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Öffnung des EU-Binnenmarkts zu Drittstaaten mit paralleler Vorbereitung der Rechtsübernahmen in der EU und in den Drittstaaten
Das Rezept heisst, die Binnenmarktbeteiligung mit der Wahrung der Eigenständigkeit von Drittstaaten zu kombinieren, wie dies seit langem im EWR geschieht. Die Brücke zwischen der EU und dem Drittstaat schlägt ein Beschluss des gemischten Ausschusses bzw. ein Staatsvertrag. Dessen Erarbeitung ermöglicht, dass die EU die Rechtsübernahmen mit einem Drittstaat parallel, möglichst zeitgleich vorbereitet. Der Drittstaat soll zur Wahrung seiner Interessen am EU-Gesetzgebungsverfahren (hinten Anhang 1) teilnehmen (mitwirken) dürfen, als Nicht-EU-Mitglied ohne Stimmrecht.
Beteiligung von Drittstaaten am Binnenmarkt
Ausweitung der Binnenmarktteilnahme auf Drittstaaten im Spannungsfeld von Homogenität und Eigenständigkeit
Das Rahmenabkommen soll in diesem Sinne die Binnenmarktbeteiligung mit der Wahrung der Eigenständigkeit der Schweiz kombinieren[1]. Ein Eckpfeiler der europäischen Integration ist der Binnenmarkt der EU[2]. Der Binnenmarkt funktioniert auf Dauer durch Homogenität, gesichert durch einheitliches Recht, durch eine einheitliche Rechtsetzung und Rechtsanwendung[3]. Damit die Binnenmarktbeteiligung allen, auch den Interessen eines Drittstaates, seiner Menschen und Unternehmen dient, muss dieses Recht überall, im ganzen Gebiet der EU und der mit dem Binnenmarkt verbundenen Drittstaaten gleich, diskriminierungsfrei und eben rechtssicher wirken. Da die EU ihr Recht laufend weiterentwickelt, gelingt das auf Dauer nur, wenn die Drittstaaten ihre Abkommen der EU regelmässig anpassen.[4]
Von ihrem ursprünglich einheitlichen Organisationsmodell hat sich die EU längst entfernt. In Reaktion auf die Ansprüche von (neuen) Mitgliedstaaten und die Krisen des letzten Jahrzehnte hat sich die EU zu einer differenzierten Ordnung entwickelt[5]. Sie gewährt ihren Mitgliedern Sonderregelungen. Die EU differenziert noch weiter, indem sie denBinnenmarkt für besondere und privilegierte Beziehungen mit Drittstaaten öffnet und sie daran teilhaben lässt[6]. Dieser Ansatz ist für Staaten gedacht, die zwar für eine EU‑Mitgliedschaft qualifiziert wären, dennoch der EU aber nicht beitreten wollen oder können.
Diese Öffnung des Binnenmarkts für solche Drittstaaten verlangt, Spannungen zwischen mehrfachen Zielen der EU und der Drittstaaten zu überwinden (Delors-Initiative 1988[7]). Das erste Spannungsfeld bezieht sich auf die Weiterentwicklung des Binnenmarktrechts. Die EU muss den Binnenmarkt autonom und ungehindert weiterentwickeln und die Homogenität bewahren dürfen. Deshalb müssen sich die Abkommen mit am Binnenmarkt beteiligten Drittstaaten regelmässig undparallel an das sich weiter entwickelnde EU-Binnenmarktrecht anpassen. Dies liegt im Interesse der EU und der Drittstaaten. So können die gleichen Bedingungen garantiert werden. Wenn der Drittstaat das Recht der EU übernimmt, erspart er seinen Unternehmen Kosten und Risiken. Das zweite Spannungsfeld bezieht sich auf die Eigenständigkeit der Drittstaaten. Sie müssen an der Ausarbeitung der für den EU‑Binnenmarkts massgebenden EU-Rechtsakte im EU-Gesetzgebungsverfahren in gewissem Masse teilnehmen dürfen (hinten Ziffer 3.2; Anhang 1). Nach der Ausarbeitung dieser Regeln müssen die Drittstaaten autonom entscheiden dürfen, ob sie einer Rechtsübernahme zustimmen oder sie ablehnen. Natürlich kann eine Ablehnung vereinbarte Folgen nach sich ziehen (hinten Ziffer 7).
