Читать книгу Einführung in die linguistische Diskursanalyse - Thomas Niehr - Страница 10
2. Diskurs in anderen Disziplinen 2.1 Diskurs in der Philosophie
ОглавлениеDiskurs bei Habermas
Abgesehen von Verwendungen des Diskursbegriffs in der historischen Philosophie ist er in der zeitgenössischen Diskussion in erster Linie mit dem Namen Jürgen Habermas verbunden. In Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns ist damit eine spezifische Kommunikationsausprägung gemeint, in der es nicht um Informationsaustausch, sondern um die Einlösung von Geltungsansprüchen angeht. Um das zu verstehen, bedarf es eines knappen Einblicks in die Argumentationstheorie, die diesem Konstrukt zugrunde liegt.
Geltungsansprüche
Habermas geht davon aus – und das ist in der Argumentationstheorie Konsens –, dass wir, wenn wir unter normalen Bedingungen kommunizieren (d.h. nicht auf der Bühne eines Theaters, nicht beim Zitieren und auch nicht beim ironischen Sprechen etc.), ständig sogenannte Geltungsansprüche erheben. So beanspruchen wir u.a. die Wahrheit einer Behauptung, wenn wir sie äußern. Dies zeigt sich daran, dass wir eine Äußerung wie Ich bin ein guter Klavierspieler, aber das stimmt nicht als widersprüchlich empfinden. Dieser Widerspruch rührt daher, dass wir mit dem ersten Teil der Äußerung einen Geltungsanspruch auf Wahrheit der Äußerung erheben, der durch den Geltungsanspruch im zweiten Teil der Äußerung gleich wieder aufgehoben wird. Man könnte die erhobenen Geltungsansprüche also wie folgt (überdeutlich) explizieren: Ich behaupte, dass es wahr ist, dass ich ein guter Klavierspieler bin, und ich behaupte, dass es wahr ist, dass dies nicht stimmt.
Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit
Selbstverständlich formulieren wir im Alltag nicht so, da wir Geltungsansprüche (neben der Wahrheit sind hier mindestens noch Wahrhaftigkeit und Richtigkeit zu nennen) meist nur implizit artikulieren. Alle drei Arten von Geltungsansprüchen können jedoch problematisiert und prinzipiell auch argumentativ eingelöst werden. Dies geschieht allerdings üblicherweise erst auf Nachfrage. Wenn also Geltungsansprüche problematisiert werden, sehen wir uns veranlasst, die problematisierten Geltungsansprüche einzulösen. Zumindest gilt dies für diejenige Art der Kommunikation, die wir rational nennen.
Wenn mir etwa auf der Straße jemand empört zuruft: „Stecken Sie gefälligst Ihr Hemd in die Hose!“, kann ich diesen Sprechakt auf drei verschiedene Arten zurückweisen: „Mein Hemd ist doch bereits in der Hose!“ (Wahrheit), „Was maßen Sie sich da eigentlich an? Ich laufe so rum, wie es mir gefällt!“ (Richtigkeit), oder „Tun Sie doch nicht so empört! Sie wollen sich ja nur aufspielen!“ (Wahrhaftigkeit).
(Iser/Strecker 2010: 72)
Argumentation
Das kommunikative Verfahren, problematisierte Geltungsansprüche zu kritisieren oder einzulösen, nennt man üblicherweise Argumentation (vgl. Habermas 1981: 38). Deshalb lässt sich Argumentation auch als Verfahren charakterisieren, „Geltungsansprüche im Fall ihrer Problematisierung durch Rede und Gegenrede bzw. durch Nachfragen und Angeben von Gründen erfolgreich zu behaupten“ (Kopperschmidt 2005: 75).
Argumentation ist keineswegs die einzige Art, problematisierte Geltungsansprüche zu bearbeiten. Denkbar sind auch nicht-rationale Verfahren, die beispielsweise aufgrund kommunikativer (und anderer) Gewalt eine Argumentation unterbinden. Dies ist eine übliche Praxis in nicht-demokratisch organisierten Staaten. Dort ist es an der Tagesordnung, bereits die Problematisierung von Geltungsansprüchen durch Zensur und Androhung von Gewalt zu verhindern. Werden Geltungsansprüche hingegen öffentlich problematisiert, wird dies – wie wir den Medien beinahe täglich entnehmen können – häufig zum Anlass genommen, durch strafrechtliche Maßnahmen eine Argumentation bereits im Keim zu ersticken.
Geltungsansprüche und Argumente
Lassen sich die Kommunikationsteilnehmer jedoch auf ein argumentatives Verfahren ein, dann erkennen sie damit implizit bestimmte Standards an. So müssen sie grundsätzlich bereit sein, ihre Geltungsansprüche mit Argumenten einzulösen, ebenfalls verpflichten sie sich darauf, sich von den (rationalen) Argumenten der Gegenseite gegebenenfalls überzeugen zu lassen.
