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Mais. Oder Heimat ist dort, wo deine Rollen definiert sind

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Zaks Weg führte von Monterrico über Antigua und Huehuetenango nach Todos Santos Cuchumatán. Es war das erste Mal, dass er sich frei in diesem Land bewegte, wirklich frei, ohne Rückhalt, ohne Verpflichtung. Keine Schule mehr, und er genoss die ruppige Busreise ins Hochland, die für die anderen Passagiere eher Zwang und Beschränkung bedeuten mochte. An einem Rastplatz auf einer baumlosen Hochebene kaufte er wie viele andere eine Orange bei dem Indianermädchen vor dem einsamen Lehmhaus.

Das Mädchen schälte die Orange um ihren Äquator herum bis auf das Weiße. Dann teilte es die Kugel und bestreute die Hälften mit Salz und Gewürzen, so dass man gut hinein beißen und sie auslutschen konnte.

Der Saft war kalt und köstlich. Noch nie hatte Zak eine solch gute Orange gegessen.

Er trat einige Schritte zurück und schaute über das wellige Grasplateau hinweg. Das Lehmhaus machte sich klein und verloren aus in dieser Weite, zwischen den Büschen. Der Himmel war fantastisch. Diese Wolken, das reine Blau dazwischen wild. Die Orange in seiner Hand, der fleischige Saft auf der Zunge, zwischen seinen Zähnen, im Mundwinkel, auf seinem Handrücken, war Ausdruck der absoluten Freiheit, das glaubte er.

Der Hauptplatz von Todos Santos gegenüber dem Postbüro wirkte wie ein Spielplatz ohne Gerätschaften, irgendwie gerodet. Sein Sitznachbar im Bus hatte Zak erzählt, von hier aus seien früher die Einheimischen zusammengeschossen worden. Politik der verbrannten Erde und so.

Die Dorftracht kannte Zak von Fotos, für seine Hosen war Todos Santos berühmt. Aber dass tatsächlich noch alle Männer so herumliefen, hatte Zak nicht gedacht. Rot-weiß gestreifte Hosen fuhren Schubkarren über den Platz, den Berg hinauf. Rot-weiß gestreifte Hosen pflegten den Schnack auf dem Heimweg. Rot-weiß gestreifte Hosen (mit ein bisschen grün, orange und blau in den Streifen) torkelten betrunken durch die Gassen.

Es war nicht schwer, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Zak freundete sich sogar mit einer Ausnahme-Hose (ohne Streifen) an. Sie stellte sich vor als: Rodriguez, nicht von hier, Leiter eines Entwicklungsprojektes. Rodriguez trug eine Brille und bewegte sich nervös bis verlegen. Es war seine Aufgabe, den Frauen Grundkenntnisse im Rechnen, Lesen und Schreiben beizubringen und ihnen ihre Rechte zu erklären. Aber natürlich sei das schwierig, erklärte er, denn gerade die Frauen hätten kaum Zeit, müssten die Kinder hüten, kochen, Ordnung halten. Und viele wohnten zu weit außerhalb oder kamen nicht, weil ihre Männer eifersüchtig waren.

Rodriguez zeigte Zak den Ort. Todos Santos war einen Hang hinaufgewachsen, und entsprechend steil verliefen die Schotterstraßen und die lehmigen Wege. Nur wenige Häuser hatten ein Steinfundament, der Rest war aus Holz gebaut.

Sie spazierten über den Friedhof. Die Grabsteine waren mit Bonbonrosa, Hariboblau und Mint überzogen, als seien sie aus Lakritz. Holzkreuze, Jesusbilder, Marienfiguren, der ewige Nippes an den Gräbern. Dazwischen welke Blumen, leere Flaschen und Brotreste – vergängliche Überreste des ersten Novembers, Allerheiligen, Tag des großen Pferderennens. Da hatte Zak mit Ronald Geburtstag gefeiert, und er bedauerte es nicht, das Spektakel verpasst zu haben, das von allen Reiseführern wegen seiner Radikalität empfohlen wurde. Auch dieses Mal hatten die Reiterhosen sich dermaßen unter die Hufe gesoffen, dass der Friedhof um zwei Plätze erweitert werden musste.

Es wurde früh dunkel. Sie hatten ein Bier getrunken und liefen Richtung Hauptplatz, als sie von weiter unten bizarre Geräusche und Musik hörten. Zak schaute Rodriguez fragend an, aber der grinste nur.

