlen gesichert, an vielen Stellen aber unbefestigt. Es roch nach Fledermausscheiße, und das Echo ihrer Schritte vermischte sich mit einem hohlen Plätschern, das sie mit ihrem schmalen Licht zu verorten suchten.
Auf einen Wink der Taschenlampe huschten bizarre Formationen an ihnen vorbei, wie geschmolzenes und in der Schwerelosigkeit erstarrtes Wachs. Zak dachte an die Geburtstagskokosnuss, die er mit Aúra für Ronald gebastelt hatte. An einigen auffällig geformten Steinen blieben Jody und Zak stehen, um ihre Assoziationen auszutauschen: Pferdekopf, Elefantenrüssel, Minarett, Piratenschiff und Cola-Flasche – sie mussten lachen, doch darin klang eine gewisse Vorsicht oder Andacht mit.
Es hätte der Sinne einer Fledermaus bedurft, sich die Höhle plastisch vorzustellen, aber die Phantasie füllte den schwarzen Raum mit Formen und Geschichten, ja sogar mit Augen. Nachdem sie eine kleine Holzleiter emporgeklettert waren, entdeckten sie in der Felswand eine künstliche Nische, in der sich Kerzenstummel, verwelkte Blumen und ein Marienbild befanden.
„Ob das ein Altar ist – was meinst du?“, fragte Jody.
„Irgendwie so was, ja. Wir stehen ja auf einer Art Kanzel“, bemerkte Zak in diesem speziellen Ton, wenn man bemüht ist, den Moment ganz aufzusaugen und ihn gleichzeitig mit jemandem zu teilen.
„Lass uns doch eine Zigarette opfern“, schlug Jody vor. „Möchtest du auch eine?“
„Danke. Was hältst du davon, wenn wir das Licht ausschalten?“
„Das ist bestimmt ein komisches Gefühl. Nur zu.“
Sie stürzten in Watte: weich und voluminös die Dunkelheit, unbegrenzt der Klangraum. Mit jedem Plitsch und Platsch wandelte sich die Form der Höhle, und überdeutlich, von überall her, war es jetzt zu hören – die Höhle wucherte und wand sich, sah bestimmt schon ganz anders aus als noch vor wenigen Sekunden. Sie rauchten schweigend.
Ohne Sinne verschwimmen die Grenzen des Körpers; ungehindert hätte das Ich sich ausgedehnt, all das Undefinierte umschlossen; doch da waren die glühenden Punkte der Zigarettenspitzen: übergroß, das einzig Vertraute, eine rettende Zweisamkeit. Es war einer jener Momente, in denen es alles und nichts bedeutet hätte, sich bei den Händen zu nehmen oder einander zu umarmen.
Nach einer Weile des Schweigens sagte Zak: „Heute morgen hätte ich nicht gedacht, dass der Tag so viele spezielle Momente bringen würde. Allein zu reisen hat sicher seinen Reiz, aber es macht auch müde.“
„Ja, ich finde es auch schön, dass wir uns kennengelernt haben … Du hast mir ja vorhin erzählt, dass du eine Freundin zu Hause hast. Das muss ziemlich schwierig sein für dich. Meine zwei Monate sind ja noch überschaubar. Und auf mich wartet auch keiner zu Hause, mit Ausnahme meiner chaotischen Mitbewohner … Wie lange seid ihr eigentlich schon zusammen, du und …?“
„Laila … Wir kennen uns seit zwei Jahren. Wir waren Freunde in einer Gruppe von Freunden und haben viel Unsinn miteinander gebaut. Drei Monate vor meiner Abreise ist es dann passiert.“
„Und du bist trotzdem geflogen.“