Mit jedem Sprechakt, so der Kern der diskurstheoretischen Begründungsidee, unterstellen wir sehr anspruchsvolle Bedingungen, unter denen die Argumentationsteilnehmer eine allgemein zustimmungsfähige Lösung ermitteln können. In diesem Sinne sollen die Ideale der Herrschaftsfreiheit sowie der Einbeziehung aller bei jeder Sprechverwendung notwendigerweise unterstellt sein.
(Iser/Strecker 2010: 74)
Ist die Bereitschaft nicht vorhanden, diese Bedingungen zu erfüllen, dann ist eine Argumentation von vornherein zum Scheitern verurteilt: „Argumentieren impliziert die Anerkennung aller argumentativ legitimierbaren Geltungsansprüche sowie die Selbstverpflichtung zur Legitimation der eigenen Geltungsansprüche (Kopperschmidt 2005: 150).
Habermas’ Diskurstheorie
An diesem Punkt setzt Habermas’ Diskurstheorie an. Habermas geht davon aus, dass wir die Kommunikation unterbrechen müssen, um in einem Diskurs problematisierte Geltungsansprüche metakommunikativ zu klären. Erst nachdem dies geschehen ist, kann die Kommunikation weitergeführt werden. Dies kann man sich anhand eines Beispiels von Kopperschmidt (2005: 46) vergegenwärtigen:
A: Erwin will schon morgen vorbeikommen!
B: Tatsächlich? Der hat doch in München zu tun!
A: Doch! Er hat eben angerufen.
B: Und?
A: Ist schneller fertig als erwartet.
B: Na gut.
B: Dann müssen wir eben umdisponieren.
Einlösen von Geltungsansprüchen mittels Argumentation
In den eingerückten Passagen wird zunächst der Geltungsanspruch auf Wahrheit der Äußerung von A durch die erste Äußerung von B infrage gestellt. Durch seine Argumente kann A den von B problematisierten Geltungsanspruch einlösen und plausible Argumente für die Wahrheit seiner Behauptung anführen. Nach dieser metasprachlichen Unterbrechung wird die Kommunikation von B fortgesetzt, indem er vorschlägt umzudisponieren.
Rationalität des Verfahrens
Habermas‘ Diskurstheorie bezieht sich auf eben jenes Verfahren der Problematisierung und Einlösung von Geltungsansprüchen. Er stellt Überlegungen dazu an, wie dieses Verfahren möglichst rational gestaltet werden kann, und kommt zu dem Ergebnis, dass hierzu bestimmte Bedingungen förderlich sind. Diese Bedingungen, die man auch als „Geschäftsordnung der Moralbegründung“ (Meyer 2000: 88) bezeichnen könnte, werden von ihm mit dem Terminus der idealen Sprechsituation zusammengefasst, in der die am Diskurs Beteiligten
– einen problematisch gewordenen Geltungsanspruch thematisieren und,
– von Handlungs- und Erfahrungsdruck entlastet, in hypothetischer Einstellung
– mit Gründen und nur mit Gründen prüfen, ob der vom Proponenten verteidigte Anspruch zu Recht besteht oder nicht
(Habermas 1981:48).
Ideale Sprechsituation
In einer solch idealen Sprechsituation, die Habermas selbst als „kontrafaktisch“ (Habermas 1971: 122) bezeichnet, sind „alle Motive außer dem einer kooperativen Verständigungsbereitschaft außer Kraft gesetzt“ (ebd.: 117), es herrscht – so Habermas‘ berühmte Formulierung – „ausschließlich der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Argumentes, der die methodische Überprüfung von Behauptungen sachverständig zum Zuge kommen läßt und die Entscheidung praktischer Fragen rational motivieren kann“ (ebd.: 137).
Anspruch auf Richtigkeit und Wahrhaftigkeit
Allerdings beschränkt sich die mögliche Problematisierung von Geltungsansprüchen nicht auf die Wahrheit von Äußerungen. Es können ebenso die Richtigkeit und die Wahrhaftigkeit von Äußerungen zur Sprache kommen. Zur argumentativen Einlösung dieser Geltungsansprüche bedienen wir uns unterschiedlicher argumentativer Verfahren. In Bezug auf die Wahrheit einer Äußerung reicht eine diskursive Verständigung aller Diskursteilnehmer nämlich nicht aus:
Die Wahrheit eines Sachverhalts bleibt letztlich unabhängig vom Konsens der Diskursteilnehmer. Auch die am besten begründete Meinung kann sich als falsch erweisen. […] Man kann noch so überzeugende Argumente dafür haben, dass ein Baum mithilfe einer bestimmten Axt gefällt werden kann – wenn er nicht stürzt, muss man diese Überzeugung revidieren. Dabei geben solche Fehlschläge erneut keinen direkten Blick auf ‚die‘ Welt frei, wie sie ‚eigentlich ist‘. Sie nötigen uns lediglich zu neuen Aussagen, Hypothesen oder Theorien über die Welt, die wir – gestützt durch Argumente – in unser Handeln bzw. in den Diskurs einspeisen können.