Je näher sie der Quelle kamen, desto sicherer wurde Zak, dass hier eine ziemlich psychedelische Party im Gange war.

Der Krach wurde ohrenbetäubend, als sie ein abgelegenes Steinhaus erreichten. Boxen hingen draußen unterm Dach, aber was sie verstrahlten, konnte Zak noch immer nicht einordnen. Bretter waren über Schlammpfützen gelegt, darüber pirschten Rodriguez und Zak sich bis zur offenen Tür.

Drinnen saßen gut zwanzig Hosen und sahen sich einen Bruce-Lee-Streifen an.

Im Raum war die Lautstärke erträglich, denn die Lautsprecher waren tatsächlich nur nach außen gerichtet. Als gehörte es zu den Eitelkeiten der Technik, möglichst vielen Menschen ihre Vorzüge aufzudrängen. Der Fortschritt kennt keine Scham.

Diese Einsicht sollte sich am folgenden und an allen weiteren Morgen in Todos Santos bestätigen. Zak wachte regelmäßig um fünf Uhr auf, weil ein leiernder Laienprediger seine Karaoke-Nummer über das „Megaphon“ abzog (wie Rodriguez das Kino am Vorabend genannt hatte). Im Hintergrund orgelten die Busse und Pick-Ups, die zu dieser Zeit gesammelt aufbrachen.

Trotz des Lärms stand Zak nicht sofort auf. Die Wände seines Zimmers waren nur aus dünnem Sperrholz, und sein Atem hielt sich darin wie Zigarettenqualm, so kalt war es. Er schlief voll bekleidet in seinem Schlafsack unter einem Haufen Wolldecken, und trotzdem wollten die Füße nicht warm werden. In diesen frostigen Morgenstunden träumte er von warmen Körpern, die sich an ihn schmiegten. Und fast erschreckte es ihn, wie automatisch diese anonymen Leiber Lolas Anfühlen annahmen.

Erst als die Sonne kräftiger wurde, stand er auf. Von der Terrasse seiner posada hatte Zak einen Blick über die verschachtelten Wellblechdächer hinweg, das lange Tal entlang. Der Rauch der Schornsteine zitterte in der kalten Luft, Wolken rieben sich an den gegenüberliegenden Hängen. Die Hausherrin und ihre vier Töchter saßen schon früh auf der Terrasse und machten Handarbeiten, wenn sie nicht die Gäste bedienten. Mittlerweile hatten Kinder das Megaphon übernommen. Ihr Kichern und Gibbeln kam über das Dorf wie ein Heuschreckenschwarm.

Rodriguez hatte ihm erklärt, was es mit dem Megaphon auf sich hatte: Es gab im ganzen Land Hunderte von Freikirchen. Seit Jahrzehnten bauten amerikanische Missionare ein entsprechendes Netz auf. Unterstützt von US-Regierung und Wirtschaftsstiftungen mit dem Ziel, die katholische Kirche zu entmachten, die in Lateinamerika eine Art politisierter „Befreiungstheologie“ hervorgebracht hatte.

Teile und Herrsche! Das Megaphon jedenfalls war eine furchtbare Axt.

Zak freundete sich leidlich mit Kimberly an, einer australischen Tierärztin, und mit Hiersch, einem schweigsamen Israeli. Sie machten Spaziergänge und tranken am Abend zusammen, aber richtig warm wurden sie nicht miteinander. Rodriguez traf Zak noch zwei oder drei Mal auf der Straße, doch blieb es bei Belanglosigkeiten.

Am dritten Tag in Todos Santos unternahm Zak also allein eine Wanderung. Eier, ein Bananenbrot und Wasser packte er in seinen Rucksack, bevor er die Straße bergauf nahm.

Kinder piesackten ein angebundenes Schwein am Wegrand, und vor jeder Hütte lag ein dürrer Hund, knurrend wie ein dicker, wenn man sein Aufgabenfeld streifte. Bald hatte Zak Lehm unter den Schuhen, und die braunen Spitzen des Mais wogten unter und neben ihm.