„Mein Entschluss stand bereits fest, als wir zusammenkamen. Ich hatte alles monatelang vorbereitet. Da gab es kein Zurück; dann wäre ich eingegangen und die Beziehung wahrscheinlich gleich mit. Uns beiden war also von Beginn an klar, dass ich gehen würde. Wir hatten uns eine freie Liebe vorgestellt unter dieser Voraussetzung, etwas Freundschaftliches … Und dann bin ich direkt am ersten Tag bei ihr eingezogen. Das heißt: Ich habe es nicht gleich gemerkt, aber ich bin einfach dageblieben für Tage und Wochen … Es war irgendwie gegen meinen Willen – oder besser: gegen meinen Verstand; aber so ist das wohl mit der Liebe: Plötzlich ist sie da, und man kann nichts dagegen tun.“
Die letzten Worte hatte Zak halb scherzhaft dahergesagt; aber nach einer kleinen Pause fuhr er fort. „Ich schätze, man zwingt sich gegenseitig zu einer Beziehung. Das schaukelt sich gewissermaßen hoch. Bei mir gab es da ein Schlüsselerlebnis …“
„Lass hören”, sagte Jody sanft. Ihre Stimmen waren das einzige, was sie voneinander wahrnahmen – nun, da die Zigaretten erloschen waren – und damit auch das einzig Wahrhaftige in diesem Raum, der nur mehr in ihrer gemeinsamen Vorstellung existierte.
„Wir sind in den Urlaub gefahren. Nur ein Kurztrip, zuerst nach Nürnberg, eine Freundin besuchen, und zum Wochenende weiter nach Prag. Wir waren schon in der Tschechei, knapp hinter der Grenze, als Laila anfing zu weinen und ich anhielt, um sie zu fragen was los sei. Sie wollte es mir nicht sagen, und schließlich war ich es, der aussprach, dass es wohl um meine bevorstehende Reise ging. Das Thema belastete unsere Beziehung von Anfang an, aber bis dahin nannten wir sie nur ein Abenteuer.
Sie fragte mich: Wirst du andere Frauen haben? Und ich sagte: Ich kann dir nicht sagen, was sein wird. Und noch weniger kann ich dir etwas versprechen. Sie fragte: Liebst du mich? Und ich druckste herum, denn bis dahin hatten wir uns das nicht gefragt oder gesagt. Ich antwortete: Ja, ich liebe dich jetzt und hier! Und dann hielt sie mir eine Predigt: Liebe bedeutet zusammenhalten, gemeinsam etwas aufbauen, die Zukunft gestalten und so weiter.
Ich wurde ein wenig ärgerlich, glaube ich. Das kann alles sein, sagte ich. Aber dafür ist jetzt nicht die richtige Zeit, und außerdem gibt es auch andere Definitionen von Liebe … Darauf sagte sie: Es hat keinen Zweck. Ich will so nicht mit dir nach Prag. Ich kann das nicht.
Soll ich etwa umdrehen und zurückfahren oder wie stellst du dir das vor?
Warum nicht, heulte sie, es ist doch sowieso nicht wichtig; ein Zeitvertreib. Also lass es uns lieber gleich beenden.
Aber ich liebe dich! Rief ich, wirklich und aufrichtig. Einerseits weil ich es so meinte, aber auch, weil ich sie nicht weinen sehen konnte, weil ich nicht einfach umdrehen wollte, so kurz vor Prag. Ich wünsche mir, dass wir zusammenbleiben, aber ich kann dir nichts versprechen, was willst du denn noch hören, was kann ich dir mehr sagen? … So ging es eine Weile hin und her.
Schließlich schaute Laila mich mit ihren verweinten Augen an und sagte: Ich weiß, dass ich es könnte. Ich könnte so lange warten. Und ich würde es auch tun, aber nur wenn ich mir sicher sein kann, dass du es auch wirklich willst.
Ich will dir kein Versprechen geben, das ich am Ende nicht einhalten kann.