(Iser/Strecker 2010: 75)
Richtigkeit von Handlungsnormen
Geht es dagegen um die Richtigkeit von Handlungsnormen, so ist der Diskurs laut Habermas ein geeignetes Verfahren, um festzustellen, welche Normen auf Zustimmung aller Diskursteilnehmer stoßen. In einem solchen Diskurs geht es um eine dialogische Auseinandersetzung, in der die Perspektiven aller Betroffenen ausreichend berücksichtigt werden (vgl. ebd.: 76). Wahrhaftigkeitsfragen jedoch entziehen sich einer diskursiven Klärung:
Ob eine Person meint, was sie äußert, und ob sie ihre Bedürfnisse authentisch darstellt, lässt sich zwar diskutieren, erweist sich letztlich aber nur daran, dass sie in Übereinstimmung mit ihren Äußerungen handelt.
(Iser/Strecker 2010: 75)
Apels Diskursethik
In enger Verbindung zu Habermas‘ Diskurstheorie steht Karl-Otto Apels Diskursethik. Sie beschäftigt sich mit dem Problem einer Letztbegründung moralischer Normen und bestätigt in diesem Zusammenhang die zentrale Rolle von Argumentationen. Als Bedingung der Möglichkeit von Argumentation sieht Apel das „Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“. Dies besagt, dass Argumentation nie voraussetzungslos erfolgen kann, sondern dass der Argumentierende immer schon mindestens zwei Dinge voraussetzen muss:
Erstens eine reale Kommunikationsgemeinschaft, deren Mitglied er selbst durch einen Sozialisationsprozess geworden ist, und zweitens eine ideale Kommunikationsgemeinschaft, die prinzipiell imstande sein würde, den Sinn seiner Argumente adäquat zu verstehen und ihre Wahrheit definitiv zu beurteilen. Das Merkwürdige und Dialektische der Situation liegt aber darin, daß er gewissermaßen die ideale Gemeinschaft in der realen, nämlich als reale Möglichkeit der realen Gesellschaft voraussetzt, obgleich er weiß, daß (in den meisten Fällen) die reale Gemeinschaft einschließlich seiner selbst weit davon entfernt ist, der idealen Kommunikationsgemeinschaft zu gleichen.
(Apel 1999:429; Hervorhebungen im Original)
Diskursethik und ideale Sprechsituation
Deutlich kommt in diesem Zitat die Nähe zu Habermas‘ Konstruktion einer idealen Sprechsituation zum Ausdruck. Für Apel ist die Kommunikationsgemeinschaft eine unabdingbare Voraussetzung für rationales moralisches Handeln. Die von Apel geforderte Diskursethik läuft mithin darauf hinaus, dass die Kommunikationsgemeinschaft über die von ihren Teilnehmern erhobenen Ansprüche zu befinden hat. Wer sich einmal auf das rationale Verfahren der Anspruchsprüfung durch Argumentation eingelassen hat, der hat damit – ähnlich wie bei Habermas – schon bestimmte Verpflichtungen akzeptiert:
Wer argumentiert, der anerkennt implizit alle möglichen Ansprüche aller Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft, die durch vernünftige Argumente gerechtfertigt werden können (sonst würde der Anspruch der Argumentation sich selbst thematisch beschränken), und er verpflichtet sich zugleich, alle eigenen Ansprüche an Andere durch Argumente zu rechtfertigen.
(Apel 1999: 424f.)
Einwände gegen Apel und Habermas
Dass dies freilich in der Realität keineswegs immer so gehandhabt wird, wissen Habermas wie auch Apel (vgl. Meyer 2000: 89f.). Einwände, die gegen die Theorien Apels und Habermas‘ vorgebracht worden sind, können hier nicht weiter verfolgt werden (vgl. dazu einführend Reese-Schäfer 1990: 56ff., 74ff., 95ff., Scheit 2000 und Iser/Strecker 2010: 177ff.).
Diskursethik als regulative Idee
Die von Habermas (und Apel) entworfene Utopie – merkt der Soziologe Reiner Keller an – „formuliert ein sozial- und sprachphilosophisch begründetes normatives Modell, aber kein Forschungsprogramm“ (Keller 2011b: 18).
Dieses Modell ist jedoch insofern für die linguistische Diskursanalyse von Bedeutung, als es von einigen Diskursanalytikern als Maßstab bzw. regulative Idee verwendet wird, an der reale Diskurse gemessen werden (vgl. dazu Keller 2011a).