Hier, inmitten steiler Felder, nahe der Grenze des Mindestertrags, begegnete er den Maismenschen. Sie trugen die gleichen gestreiften Hosen wie unten im Dorf, es mochten sogar dieselben Personen sein. Aber man musste ihnen einfach hier oben begegnen, um sie als Maismenschen zu erkennen. Mit einem Stirnriemen schleppten sie große Bündel Holz auf ihren Rücken, Wellblech oder Stoffe. Riesige Bündel, steile Wege. Sie mussten eine gewaltige Kondition in den Beinen und im Nacken haben. Und Mais im Bauch.

Der Mais trieb hier die Menschen an, war der Stoff, aus dem sie geschaffen waren: Muskeln wie Kolben, die Zähne weiß wie junge Körner, das Herz wie ein tamal in ihrer Brust, wie eine dieser Maismehlpasteten, die eingewickelt in ein Bananenblatt an jeder Straßenkreuzung verkauft wurden … So etwa hatte Asturias, der Literaturnobelpreisträger, seine Landsleute beschrieben. So etwa erzählte es ihre Schöpfungslegende, das Popol Vuh.

Zak hatte darin gelesen. Für die, die an dieses Buch glaubten, war die Welt noch mythisch, und alles ist mit allem verknotet. Da sind Zahlen auch Götter und Menschen auch Tiere. Und die Welt ist ein Netz, das ihn immer auffangen wird, den Maismenschen.

Es lag Wäsche auf den Dächern der Hütten. Und alle Welt grüßte ihn: lachend zwischen diesen unglaublich steilen Feldern. Eine Schafherde graste schräg unterhalb seines Rastplatzes, schon einige hundert Meter über dem Dorf. Ein Maismädchen mit langen glänzend schwarzen Haaren und lilafarbener Tracht kam hinter einem Baum hervor und warf mit Steinen nach einem Schaf, das sich von der Herde hatte lösen wollen.

Ohne Zweifel ein schweres Leben, dachte Zak: die Felder mit der Machete bearbeiten, in Hütten aus Reisig, Bambus, Palmen oder Mangrove leben und sich den Rücken krumm schleppen. Und der Krieg, natürlich. Ein Leben zwischen Kolben, so oder so. Aber dann auch wieder beneidenswert: die Früchte der eigenen Arbeit essen und lachen, wenn man gemeinsam in einem der simplen comedores am Tisch sitzt – das hatte Zak so gesehen, und er war gerührt. Ein schweres Leben, natürlich – aber eines ohne Identitätszweifel. Le maïs c’est moi!

Zaks Beine zitterten auf dem Rückweg. Er hatte seinen Körper stark vernachlässigt in letzter Zeit und fragte sich, ob er diese Reise unternommen hätte, wenn er jemals in einem Verein Fußball gespielt hätte – in einer Mannschaft, mit Kameraden … Da unterbrach ein Bauer seine Arbeit und lief auf ihn zu:

„ Hola. Woher kommst du?“

„Aus Deutschland.“

„Wo liegt das?“

„In Europa.“

„Mhm – Europa … ist es dort warm oder kalt?“

„Eher kalt, depende.“

„Und wo gefällt es dir besser, hier oder dort?“

„Dieses Land ist sehr schön, aber in Deutschland habe ich meine Familie und meine Freunde.“

„Wie lange hat denn der Bus bis hierher gebraucht?“

„Ich bin mit dem Flugzeug gekommen.“

„Oh! Mit dem Flugzeug … Und wie teuer war das denn?“

„Nun ja, recht teuer.“

„Wie teuer?“

„Fünfhundert Dollar.“

Für eine Strecke! – aber das sagte er nicht. Große Augen, dicke Puste.

Und Zak schämte sich. Wie war es zu verstehen, dass jemand soviel Mühe und Kosten auf sich nahm, nur um zwischen fremden Maisfeldern wandern zu dürfen? Nur um weit weg zu sein von Zuhause, wo das Geld wächst. Musste so eine Reise nicht zwangsläufig missionarischen Charakter tragen? Eine Botschaft in den riesigen Nylonrucksäcken, die er und alle auf dem Rücken trugen … Er sah es in den Augen des Bauers – kein Neid, eher eine Sehnsucht.

Wenn dieser Mann die Wahl hätte – würde er sein Feld nicht für einen guten Preis verkaufen? Diese verbrannte Erde verlassen. Versiegelte Erde vorziehen. Würde er weiter in der weihrauchigen Kirche zu der toten Jesuspuppe beten, die dort blutverschmiert und bleich in einem Glassarg aufgebahrt lag? Würde er nicht lieber zum nächsten Supermarkt fahren, den Wagen voll machen? Maiskolben kaufen statt anbauen.

