Читать книгу Einführung in die linguistische Diskursanalyse - Thomas Niehr - Страница 9
1.4 Kurze Geschichte des Diskursbegriffs
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Die Geschichte des Diskursbegriffs kann inzwischen als recht gut erforscht gelten (vgl. Keller 2011a: 99ff., Kohlhaas 2000, Schalk 1997/1998) und soll deshalb hier nicht in allen Details nachgezeichnet werden. Das Wort stammt von lat. discursus (‚Erörterung‘, ‚Mitteilung‘) bzw. discurrere (‚auseinanderlaufen‘, ‚mitteilen‘, ‚erörtern‘). „‚Discursus‘ ist bereits im Altlateinischen ein Allerweltswort“ (Schalk 1997/1998: 61). Eine Bedeutung im Sinne von ‚Rede‘ oder ‚Gespräch‘ findet sich jedoch im Altlateinischen noch nicht. Vielmehr lässt sich der Ausdruck in zahlreichen Kontexten verwenden, ohne dass sich ein klarer Bedeutungsumfang abzeichnet (vgl. ebd.). Dies ändert sich im 13. Jahrhundert, als discursus zum philosophischen Terminus wird, der sich auf das menschliche bzw. wissenschaftliche Wissen bezieht (vgl. ebd.: 64). Diskursiv steht in der Spätantike im Gegensatz zu intuitiv und lässt sich im Wesentlichen negativ bestimmen: Während die göttliche Intelligenz intuitiv, d.h. durch reine Evidenz erkennend ist, bedarf das menschliche Denken zur Erkenntnis eines schlussfolgernden Modus: „Der ‚diskurrierende‘ Verstand durchläuft, analysierend und folgernd logische Figuren. Er bewegt sich also immer über Etappen, die einen jenseitigen Horizont haben.“ (Kohlhaas 2000: 38)
Diskurs vs. Traktat
Eine interessante Entwicklung macht der Diskursbegriff in der italienischen Renaissance durch. Er wird nun in Bezug auf geschriebene wie auch gesprochene Sprache verwendet (vgl. Schalk 1997/1998: 81f.). In diesem Zusammenhang wird Diskurs zunehmend vom Traktat abgegrenzt. Diese Abgrenzung bezieht sich insbesondere auf die Form der Darstellung: Ungesichertes Wissen, das in Texten verbreitet werden soll, bedarf einer reflexivargumentativen Darstellungsform und kann nicht allein logisch deduktiv hergeleitet werden:
Im Unterschied zum Traktat integriert die Argumentationsstruktur des Diskurses sowohl die kommunikative Dimension als auch die Dimension Zeit. Er setzt, zugespitzt formuliert, nicht auf logische Ableitung, sondern appelliert, argumentierend, an den Adressaten, auch seine Zustimmung oder Kritik argumentierend abzuwägen. Er impliziert die dialogische Modellierung und Erweiterbarkeit seines Gegenstandes, und er rechnet mit der Revidierbarkeit der eigenen Darstellungsweise.
(Kohlhaas 2000:44)
Machiavelli vs. Galilei
Als Beispiele für diese Tradition führt Kohlhaas (ebd.: 44ff.) die berühmten Schriften von Machiavelli und Galilei an, die als Muster für wissenschaftlich-dialogische Abhandlungen stehen können, in denen unterschiedliche argumentative Positionen gegeneinander abgewogen werden. Machiavellis 1533 postum veröffentlichte Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio sind eine „offene Erörterung“ (ebd.: 46), für die die überkommene Darstellungsform der theologischen Traktate wenig geeignet erschien. Mit dieser Darstellungsform einher geht eine Abschwächung des Geltungsanspruchs der jeweiligen Argumentation:
Wo die Erfahrung ihre Befunde erst aufarbeiten muß, um verläßliche Orientierungspunkte zu setzen, kann der Autor nicht jene Gewißheit beanspruchen wie im herkömmlichen Herrschaftstraktat. Seine noch explorativen Folgerungen werben anders um Zustimmung als die Deduktionen desjenigen, der im gesicherten Raum der auctoritas argumentiert. Immerhin greift Machiavelli in einer Situation zu der titulären und/oder generischen Bezeichnung „discorso“ bzw. dem Verb „discorrere“, wo es gilt, die performativen Ansprüche der Argumentation aus taktischen Erwägungen abzuschwächen, nämlich gegenüber einem Adressaten, der rasch die politische Seite wechseln oder dem Schreibenden sein Wohlwollen entziehen kann.
(Kohlhaas 2000:47f.)
Galileis Diskursbegriff
Eine ähnlich strategisch motivierte Verwendung des Diskursbegriffs lässt sich auch in Galileis Dialogo dei massimi sistemi finden: Ihr liegt die von der Inquisition gemachte Auflage zugrunde, das von Galilei vertretene kopernikanische System nicht als Gewissheit, sondern lediglich als Hypothese zu behandeln (vgl. ebd.: 48).
Diskurs im 16./17. Jhd.