Notwendigkeit eines (Staats-)Vertrags
Die Überwindung der Spannungen und die Begründung dieser Verbindung zwischen der EU und dem Drittstaat ist selbstverständlich durch einen völkerrechtlichen Vertrag – landesintern meist Staatsvertrag[8] genannt – zwischen der EU und dem Drittstaat zu organisieren. Gewöhnlich wird über das Verhältnis des Drittstaates zur EU in einem gemischten Ausschuss verhandelt und beschlossen.
Für diese Beziehungen zwischen EU und Drittstaat haben sich verschiedene Formen der Verbindung entwickelt[9]. Die EU spricht von «Assoziierung» oder von «Assoziierungsabkommen» (so in Art. 217 AEUV), auch betreffend die Schweiz[10]. Ausserdem kann ein Drittstaat von sich aus seine (landeseigene) Rechtsordnung dem EU‑Recht angleichen. Man nennt diese Form in der Schweiz (hinten Ziffer 6.1.1) gemeinhin «autonomer Nachvollzug»; damit kann indessen kein Zugang zum Binnenmarkt erwirkt werden.
Der EWR als wichtigstes Beispiel
Der EWR[11] (hinten Anhang 2) ist die binnenmarktähnlichste Verbindung, welche die EU mit Drittstaaten kennt. Heute besteht der EWR aus den EU‑Mitgliedstaaten sowie aus Island, Liechtenstein[12] und Norwegen. Sie sind die drei EWR/EFTA-Staaten. Trotz EWR bleiben sie EFTA-Mitglieder, wie es die Schweiz ist. Die Beziehungen zu ihnen sind für die Schweiz bedeutungsvoll. Die EFTA[13] ermöglicht ihr, an deren Freihandelsaktivität teilzunehmen und die Verbindung mit den EWR/EFTA-Staaten besonders zu pflegen. Das EWR-Abkommen setzt sich zusammen aus dem Grundvertrag (mit 129 Artikeln), 22 Anhängen und 50 Protokollen sowie den relevanten EU‑Rechtsakten (EU‑Richtlinien, EU‑Verordnungen, Entscheidungen usw.), auf die darin verwiesen wird. Der EWR enthält einen Mechanismus zur regelmässigen Übernahme der einschlägigen EU‑Rechtsakte, mithin eine Rechtsübernahmepflicht. Angepasst werden bei den Rechtsübernahmen meist die Anhänge. Das Muster des EWR ist anspruchsvoll[14]. Immerhin funktioniert der EWR nun seit mehr als 25 Jahren. Er wird von den EWR/EFTA-Staaten als Erfolg dargestellt[15]. Allerdings wird auch auf politische Mängel an Einfluss und Kontrolle, auf Parlaments- und Demokratiedefizite, ein Ungleichgewicht in den Machtverhältnissen, zeitliche Umsetzungsmängel, den teils schwierigen Umgang mit EU-Agenturen usw. hingewiesen (hinten Ziffer 5.5, 7.4)[16].
Der EWR wird in der EU als Referenzgrösse benutzt, um andere Drittstaatenverbindungen zu beurteilen[17]. Die EU bemüht sich mit weiteren Drittstaaten, die für eine Teilnahme am Binnenmarkt geeignet sind, Regelungen zu vereinbaren, die dem EWR ähnlich sind. Die EU überprüft die Beziehungen zu den verschiedenen Drittstaaten, auch diejenigen zur Schweiz, periodisch, so geschehen 2019[18].
Interessenwahrung durch Drittstaaten bei der Vorbereitung der Rechtsübernahme: «decision shaping»
Das Zwei-Säulen-Prinzip[19] soll die Kombination zwischen den Zielen der Ausweitung des weiter entwickelten EU‑Rechts sowie der Wahrung der Eigenständigkeit des Drittstaats ermöglichen[20]. Zu diesem Zweck soll ein Interessenausgleich[21] erreicht werden. Diesen sollen die EU und der Drittstaat gemeinsam vorbereiten. Er gelingt eher, wenn die Drittstaaten ihre Interessen schon im EU‑Gesetzgebungsverfahren wahrnehmen dürfen und nicht auf die Vertragsverhandlungen nach der Verabschiedung des zu übernehmenden EU‑Rechtsakts vertröstet werden.