In der vierten Woche seiner Reise wuchs in Zak die Distanz zur eigenen Person. Seine Wünsche und Ziele, selbst die Liebe zu Laila – das war auf ungewohnte Art nicht mehr so wichtig; überhaupt nicht. Und plötzlich wurde es noch mühsamer, das eigene Tun, diese ganze Reise, jeden Tag aufs Neue begründen zu müssen und sich hinauszuwagen.

Aber es blieb keine Wahl, und weil ihm nichts Besseres einfiel, wanderte Zak ziellos durch die Straßen von Quetzaltenango (auch Xela genannt). Die zweitgrößte Stadt Guatemalas war für europäische Verhältnisse überschaubar – kein Vergleich mit der monströsen Hauptstadt. Auf einem dieser Spaziergänge landete er bei den Schuhputzjungen auf der plaza central und brachte ihnen die englischen Zahlen bis zwanzig bei. Die würden sie gebrauchen können, umzirkelt vom endlos knatternden Verkehr zwischen mächtigen kolonialen Klötzen.

An einem anderen Tag fielen ihm hinter einer hohen Mauer die verschnörkelten Spitzen einiger Grabmäler auf; so landete er auf dem Friedhof von Xela.

Eigenartig, aber er genoss die trübe Stimmung dieses Nachmittags.

Grüfte wie Häuser, düster-europäischer Pomp. Die stolze Zeit Xelas war längst vorbei, aber noch im Grabe konkurrierten die großen Familien miteinander um Status und Macht: Ein griechischer Tempel stand neben einer Pyramide, bewacht von zwei Sphinxen, daneben eine gotische Kathedrale im Miniformat.

Das war der eine Teil: das Bonzenviertel, abgesondert durch eine Mauer. Und darin eingelassen ruhte die Asche des Mittelstandes, der es geschafft hatte, sich einen Mauerplatz in der Nähe der Prominenz zu sichern.

Jenseits dieses Zentrums, in den wilden Vororten der Totenstadt, lagen die Slums mit den überwucherten Holzkreuzen und namenlosen Massengräbern – braune Brache, über die man achtlos hinwegsah.

Fast hätte Zak gelacht: Monumente – ein netter Versuch, sich die Ewigkeit zu kaufen. Einen Platz im kollektiven Gedächtnis.

Ziellos lief er umher, ohne jemals bewusst die Richtung zu wechseln. Wie ein Planet, der geradeaus fliegt und im Kreis zur selben Zeit. Kein Widerspruch, nur eine Frage des Bezugssystems. In einem Physik-Buch hatte er mal eine Grafik gesehen, die erklären sollte, wie Einstein sich die Schwerkraft vorstellte. Da war ein Sonnensystem, durchzogen von Gitterlinien: ein Netz aus Raumzeit. Und in diesem Netz lastet schwer die Sonnenkugel und beult es aus. Ein Planet, der sich nun geradlinig an der Sonne vorbei bewegen will, wird in diese Mulde gezogen, wie eine Kugel ins Roulette. Der Witz ist, dass der Planet nur scheinbar seine Richtung ändert, denn tatsächlich sind Raum und Zeit selbst gekrümmt.

So ein Netz dachte Zak sich auch über dem Friedhof von Xela, nur stellte es nicht die Raumzeit dar, sondern die Erinnerung: Jeder Mensch sammelt in seinem Leben eine gewisse Masse an Bedeutung, die schließlich das Netz über seinem Grabe beult. Das kollektive Bewusstsein gekrümmt wie die Raumzeit. Ein eigenartig verworfenes Relief ergibt sich dann über dem Friedhof (wie über einer beliebigen Stadt) … Und der willenlose Besucher wird mal hierhin, mal dorthin gezogen von der Masse an Bedeutung, die an bestimmten Steinen und Namen hängt. Von außen betrachtet mag er schlingern, in einem höheren Koordinatensystem hält er Kurs.

Letztes Jahr in Paris, das war auch so ein Fall gewesen. Da hatte sich ein richtiges Schwarzes Loch über den Friedhof gelegt. Hier ruht: Opfer X … in Frieden. Oscar Wilde … unvergessen. Jim Morrison! – Wegen dir allein sind wir doch hier! Warst du nicht immer der einzige, der mich verstand? Und wo liegst du nun, alter Freund, Pfeifenbruder, Bettgenosse? – Schaut nur nach den Graffiti auf den anderen Gräbern. Sie weisen euch den Weg, ihr könnt mich nicht verfehlen!