Im 16./17. Jahrhundert wird die adressatenorientierte Form des Diskurses, der discours, auch in Frankreich populär. Descartes‘ Discours de la méthode aus dem Jahre 1637 ist dafür ein berühmtes Beispiel. Auch hier ist die Gattungsbezeichnung (discours statt traité) dem argumentativen Verfahren geschuldet: „Gegen den Objektivismus des Traktats bringt die cartesianische Diskursvariante die Subjektivität als Begründungsinstanz der Vernunft ins Spiel.“ (Ebd.: 51)
Diskurs im 18. Jhd.
Im 18. Jahrhundert finden sich dann sowohl traktathafte wie auch diskursive Abhandlungen. Beide Formen lassen sich beispielsweise im Werk Georg Christoph Lichtenbergs ausmachen, der naturwissenschaftliche Fragen eher diskursiv, Fragen der Kunst, Psychologie und Anthropologie eher traktathaft bearbeitet (vgl. ebd.: 52).
Diskurs im 19. Jhd.
Eine neue Entwicklung ergibt sich im 19. Jahrhundert. Mit dem Aufschwung und der Hochachtung der exakten Naturwissenschaften einher geht das Ideal einer eher formalen Argumentation zum Zwecke analytischer Transparenz. Diskursive Darstellungsweisen verlieren demgegenüber in den Wissenschaften zunächst an Bedeutung (vgl. ebd.: 52f.).
Diskurs im 20. Jhd.
Entscheidend für den Diskursbegriff im 20. Jahrhundert ist eine Bedeutungserweiterung: Meist wird die soziale Dimension von Sprache akzentuiert. Dieses erweiterte Begriffsverständnis lässt sich bereits bei Peirce und Mead nachweisen, und zwar in einer Weise, die dem heutigen Begriffsverständnis sehr nahe kommt (vgl. Schalk 1997/1998: 92f.).
Der Diskursbegriff bezeichnet hier nicht mehr (nur) eine kommunikative Form oder Gattung, sondern die Verknüpfung von einzelnem Sprachereignis und den (sprachlich-sozialen) Kontexten der Bedeutungszuweisung, wie sie für die Semiotik und den (Post-)Strukturalismus später in je spezifischer Weise zentral werden.
(Keller 2011a: 101)
Die neue Popularität des Diskursbegriffs
Seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts gewinnt Diskurs dann neue Popularität. Insbesondere im französischen Poststrukturalismus wird der Begriff von Denkern wie Foucault prominent verwendet. Mit dieser Renaissance des Begriffs einher geht die Betonung sprachlich-kommunikativer Elemente, die (im Gegensatz zu strukturalistischen Ansätzen) stets auch die Akteure und ihre Handlungen in den Blick zu nehmen versucht (vgl. ebd.: 106ff.). In Deutschland gewinnt der Begriff durch die Theorien von Apel und Habermas (s. Kapitel 2.1) an Bedeutung. Zunächst führt dies allerdings zu großer Skepsis und sogar Ablehnung dem Diskursbegriff gegenüber: Er wird als poststrukturalistisch und damit irrational abgelehnt:
Kennzeichnend für die Umstrittenheit dieser wissenschaftlichen Strömung ist etwa der Titel eines einflußreichen Diskussionsbandes, nämlich „Der neue Irrationalismus“, unter den von Glucksmann über Levy bis zu Foucault alles subsumiert wurde, was der „neuen französischen Philosophie“ zugerechnet wurde. Man kann daher sagen: Der Diskurs über die Diskursanalyse bei denjenigen, die sie nicht betreiben, ist in Deutschland z.T. heute noch wesentlich geprägt durch den Diskurs über den Irrationalismus.
(Busse/Teubert 1994:10)
Diskurs heute
Zwar hat sich seit 1994, als Busse und Teubert diese Bestandsaufnahme verfassten, einiges in der Einschätzung des Diskursbegriffs verändert. Die Situation ist heute insofern eine andere, als Diskurs inzwischen als modisches Label für vielerlei verwendet wird und Diskurse – folgt man dem Sprachgebrauch der Massenmedien – z.B. „im Internet und im Olympischen Dorf“ (Brunner 2000: 141) stattfinden. Dies und die Verwendung des Ausdrucks Diskurs in unterschiedlichen wissenschaftlichen Paradigmen führt allerdings zu einer „begriffliche[n] Disparität“ (Kohlhaas 2000: 36), die es häufig geboten erscheinen lässt, die jeweilige Verwendung durch eine definitorische Annäherung zu explizieren, denn: „Der Kontext entscheidet über die Begriffsbedeutung.“ (Schalk 1997/1998: 104)
1 Die Verwendung geschlechtsneutraler Formulierungen (Studierende) dient dem (berechtigten) Interesse an einem geschlechtergerechten Sprachgebrauch. Um den vorliegenden Text lesbar zu halten, wurde jedoch auf Doppelformen (Leserinnen und Leser) verzichtet und gegebenenfalls auf das generische Maskulinum zurückgegriffen.