Читать книгу Das große Geheimnis - Thomas Pfanner - Страница 6
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Der Abend ließ die Luft nicht so stark abkühlen, dass ein Feuer wirklich notwendig gewesen wäre. Die Jugendlichen hatten jedoch darauf bestanden. Ihrer Meinung nach gehörte zu einem Wandertag das abschließende Feuer. Nun saßen oder standen alle um die Flammen herum, machten Witze und tranken die alkoholfreie Bowle, die von der Schulleitung spendiert worden war. Etwas abseits kümmerten sich die Erzieher mit einem Schwenkgrill über einem zweiten Feuer um den Nachschub. Die Internatsleiterin schaufelte halb angebrannte Würstchen auf Pappteller, trieb Frau Heyner, ihre ältliche Stellvertreterin, dazu an, diese Teller an die Jugendlichen zu verteilen, warf neue Würstchen auf den Grill und spähte trotz aller Geschäftigkeit ständig zu dem einzigen männlichen Erzieher hinüber. Schließlich war fürs Erste alles getan, sie umrundete das Lagerfeuer und gesellte sich zu ihm.
»Nun, Herr Burg, was beobachten Sie da so ausdauernd?«
Der Angesprochene wandte seinen Blick von dem anderen Feuer ab und sah sie an: »Ich kann nicht genug bekommen. Die Art und Weise, wie diese Pubertierenden sich umschleichen, ist einfach sehenswert. Schauen Sie doch, die Jungs auf der einen Seite, die Mädchen auf der anderen Seite. Sie belauern sich, machen sich Mut mit Scherzen, spähen am Feuer vorbei auf der Suche nach einem Wesen, das den Blick aufnimmt. Das ist einfach faszinierend.«
Eusterholz lächelte nachsichtig. An und für sich war dieser Burg ein netter Kerl, freundlich und intelligent, durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Auch die Schüler fanden ihn nett, andererseits fürchteten sie ihn, weil er jeden Streich, jeden Unfug mit unglaublicher Zielsicherheit zum Urheber zurückverfolgen konnte. Mister Allwissend nannten sie ihn, ein wesentlich schmeichelhafterer Spitzname als der ihr zugedachte Kampfhund. Und doch schien er eine Macke zu haben. Für ihren Geschmack verhielt er sich einfach zu ruhig, zu abgeklärt. Nicht so wie ein Lehrer, eher wie ein Elitesoldat, der ständig überall seine Augen hatte und seine Umgebung auf mögliche Angreifer analysierte.
»Herr Burg, leider sind Sie aber kein Zuschauer bei einem Spektakel, das seine Sieger und Verlierer quasi selbständig ermittelt. Sie sind der Boss, Sie bestimmen die Regeln und Sie sind für alles verantwortlich. Dem müssen Sie sich stellen.«
Der Gescholtene zeigte einen schwachen Ansatz von Lächeln.
»Das weiß ich und dem stelle ich mich auch. Trotzdem erlaube ich mir, öfters einmal die Kids zu studieren. Außer Freude bringt das nebenbei auch neue Erkenntnisse. Die möchte ich nicht missen.«
»So? Neue Erkenntnisse? Na, dann lassen Sie mich doch einmal daran teilhaben. Vielleicht habe ich Sie falsch eingeschätzt.«
Burg sah sie an, wie ein Vater sein Kind ansieht, wenn es gerade die neueste Theorie über das Kinderkriegen erzählt. Eusterholz bemerkte es, doch der Ausdruck in seinen Augen verschwand so rasch, dass sie annahm, sich geirrt zu haben.