Schau mal, das weiß ich doch, gab sie sich einsichtig. Ich möchte nur, dass wir es versuchen. Wenn es nicht klappt, wenn du eine andere kennenlernst – dann möchte ich es nur wissen, dann musst du es mir sagen, damit ich weiß, woran ich bin.
Und das war es, worauf wir uns am Ende einigten … Im Nachhinein glaube ich fast, dass ich nur nicht umdrehen wollte, so kurz vor dem Ziel.“
„Und … bereust du es?“ Jodys Frage schwebte im Nichts.
„Nein. Ich glaube, die Liebe hat zwar viel damit zu tun, dass man versucht, sich gegenseitig zu fesseln, während man gleichzeitig um die eigene Freiheit kämpft. Aber am Ende ist das nicht mehr wichtig. Die drei Monate mit Laila waren ein ganzes Leben. Gerade das Bewusstsein, so wenig Zeit zu haben, hat alles so viel intensiver gemacht. Vielleicht hat es auch nur deswegen so lange gehalten. Ich weiß es nicht. Alle meine vorherigen Beziehungen waren nach drei Wochen oder drei Monaten vorbei. Irgendwie ist es Liebe.“
Jody legte ihre Hand auf seine Schulter und strich seinen Arm hinunter: „Es ist schön, dass du so denkst … Wollen wir gehen?“
Als sie aus der Höhle kamen, war das Rattern des Generators längst verklungen; das Dorf schlief bereits.
★
Río Dulce auf ein Neues. Von Lanquin in den Morgenstunden zurück nach Cobán, umsteigen und vorbei an den schäbigen Kreuzungsdörfern Los Amates und Río Hondo, klarer und auf beschwingte Weise freier als noch vor ein paar Wochen vorstellbar. Irgendwie auch gemeinsamer, lachend mit Jody. Dann endlich: verschwitzte Gesichter, Hotelsuche, Kneipentour.
Jodys Reisefreundin ließ auf sich warten, dafür machten sie im Hollymar die Bekanntschaft eines abgedrehten Österreichers. Der Blondschopf hatte sich offenbar an einem komplizierten Trip verschluckt: Honda und LSD seien die Schlüssel zum Verständnis der verdammten Realität, verkündete er und berief sich auf Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten von Robert Maynard Pirsig. „Die Bibel ist bullshit!“, wiederholte er ständig.
Als es gerade peinlich wurde, tauchte überraschend Carlos auf und setzte sich zu ihnen an den Tisch, was den Wirrkopf veranlasste, sich an andere Gäste heranzumachen.
Das letzte Bild, das Zak von Carlos hatte, war mit seinem unrühmlichen Rausschmiss durch Petra verbunden, als Carlos versucht hatte, ihnen einen Rucksack voll Marihuana unterzujubeln. Seine Erscheinung war unverändert: Schwarze lockige Haare über zartbrauner Haut, ein jugendlicher Flaum über den unverschämten Lippen. Er wechselte einige Worte mit Zak, der sich reserviert gab, und widmete sich dann ausschließlich Jody.
„Was ich mache, fragst du?! … Du musst wissen: Ich bin ein Doktor“, sagte Carlos.
„Ein Doktor?“
„Ja, ein Doktor der Liebe, ich heile gebrochene Herzen.“
„Tja, tut mir leid, kein Bedarf; im Moment bräuchte ich eher einen für die Leber“, parierte Jody seine kleinen Anzüglichkeiten, eine um die andere, bis Carlos das Interesse verlor und zu seinem Unglück beim Bierholen an den verpeilten Österreicher geriet, der ihn gleich in Beschlag nahm. Jody und Zak nutzten die Gelegenheit, sich dünne zu machen. Da kein Bus mehr erwartet wurde, war es unwahrscheinlich, dass Jodys Freundin noch kommen würde.