Doch die Graffiti weisen kreuz und quer. Und alle irren sie umher auf Père-Lachaise, denn die öffentlichen Pläne sind geschwärzt.

Erst als Zak vorm Spiegel stand und sich die Haare abschneiden wollte, wurde ihm klar, was der Begriff Heimat für ihn bedeutete.

Den ganzen Tag lang hatte er über seine Frisur und ihre Funktion nachgedacht zwischen grasbewachsenen Hügeln, in denen die Überreste ehemals wichtiger Gebäude staken. Utatlán, die Ruinen der ehemaligen Hauptstadt der Quiché-Indianer. Auf dem Rückweg nach Santa Cruz del Quiché, der neuen Stadt, deckte er sich mit ausreichend Bier, Zigaretten und orangefarbenen Käseflips ein, um einer solch schwerwiegenden Entscheidung – schnipp, schnapp, Fransen ab! – den passenden Rahmen zu verleihen.

Es ging ihm auf die Nerven, von allen Leuten wegen seiner Dreadlocks angestarrt zu werden. Dabei hatte er Zuhause dieses Gefühl genossen: außergewöhnlich zu sein, ein bisschen zu schocken. Da bedeutete es ein Stück Freiheit, sich wenigstens äußerlich den Regeln, Erwartungen und Verpflichtungen zu verweigern.

Zwischen den Fragmenten von Utatlán dachte Zak an Zuhause, und er glaubte zu wissen, was Laila und was seine Freunde gerade taten. Heimat ist der Ort, den du am besten verstehst. So geregelt war das Leben dort, so scheinbar vorhersehbar in seiner Beschränkung. Schüler, Sohn, Freund, Geliebter, Arbeitnehmer. Hier dagegen spielte er keine Rolle. Nichts und niemand spielte eine Rolle. Es gab keine Zuschauer, keine Bühne, es gab kein Stück. Das war der Unterschied. Heimat ist da, wo deine Rollen definiert sind.

Und dennoch spielte er hier weiter nach dem alten Muster. Vielleicht vermisste er die gewohnte Bühne mit all ihren Anweisungen, mit dem Applaus und seinen Mitspielern. Vielleicht hatte er noch nicht gelernt zu improvisieren. Jedenfalls glaubte er, sich selbst etwas vorzuspielen. Und um das zu ändern, war es nötig, einen Schnitt zu machen oder auch mehrere. Die alten Zöpfe abzuschneiden, diese Klischees der Rebellion, diese Schubladen.

Die Gelegenheit war überdies psychologisch günstig, denn seit ein paar Tagen juckten ihn Insektenstiche im Nacken: Wahrscheinlich von Bettwanzen, die in Xela nun den nächsten Fremden piesackten, möglicherweise aber auch von Flöhen, die bei einer dreitägigen Wanderung zum Atitlán-See aufgesprungen sein mochten. Wie auch immer – die Haare mussten ab!

Mit der Schere in der einen, einer Flasche Bier in der anderen Hand fand Zak sich also vorm Spiegel seines Hotelzimmers wieder und betrachtete sein schmales Gesicht: Da war der nicht abzustellende Schlafzimmerblick, mit dem eine Exfreundin ihn immer aufgezogen hatte („Du guckst ständig bekifft, selbst wenn du nüchtern bist.“), eine ziemlich große Nase und darunter ein voller Mund („Neeein, ganz die Mutter!“ – Anm. der Nachbarin).

Er setzte an und … ließ die Schere wieder sinken, betrachtete seinen Kopf von allen Seiten, rauchte eine Zigarette, öffnete ein neues Bier, schob Käseflips in sich hinein und konnte sich zu nichts entschließen. Mit kurzen Haaren, hätte dieses Gesicht doch irgendwie komisch gewirkt, so brav und jung. Die schulterlangen, braunen Dreadlocks verliehen seiner Erscheinung etwas Verwegenes, fand Zak, den würdigen Rahmen. Außerdem waren sie seit fast drei Jahren Teil seiner Identität.