Die Schweiz und ihre damaligen EFTA-Partner bemühten sich ursprünglich, auf die Weiterentwicklung des EWR-Rechts einen gleichen Einfluss wie die EU-Mitgliedstaaten zu erreichen. Diese institutionelle Gleichstellung misslang. Die EWR-Verhandlungen endeten mit einer «Integration ohne Mitentscheidung»[22]. Um sich dennoch an den wirtschaftlichen Vorteilen des europäischen Wirtschaftsraumes zu beteiligen, musste die Gesetzgebungsautonomie der Europäischen Gemeinschaft (heute EU) über die Fortentwicklung ihres Rechts anerkannt werden. Normalerweise entwickelt jedes Gesetzgebungsorgan den Inhalt seiner künftigen Gesetze selbst. Anders hier: Die EWR/EFTA-Staaten, obwohl Nicht-EU-Mitglieder, erhielten das Recht, wenigstens am EU‑Gesetzgebungsverfahren mittels «decision shaping» teilzunehmen (im Rahmenabkommen hinten Ziffer 10.3). Sie sollen bei der Ausarbeitung der EU‑Rechtsakte ihre Interessen wahrnehmen, gleichsam als Gegengewicht zur Rechtsübernahmepflicht, um später einen «blinden» Nachvollzug zu vermeiden[23]. Für die EU ist das «fremder» Einfluss, von aussen.
1 Erläuterungen InstA, S. 5. ↵
2 Behrens, Rz. 2: Einheitliche Europäische Akte 1986 und Maastricht Vertrag 1992. ↵
3 Arioli, Ziffer 1.1. ↵
4 Zum ganzen Binnenmarktrecht Arioli, Ziffer 1.1 f., 3; zum ordnungspolitischen Ansatz der EU Behrens, Rz. 5 ff., 27 ff. ↵
5 Fossum, Segmented political order, S. 27 ff.; Batora/Fossum, S. 266 ff.; Frommelt, Ausnmahmeregelungen, S. 101 ff. ↵
6 Zur Marktöffnung Behrens, Rz. 184 ff. ↵
7 Norberg/Johannson, S. 21 ff. ↵
8 Häfelin et al., Rz. 1892. ↵
9 Fossum/Graver, S. 29 f., 31 ff. ↵
10 Herrnfeld, in: Schwarze u. M., Art. 217 AEUV, Rz. 1, 8 f.; Bieber et al, § 37 Rz. 25, 28; Oesch, Europarecht, Rz. 842, 844; Oppermann et al., § 41 Rz. 4 f., 8; Behrens, Rz. 184, 193 ff. ↵
11 Behrens, Rz. 186 ff.; Fossum/Graver, S. 43 ff.; Mech, S. 35 ff.; der Bundesrat im Zusammenhang mit der Option EWR Beitritt: Evaluationsbericht 2010, S. 7312 ff. ↵
12 Zu den Besonderheiten des Wegs von Liechtenstein siehe Gstöhl/Frommelt, S. 174 ff. ↵
13 Vgl. z.B. den letzten, 59. Jahresbericht unter https://www.efta.int/About-EFTA/news/EFTAs-Annual-Report-2019-517821 (besucht 7.5.2020). ↵
14 Vgl. die Auslegeordnung bei Frommelt, Prinzipien, S. 1 ff., oder Fossum/Graver, S. 45 ff., 84 f., 93 ff., 100 ff. ↵
15 Bericht 25 Jahre Liechtenstein im EWR, S. 37 f., 82 ff.; Gétaz, S. 9 f.; Norwegen im White Paper, S. 5. ↵
16 Fossum, Representation, S. 154 ff.; vgl. auch Oesch, Incorporation, S. 23 ff. ↵
17 Gétaz, S. 10 f., 14; Baur, decision shaping, S.18. ↵
18 Schlussfolgerungen des Rates zu den Beziehungen der EU zur Schweizerischen Eidgenossenschaft EU‑Rat Schlussfolgerungen 2019, zum Rahmenabkommen vorab Ziffer 9 und 13, siehe https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2019/02/19/council-conclusions-on-eu-relations-with-the-swiss-confederation/ (besucht 15.12.2020). ↵
19 EFTA Bulletin 2019, S. 9 ff.; Fossum/Graver, S. 42, 45 f.; Frommelt. Zwei-Pfeiler-Struktur, S. 2 f.; zum Verhältnis Schweiz-EU: Oesch, Europarecht, Rz. 905 ff. ↵
20 Epiney/Kern, Rz. 31 f. ↵
21 Vgl. Ambühl/Scherer, S. 2 f. ↵
22 Botschaft EWR, vorab S. 47 ff., 50 f., 463; Evaluationsbericht 2010, S. 2075 ff.; Vahl/Grolimund, passim. ↵
23 Entner, S. 82. ↵