Im Laden nebenan feierte eine Punta-Rock-Combo aus Belize ihr Instrumentarium: Eine E-Gitarre, drei Bongos und ein Schildkrötenpanzer, auf dem sich prima Soli spielen ließen. Der Sänger benutzte eine Muschel als Trillerpfeife, wenn er nicht gerade verzückte Schreie oder Tanzanweisungen von sich ließ.
Der Raum war groß und schmucklos, die Rückwand offen, so dass man über die Köpfe der Menge den Nachthimmel über dem breiten Fluss sehen konnte. Zak verkroch sich in einen hinteren Winkel: Über den zerzausten Kronen der Palmen hing der Mond wie ein blank gewaschener halber Dollar – wünsch dir was! – die einzig harte Währung in Zeiten emotionaler Verknappung.
„Komm, häng da nicht so rum! Ich will tanzen“, forderte Jody.
Etwas unwillig, weil unsicher und aus seiner Melancholie gerissen, folgte Zak ihr auf die Tanzfläche. Sie überragten die übrigen Paare um gut einen halben Kopf. Der rohe Rhythmus war außerdem schwer umzusetzen, und darum war Zak froh, als die Band eine Pause machte: Zeit für Schnulzen aus der Konserve, sie rückten enger zusammen.
Ihre braunen Haare streiften sein Gesicht, rochen lebendig. Es ist tröstlich, ihre Nähe zu spüren – eine Frau im Arm, eines dieser flüchtigen Wesen. Sanft drückt er sie an sich, will alles, berührt wie zufällig ihren Nacken mit seinem Kinn. Ihren Hals mit seinen Lippen … aber Jody entzieht sich – so beiläufig, als hätte sie den Hauch seines Atems nicht bemerkt.
Auch Zak lässt sich nichts anmerken, doch innerlich erschreckt er. Es ist, als würde eine Sicherung herausfliegen: Er schaltet ab und sucht in sich nach dem Bild Lailas, nach den Erinnerungen, die ihn bisher vor solchen Aktionen bewahrt haben. (Wie im Vorbeifahren sieht er noch dieses Mädchen im Bus nach Xela, das sich an ihn gelehnt hatte und an seiner Schulter eingeschlafen war.) Dann findet er eine idealisierte, etwas verschwommene Laila – eher ihre sexy Seite: Lola, nur wenig mehr als ihr Name … ein Echo im Kopf … Lo la la, la la … Der geliebte Mensch geschrumpft auf Sex und Klang. Aber was könnte auch sonst bestehen hier in der Dancehall?
Vielleicht hat das auch Jody gespürt und sich erinnert, was er ihr über Laila erzählt hat in der Höhle. Ja. Ich liebe dich, hört er sich flüstern. Und das heißt nun einmal nicht Ich mag dich oder Ich begehre dich. Es beinhaltet ein Versprechen – das größte nur denkbare, wenn man sich ernst nimmt … Ach, wie schwer ist es doch, den Mund nicht zu weit aufzureißen! Drei unbedachte Worte, und man ist gebunden … Als sei es eine Schande oder überhaupt ein Ding, wenn zwei Körper zusammenkommen.
Was macht ein Pferd, wenn man ihm die Freiheit gibt? … Gras fressen, über die Prärie preschen, andere Pferde lieben. Und was tut ein Mensch, der sich die Freiheit nimmt? Er wagt es nicht, den Stall seines Gewissens zu verlassen. Und wenn er sich doch für einen Moment hinaustraut, hat er Angst, dass sein Stall ihn einholt. Weil er spürt, dass seine Fessel nur nachgibt, aber niemals reißt. Er bleibt gebunden an Vergangenheit und Zukunft.
Zak tanzt weiter mit Jody. Es ist ihr letzter Abend; sie will ja am Morgen zurück nach Antigua, und er will nach Lívingston. Später schieben sie die Betten zusammen, um Zaks Moskitonetz zu teilen. Sie küssen sich gute Nacht, umarmen sich kurz und schlafen jeder auf seiner Seite den flüchtigen Traum des Bedauerns.