Читать книгу Einführung in die linguistische Diskursanalyse - Thomas Niehr - Страница 12
2.3 Diskurs in der Soziologie
ОглавлениеEntwicklung seit den 1990er Jahren
Auch in der Soziologie hat der Diskursbegriff spätestens seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts Konjunktur. Allerdings wurden diskursanalytische Methoden zumindest in der deutschsprachigen Soziologie (ähnlich wie in der deutschsprachigen Linguistik) zunächst mit Skepsis aufgenommen (vgl. Keller 2011a: 122). Inzwischen kann man jedoch – hier sind in erster Linie die Bemühungen einer Augsburger Forschergruppe um den Soziologen Reiner Keller zu erwähnen – von einer starken diskursanalytisch orientierten Bewegung sprechen, die im Anschluss an die Arbeiten Michel Foucaults wissenssoziologische Diskursanalysen zu ihrem Programm gemacht haben. Derartige Analysen, die hier nicht im Detail vorgestellt werden können, bauen auf der bahnbrechenden Arbeit von Berger/Luckmann (1969/2012) zur gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit auf. In dieser Arbeit hatten Berger und Luckmann zu zeigen versucht, dass Wirklichkeit und Wissen in einem permanenten Prozess gesellschaftlich konstruiert werden. Wirklichkeit wird durch Bedeutungszuschreibungen erst konstruiert und ist nach Berger/Luckmann nicht vorgängig „an sich“ vorhanden:
Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, daß die Gegenständlichkeit der institutionalen Welt, so dicht sie sich auch dem Einzelnen darstellen mag, von Menschen gemachte, konstruierte Objektivität ist. […] Mit anderen Worten: trotz ihrer Gegenständlichkeit für unsere Erfahrung gewinnt die gesellschaftliche Welt dadurch keinen ontologischen Status, der von jenem menschlichen Tun, aus dem sie hervorgegangen ist, unabhängig wäre.
(Berger/Luckmann 1969/2012:64f.)
Gesellschaftliche Konstruktion von Wissen
Diesen Grundgedanken der Theorie Bergers und Luckmanns fasst Keller (2011a: 42) anschaulich mit der Formulierung zusammen, dass es „kein begreifbares ‚an sich‘ der Welt jenseits der Bedeutungszuschreibungen [gebe], auch wenn ihre materiale Qualität uns durchaus Widerstände entgegensetzt, Deutungsprobleme bereitet und nicht jede beliebige Beschreibung gleich evident erscheinen lässt. Unser Deutungs- und Handlungswissen über die Welt ist Teil gesellschaftlich hergestellter, mehr oder weniger konflikthafter, im Fluss befindlicher symbolischer Ordnungen bzw. Wissensvorräte“.
Kollektive Wissensvorräte
Die neueren soziologischen Diskurstheorien beziehen diese Perspektive Bergers und Luckmanns ein, um sie gleichzeitig zu erweitern. Insbesondere in empirischen Studien, die sich auf die Theorie von Berger und Luckmann berufen, stehen die „alltäglichen Verstehensleistungen und Sinnbezüge“ im Vordergrund, während kollektive Wissensvorräte kaum berücksichtigt werden (vgl. ebd.: 181). Inwieweit dieses Verständnis bei Berger/Luckmann bereits angelegt ist, muss hier nicht weiter diskutiert werden. Entscheidend für die neueren wissenssoziologischen Herangehensweisen ist nun allerdings, dass auch und gerade kollektive Wissensvorräte in den Blick genommen werden:
Die Wissenssoziologische Diskursanalyse beschäftigt sich mit Prozessen und Praktiken der Produktion und Zirkulation von Wissen auf der Ebene der institutionellen Felder der Gegenwartsgesellschaften. Ihr Forschungsgegenstand ist – mit anderen Worten – die Produktion und Transformation gesellschaftlicher Wissensverhältnisse durch Wissenspolitiken, d.h. diskursiv strukturierte Bestrebungen sozialer Akteure, die Legitimität und Anerkennung ihrer Weltdeutungen als Faktizität durchzusetzen.
(Keller 2011a: 193)
Diskurs in der Wissenssoziologie
Eben diese Bestrebungen lassen sich in Diskursen verorten. Zu klären bleibt demnach, wie im wissenssoziologischen Paradigma Diskurs zu verstehen ist. Unter Diskurs wird hier eine kommunikative Praxis verstanden, in der Wirklichkeit konstituiert wird. Ähnlich wie in der diskursanalytisch geprägten Geschichtswissenschaft geht man also in der diskursanalytisch orientierten Soziologie davon aus, dass es keine sprachunabhängige Wirklichkeit gibt. Vielmehr wird diese in Diskursen konstituiert, von Akteuren ausgehandelt. Insofern kann man Diskurs mit Keller (2011a: 235) definieren als „Komplex von Aussageereignissen und darin eingelassenen Praktiken, die über einen rekonstruierbaren Strukturzusammenhang miteinander verbunden sind und spezifische Wissensordnungen der Realität prozessieren“. Mit dieser Definition gerät etwas in den Blick, das bisher nicht thematisiert wurde: Akteure und ihre Macht nämlich, ihren Aussagen und ihrer spezifischen Konstitution von Wirklichkeit Gehör zu verschaffen:
Diskurse bilden ‚Welt‘ nicht ab, sondern konstituieren Realität in spezifischer Weise. Die gesellschaftlichen Akteure, die als Sprecher in Diskursen in Erscheinung treten, die jeweiligen Sprecherpositionen besetzen und mitunter ex- oder implizite Diskurskoalitionen bilden, verfügen über unterschiedliche und ungleich verteilte Ressourcen der Artikulation und Resonanzerzeugung.
(Keller 2011b: 67; Hervorhebungen im Original)
Strukturierende Wirkung von Diskursen
Diskurse sorgen somit für eine „einschränkende und ermöglichende Strukturierung von Aussageproduktionen, denen Teilnehmer/innen unterworfen sind“ (Keller 2013: 42). In diesem Sinne ist Foucaults Diktum zu verstehen, dass der Diskurs nicht lediglich ein System sei, „was die Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache überträgt“. Vielmehr sei er „dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, derer man sich zu bemächtigen sucht“ (Foucault 1974/2003: 11).
Es geht bei der soziologischen Diskuranalyse also auch darum, was überhaupt von wem mit dem Anspruch auf allgemeine Anerkennung gesagt werden darf. Dies kann jeweils nur empirisch erforscht werden. Als ein Beispiel für einen Wandel von diskursiven Machtverhältnissen solcher Art führt Keller (2011a: 238) die Ablösung eines religiösen Weltbildes durch eine wissenschaftlich fundierte Analyse von Naturphänomenen an: Das Erste hat im Laufe der letzten Jahrhunderte zugunsten des Zweiten erheblich an diskursiver Macht verloren. Dies äußert sich v.a. darin, dass religiös motivierte Wirklichkeitskonstitutionen heutzutage sehr viel weniger Anerkennung genießen als beispielsweise im Mittelalter. Diskursive Positionen, die für sich erfolgreich „Wissenschaftlichkeit“ reklamieren können, genießen dagegen in unserer Zeit hohes Ansehen. Davon unberührt bleibt freilich, dass auch die Prinzipien von Wissenschaftlichkeit einem diskursiven Wandel unterliegen.