Andererseits nein, er hatte die Dreads nicht mehr nötig, um irgendwas darzustellen, wenn das überhaupt jemals der Fall gewesen sein sollte. (Dessen war er sich nicht sicher – und auch um sich zu vergewissern, wollte er sie abschneiden.) Noch einmal setzte er an und … ach! … es war so feige und trostlos!

Statt den Schnitt zu machen, stieg Zak über seine auf dem Boden ausgebreiteten, mit Insektenpulver bestreuten Klamotten in die Dusche und wusch sich schon zum zweiten Mal am heutigen Tag die Haare mit Anti-Floh-Shampoo. Dann legte er sich, die Entscheidung verschiebend, frisch geduscht und leicht angetrunken ins Bett, obwohl es erst Nachmittag war. Und er nahm ein Buch von Henry Miller zur Hand, das er schon viel zu lange mit sich herumschleppte.

Er mochte Miller: Diese trostlose Aneinanderreihung von Ficks und Fickabenteuern, Einsamkeit und Ekstase, zusammengeleimt von Millers Besessenheit, Schriftsteller zu werden und von seiner unbezwingbaren Heiterkeit. Für gewisse Sätze liebte er Miller: Wir haben die Frage nach der Existenz Gottes noch nicht gelöst – Und ihr wollt essen?

Mit einem Buch, schien es, konnte es ein gegenseitiges Verstehen geben. Das daraus entspringende Gefühl ließ Zak unter die Bettdecke krabbeln und mit den Gliedern zucken und Grimassen ziehen. Als wolle, als müsse er sich verformen. Doch die Haare blieben dran, noch gehörten sie zu ihm.

Vorne an der Leinwand klebte eine Fledermaus und verhielt sich wie ein Loch. Die Sitze waren aus Leder und die Wände mit Maya-Symbolen bemalt – das Kino musste mal ein Theater gewesen sein in besseren Tagen. Den ganzen Film über entfuhren den Bengeln in den hinteren Rängen abwechselnd Rülpser und Gelächter.

Zak hatte sich eingedeckt mit vier Dosen Bier (0,5l), einigen Tüten Nachochips (50gr) und Massen dieser orangenen Käseflips, die ihn daran erinnerten, dass er sich nicht getraut hatte, sich die Haare abzuschneiden. Schon den ganzen Tag über hatte er versucht, sich abzulenken. Zuerst bei einem Fußballspiel, dann, indem er sich auf den Märkten von Cobán herumtrieb ohne die Absicht etwas zu kaufen … Und nun, der Film war einfach schlecht.

Als Zak aus dem Kinosaal auf die Straße trat, war es bereits dunkel und es nieselte leicht. Er fühlte sich der Wirklichkeit auf unangenehme Weise entrückt, die Scheinwerfer der Autos und Motorräder blenden ihn, und die Welt ist ausgeschlossen, als säße er selbst in einem Wagen, hinter einer beregneten, schmierigen Autoscheibe. Der Film hatte Zak an eine Schulkameradin erinnert, die an Krebs gestorben war … Manche Menschen sind wie eine Sternschnuppe, die das Firmament erleuchtet, so dass alles andere hinter ihr verblasst; und selbst wenn ihr Leben kurz ist, hat es mit diesem Blitz doch seinen Sinn gehabt – soweit die Botschaft aus Hollywood. Alles Scheiße!

Verstört und unsicher stolpert er eine viel befahrene Straße entlang. Die Motorengeräusche und die Stimmen der Passanten verziehen sich untrennbar zu einem dumpfen Brüllen: Im Regen mitten auf einer Autobahn stehen, ein Geist, und die Strahlenkegel kreischen mit der Wut einer Horde Büffel durch einen hindurch. Woher nehmen sie die Gewissheit, dass die Straße heil und frei weiterläuft, dass sie nicht abgeschnitten im leeren Raum endet? In Deutschland hat noch alles seine Ordnung. Aber hier? Weggeworfene Kippen verglühen beim Eintritt in die Erdatmosphäre.

Seine Schritte verfehlen manchmal den Bordstein und patschen in die Rinne. Ein Hund überholt ihn rechts. People are strange …when you’re a stranger … ja, das hat Jimmy wohl gemeint. An diese kleine Melodie kann man sich halten.

Dort, in der Kathedrale von Cobán hängt der Kreuzgang Jesu Christi in vierzehn bunten Holztafeln, wie er am Mittag gesehen hat, halbplastisch herausgeschnitzt. Über dem Altar ein goldener Engel. Jupp! Du alter Obermotz der Märtyrer! Sie tun es immer noch. Wärst du nicht stolz, wenn die Menschen das Geschenk deines Leidens von sich wiesen und für ihren Bockmist selber geradestünden?

