Читать книгу Einführung in die linguistische Diskursanalyse - Thomas Niehr - Страница 6
1. Einleitung 1.1 Erste Annäherung an den Diskursbegriff
ОглавлениеDiskursbegriff
Den meisten, wenn nicht allen Lesern1 dieser Einführung wird der Begriff Diskurs schon häufiger begegnet sein. Würden sie jedoch gebeten, eine kurze Definition dieses Begriffs zu geben, dann sähen sie sich vermutlich außer Stande, dieser Bitte nachzukommen. Dies ist einerseits der Vagheit abstrakter Begriffe wie Diskurs, Kommunikation oder Wissen geschuldet. Andererseits scheint sich insbesondere der Diskursbegriff einer näheren Bestimmung entziehen zu wollen. Unabhängig davon – und das trägt ebenfalls zur Begriffsverwirrung bei – wird Diskurs in unterschiedlichen Disziplinen mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet. Und selbst innerhalb der Disziplinen kann man nicht von einem einheitlichen Begriffsverständnis ausgehen. Dies gilt beispielsweise für die Soziologie wie auch für die Linguistik.
Plastikwörter
Schließlich wird die Situation dadurch verkompliziert, dass es als chic gilt, ursprünglich wissenschaftliche Termini auch alltagssprachlich zu verwenden. Für die solchermaßen in die Umgangssprache diffundierenden Vokabeln hat dies mitunter Konsequenzen: Sie werden – so ist sprachkritisch eingewendet worden – zu „Plastikwörtern“ (Pörksen 1988), die austauschbar und in verschiedene Sachbereiche übertragbar sind, ohne dass die Sprecher über eine Definition verfügten:
Es gibt keinen Bereich, in dem nicht ‚Beziehungen‘ und ‚Probleme‘ gesehen, ‚Strategien‘ entwickelt und ‚Lösungen‘ gefunden werden. Überall begegnen wir ‚Systemen‘ und ‚Partnern‘, finden wir ‚Kommunikation‘ und den Austausch von ‚Information‘, überall spielen sich ‚Prozesse‘ ab, sind ‚Entwicklungen‘ zu beobachten, wird der ‚Fortschritt‘ propagiert.
(Schiewe 1998: 274f.)
Diskurs als Modewort
Möglicherweise muss Pörksens Liste von Plastikwörtern (Pörksen 1988: 41) nicht nur durch die Ausdrücke Globalisierung, Flexibilität und Virtualität (vgl. Schiewe 1998: 274) ergänzt werden, sondern inzwischen auch durch Diskurs bzw. diskursiv. So bemerkt schon Schöttler vor mehr als 15 Jahren, dass auch Diskurs zu einem Allerweltswort geworden ist:
Kein Oberseminar mehr ohne Diskurs. Aber auch: kein Feuilleton mehr ohne Diskurs, keine Volkshochschule, keine Talk-Runde, kein Juso-Ortsverein. Das mag eine vorübergehende Modeerscheinung sein, aber auch Moden haben ihren symptomatischen Wert und bedürfen einer entsprechenden Interpretation. Das heißt: Man muß sich fragen, was diese neue Vokabel im wissenschaftlichen und politischen Alltagsgebrauch zu bedeuten hat. Wofür steht sie? Welche anderen Wörter wurden dadurch verdrängt?
(Schöttler 1997: 134f.)
Diskurs in der Wissenschaft
Wenn Diskurs aber inzwischen zu einem Modewort geworden ist, ist der Ausdruck dann nicht möglicherweise als wissenschaftlich präziser Begriff disqualifiziert (vgl. Schöttler 1989: 102f.), fungiert er dann „nur noch als Imponiervokabel, als Metapher, als leere Hülse“ (Schöttler 1997: 142), ist er möglicherweise lediglich ein „Platzhalter für Unklarheiten“ (Brunner 2000: 142)? Ist der Diskursbegriff unter diesen Umständen nicht sogar schädlich oder mindestens entbehrlich? So weit möchte die vorliegende Einführung nicht gehen. Vielmehr lässt sich ja zu Recht fragen, ob die zunehmende Verwendung des Ausdrucks Diskurs nicht ein berechtigtes Bedürfnis erfüllt, „insofern er (methodologisch) Orientierungsmöglichkeiten in einem Feld skizziert, in dem es um die Gewinnung und Gewichtung von Erkenntnis, Erfahrung und (praktischer) Orientierung geht unter der Voraussetzung, daß derartige kognitive und orientierende Leistungen nicht mehr selbstverständlich als theologisch oder ontologisch vorgegeben gedacht werden“ (Kohlhaas 2000: 30). Abgesehen davon und ohne hier in ein kulturkritisches Lamento über die „Entwertung“ von Begriffen oder ihre „Sinnentleerung“ zu verfallen, lässt sich allerdings feststellen, dass die beschriebene Entwicklung der vermehrten Verwendung des Ausdrucks Diskurs insofern problematisch ist, als sie insbesondere bei denjenigen Ratlosigkeit hervorrufen kann, die sich intensiver mit diskursanalytischen Fragen beschäftigen möchten und sich noch im Stadium einer ersten Annäherung befinden. Die hier vorliegende Einführung will die skizzierte Entwicklung des Diskursbegriffs nicht bewerten. Sie sieht ihre Aufgabe eher darin, eine erste Orientierung für diejenigen zu bieten, die bislang nicht die Gelegenheit gefunden haben, sich näher mit der Theorie oder den forschungspraktischen Herausforderungen von Diskursanalysen auseinanderzusetzen.