»Nun ja, da wäre zum einen dieser Junge dort, Sägebrecht.«
»Oh ja, ein toller Name. Trotzdem entwickelt er sich prächtig.«
»Äußerlich, ja. Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass er so eine Art Bandenchef ist?«
»So würde ich es nicht ausdrücken, Herr Burg. Er verfügt über eine ganze Reihe Freunde, die ihn respektieren. Sicher ist nur, dass er das große Wort führt.«
Burg schenkte ihr ein nachsichtiges Schmunzeln. »Ich fürchte, das ist nur die halbe Wahrheit. Normalerweise wird jemand, der so einen Namen trägt und dann noch so aussieht wie er, höchstens ein aufmüpfiger Außenseiter, mit dem keiner spricht. Sehen sie doch genau hin: ein klapperdürrer Albino, der mehr Pickel hat, als in sein Gesicht passen, dazu diese helle nasale Stimme. Aber die Jungs achten ihn, die Mädchen machen ihm schöne Augen.«
Eusterholz lachte und kreuzte die Arme vor der Brust. »Sagen wir mal so: Wenn der mich anbaggern würde, bekäme ich das Zucken. Aber wie Sie selbst sicher schon festgestellt haben, laufen die Dinge in der Pubertät nicht immer nach rationalen Gesichtspunkten ab. Die Unsicherheit der Mädels bedeutet für ihn einen unschätzbaren Vorteil. Wahrscheinlich wird er nie wieder so glücklich sein.«
Burg klemmte den rechten Arm unter die Achsel und benützte die linke Hand, um seinen Kopf hineinzulegen. Diese nachdenkliche Haltung war eine Art Markenzeichen von ihm. Immer, wenn er sich so hinstellte, kamen seine Worte aus dem Innersten seiner Denkfabrik. »Kann schon sein, dass er nie wieder so glücklich sein wird. Das bedeutet aber nichts, weil er es auch jetzt nicht ist.«
Eusterholz warf einen prüfenden Blick zum Lagerfeuer.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Durch meine zuschauerhaften Beobachtungen, Frau Eusterholz. Dieser Bursche quält sich bereits mit dem Erwachsenenproblem Nummer vier herum.«
»Klären Sie mich auf, was sich hinter Ihrem wehleidigen Grinsen verbirgt, oder muss ich dumm sterben?«
»Selbstverständlich werden Sie nicht dumm sterben.«, erwiderte Burg mit süffisantem Lächeln. »Beim Problem Nummer vier handelt es sich um das Phänomen, dass es völlig egal ist, wie viele Frauen einen Mann begehren und mit ihm schlafen wollen. Bei Frauen ist es übrigens ähnlich, aber wir reden ja hier von Sägebrecht. Nun, der Trick ist: Ganz gleich, wer oder wie viele Frauen ihn toll finden: Die eine, von der er toll gefunden werden möchte, findet ihn überhaupt nicht toll. Das ist Problem Nummer vier. Er weiß nur noch nicht, dass er mit diesem Problem nicht allein auf der Welt ist. Ergo macht es ihm höllisch zu schaffen.«
Die Internatsleiterin warf erstaunt einen Blick zu der Jugendgruppe, fand Sägebrecht und versuchte erfolglos, einen Anhaltspunkt für die Äußerungen des Erziehers zu finden. Also erklärte Burg es ihr.
»Unser Objekt der Beobachtung hat einzig Augen für ein bestimmtes Mädchen. Dieses Mädchen allerdings interessiert sich überhaupt nicht für ihn. Es ist Maria.«
Eusterholz kniff die Augen zusammen, doch außer herumalbernden Jugendlichen vermochte sie nichts zu erkennen.
»Ich kann Ihre Beobachtungen nicht teilen. Da ist nichts.«
»Schauen Sie doch. Sie reagiert auf seine Bewegungen. Geht er nach rechts, bewegt sie sich nach links. Sie macht sich eine ziemliche Mühe, immer das Feuer zwischen sich zu haben.«
Eusterholz ließ die Szene auf sich wirken und nach einer ganzen Weile erkannte sie das Muster.
»Also, Herr Burg, Ihre Beobachtungsgabe ist wirklich außerordentlich gut. Das erkennt man überhaupt nicht, wenn man nicht weiß, worauf man achten muss. Also ist Ihre scheinbar unaufgeregte Art, die Jugendlichen zu betrachten, doch nicht so ganz sinnentleert. Haben Sie noch mehr Geheimnisse entdeckt?«
»Sicher, aber nicht so ein dramatisches wie bei den beiden.«
»Dramatisch? Er belauert sie, na und? Da ist doch nichts Dramatisches dran?«
Burg blies die Backen auf und sah seine Chefin durchdringend an, immer noch den Kopf in die linke Hand gelehnt. »Frau Eusterholz, das ist vielleicht in diesem Augenblick noch nicht dramatisch. Meine Eigenart ist es, beobachtete Entwicklungen zu Ende zu denken, bevor die Ereignisse tatsächlich aus dem Ruder laufen. Dieser Junge ist nicht einfach nur interessiert. Er steht in Flammen. Aus den Augen, aus den Bewegungen, aus der Art, wie er mit seinen Kumpels redet, spricht die nackte Gier. Fatalerweise lehnt ihn Maria aus genau diesem Grund ab. Sie geht jedem aus dem Weg, der ihr seinen Willen aufzwingen will.«
»Sie haben aber schon ganz schön weit in die dunklen Ecken unserer Schüler geleuchtet«, bemerkte Eusterholz anerkennend, »gibt es etwas, was Sie nicht wissen?«
»Weiß nicht«, gab Burg zurück und sie lachten. Die Internatsleiterin musste sich wieder um die Würstchen kümmern, während Burg sich weiterhin der Beobachtung der Schüler widmete. Dabei sah er nicht wirklich interessiert aus. Eher besorgt.