Auf dem dreieckigen Hauptplatz ein futuristischer Pavillon wie eine fliegende Untertasse. Vor den fahrbaren Holzbuden hängen lange Reihen von Chipstüten, Kästen mit Zigaretten und Kaugummis – Krimskrams, alles Krimskrams! Unbrauchbar und überflüssig! Er hat das alles schon probiert. Einige Grillstände laden ein zum gemütlichen Miteinander. (Fürs leibliche Wohl ist gesorgt, das Tanzbein wird geschwungen.) Und wie überall starren die Leute ihn neugierig an. Alle Gesichter sind offen, geradezu offensiv offen und nur darauf aus, ihn zu mustern, zu durchleuchten, abzuschätzen.

Welch seltsame Gestalt: weißer, jugendlicher Rasta mit himmelblauer, viel zu weiter 70er-Jahre-Trainingshose, Burning-Spear-T-Shirt, irgendwie verirrt, aber hauptsächlich wegen der Dreadlocks. Es ist ihnen nicht zu verdenken. Und eigentlich hat er doch genau das gesucht: offene und interessierte Menschen. So wie Juana, die alte Pachamama in Nebaj, mit deren Familie er drei Tage getafelt und gelacht hatte. Sie war die Wäschefrau in seiner Trucker-Herberge gewesen, ihren Mann hatte der Bürgerkrieg verschlungen. Aber welche Herzlichkeit! So noch gar nicht kommerziell, auch wenn sie natürlich Geld genommen hatte fürs Essen. Das Freundschaftsband um sein Handgelenk ist jedenfalls echt, weil auch er sich echt gefühlt hatte in Nebaj; im Glauben, er sei angekommen.

Das selbstentfremdete Ich betrachtet sich von außen … faces are ugly, when you’re alone … Nicht so viel Interesse! Keine Neugier bitte!

Also schnell ins nächste Kino: Predator II – Lust auf bunte Bilder. Hier werden sie ihm schon die Zeit wegballern. Versprochen ist versprochen.

„Hey Freundchen, erst wird bezahlt!“

Ja natürlich, die Kasse ist am Eingang. Im Vorraum hängen Bilder von der Bundesrepublik Deutschland. In Cobán haben bis zum zweiten Weltkrieg die deutschen Kaffeebarone regiert. Es sind touristische Plakate von der Alm und von Heidelberg und Frankfurt, eigentlich kein Anlass Wert irgendeiner Reaktion – und doch … gerade diese Klischees … Deutsche Sprache, deutsche Gesichter, das verdammt Gewohnte, Gewöhnliche, zum Kotzen Alltägliche – wo seid ihr, meine Freunde? Wo stehe ich, zwischen deutschem Schwanengesang und technischer Kälte? Oh Werther!, geschätzte Schullektüre, du steckst tief in mir, und wenn ich nicht aufgebrochen wäre, hätte ich mir gleichsam eine Kugel durch den Kopf jagen müssen – oder hätte bestenfalls mein Leben gefristet wie ein durchgeknallter Papagei: in einem Käfig immer dieselben Worte stammelnd. Amazonas, Amazonas! Aber ich bin hier, das sag ich dir, um dich zu überwinden … Wie war das? Heimat ist dort, wo alle Rollen definiert sind … ach ja?

Als zur Pause das Licht angeht, fahren alle Köpfe in dem fast leeren Saal zu ihm herum – zwisch, zisch! – in einer einzigen, konzertierten Bewegung. Die Bösewichter des Films tragen alle Dreadlocks (wie Zak) und sind überwiegend damit beschäftigt, ihren Opfern in bester Voodoo-Manier die Herzen bei lebendigem Leibe herauszureißen! Ein kleines Kind zeigt auf ihn und beginnt in Zeitlupe zu weinen.

Zak verlässt das Kino entgegen seiner Gewohnheit noch bevor der Nachspann beginnt.

Das Hotel ist ein Loch. An den Wänden der Gemeinschaftsdusche kleben lange, schwarze Würmer, und aus den Nebenzimmern sickert ein dreckiges, kaum verhaltenes Stöhnen in seinen unruhigen Halbschlaf.

Kurvenwasser

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