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Kapitel 2

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Ich war zum ersten Mal im „Mountain View Hotel“. Zu diesem Zeitpunkt, lieber Leser, wusste ich noch nicht, wohin mit meinem Leben, meiner Zeit, meinem Drang, etwas zu schaffen, zu bauen. Kein Haus, nein. Ich hielt auch schon zu diesem Zeitpunkt nicht viel von den klassischen Vorstellungen, die einem anerzogen werden. Baue ein Haus, pflanze einen Baum, heirate, bekomme zwei Kinder, einen Hund usw. Sie verstehen sicher, was ich meine.

Vielmehr sah ich es als meine Aufgabe, etwas zu erschaffen, woran man sich später noch erinnern konnte. Leichter gesagt, als getan. Meine Zeit war noch nicht reif, aber ich war drauf und dran, einen Weg zu finden, mein Ziel zu erreichen. Wie macht man sich unsterblich? Sicher, man könnte den Weg einschlagen, den viele vorher gegangen sind. Töte Menschen, zünde Schulen oder öffentliche Gebäude an - irgendwer wird sich danach definitiv sein ganzes Leben lang an dich erinnern. Wenn du alle tötest gibt es immer noch einen Angehörigen, dem du etwas genommen hast. Sohn, Tochter, was auch immer. Du bist in der Presse, die Zeitungen und die Fernsehsender berichten über dich, du bist in aller Munde. Je nachdem, wie schwer deine Tat wiegt, spricht sich das alles noch viel weiter rum. Plötzlich bist du eine Berühmtheit in Japan oder Ägypten, Menschen lassen sich deinen Namen auf die Brust tätowieren und ganze Gruppen von Menschen, die deine „wahren“ Ziele und Absichten kennen, schließen sich deinem Ideal an, gründen Clubs und Online-Communities.

Aber seien wir mal ehrlich: wer will schon so in Erinnerung bleiben? Nur psychisch gestörte Personen. Oder Kranke. In dem Moment, in dem ich aus dem Taxi stieg, das mich bis an die Pforte des Mountain View gefahren hatte, war ich weder gestört noch krank. Ich war voller Tatendrang, daran besteht kein Zweifel. Aber dieser Tatendrang lies mich keine verrückten Sachen machen. Noch nicht, um bei der Wahrheit zu bleiben.

Das Hotel steht sehr idyllisch an einer Klippe, ziemlich hoch oben an einem Berg, dessen Namen mir im Moment nicht mehr einfällt. Nach Norden hin kommen noch zwanzig, fünfundzwanzig Meter Wiese, ehe es fast zweihundert Meter in die Tiefe geht. An der Südseite geht, auf der anderen Seite der Straße, der Berg noch einige Meter in die Höhe. Er hat keine richtige Spitze wie die Berge in den Zeichnungen von Kindern, vielmehr gleicht er dem Rücken eines Wales. Von März bis November schafft es die Sonne, seinen Buckel zu überflügeln und scheint das Hotel dann den ganzen Tag mit aller Kraft an. Von Dezember bis Februar bekommt man nur am Morgen etwas davon ab, wenn man dem gemütlichen Sonnenaufgang zuschauen kann. In diesen Monaten sind nur sehr wenige Gäste da, aber das Hotel ist niemals leer. Wanderer und Ruhesuchende gleichermaßen können hier finden, wonach sie suchen.

Im Westen erstreckt sich ein kleiner Parkplatz zwischen Waldrand und Hotel, gerade einmal groß genug für zwanzig Wagen. Hier steht auch der Geräteschuppen mit dem Schneemobil, falls die Straße nach einem heftigen Schneefall für einige Tage nicht befahrbar sein sollte (was in diesen Breitengraden öfter mal vorkommt). Im Osten ist der wunderschöne Garten mit vielen, liebevoll getrimmten Hecken und Sträuchern, einem Spielplatz, einem großen Springbrunnen mit den Figuren von Kindern und Pferden in Stein gehauen, einem Grillplatz und noch so viel mehr was sich zu erzählen lohnen würde, aber den Rahmen einfach sprengen würde. Sie müssen es sich einfach selbst ansehen.

Oh, sehen Sie, in diesem Moment fährt der Wagen der Morrisons vor. Hat den Aufstieg also geschafft, ein Glück. Herb parkt auf dem Parkplatz und steigt aus, streckt sich - anstrengende Fahrt.

Die Tür ins Foyer öffnet sich. Ein Mann im Anzug tritt heraus und bleibt wenige Schritte vor der Tür wieder stehen. Er lächelt.

Aber zu viel erzählt - sehen Sie selbst.



Herb war überwältigt. Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte er daran gedacht, dass das Hotel so schön ist - und vor allem nicht, dass es so gut in Schuss war. Die Ziegel des Hauses, aus denen der größte Teil des Haupthauses zu bestehen schien, glänzten in einem strahlenden rot, die aufwändigen Auf- und Umbauten an den Flügeln und oberen Stockwerken waren aus hellem, starken Holz. Das Dach war in einem dunklen Grün gehalten, das sich mit dem Wald um das Haus herum deckte. Vor den Fenstern im Erdgeschoss war ein kleiner Streifen mit Blumenfeldern und Sträuchern angelegt, der das Haus wie eine Mauer für Gartenzwerge umrahmte. Die Einfahrt war kreisförmig angelegt, so dass man zu keiner Zeit wenden musste, sondern die Schleife, herum um einen formschönen Brunnen, einfach noch einmal drehen konnte, um zurück auf die Zufahrt zur Hauptstraße zu gelangen. Die Hauptstraße selbst war etwa einhundert Meter entfernt. Im Winter, wenn die Bäume ihre Blätter verloren haben würden, könnte man sie vielleicht sehen. Aber selbst wenn: hier fuhren so wenige Autos, dachte Herb, dass sich keiner über den Lärm beschweren konnte.

„Scheiße“, flüsterte Michael, der neben ihm stand, ehrfürchtig. Herb gab ihm einen leichten Stoß mit dem Ellbogen, obwohl ihm die Wortwahl eigentlich treffend vorkam.

„Du bist sicher, dass wir uns nicht verfahren haben?“, fragte Sarah. Sie trug eine große Sonnenbrille, die ihr halbes Gesicht bedeckte, und schob diese jetzt mit dem Zeigefinger ein wenig nach unten, so dass sie darüber hinweg schauen konnte.

„Ich meine: das Ding ist riesig!“

Herb nickte. „Ich denke schon. Katharine?“

„Ganz sicher“, antwortete Katharine, die lässig an der Beifahrertür ihres alten Ford lehnte und ein Blatt Papier in der Hand hatte. Sie betrachtete das Stück Karte auf dem Dach des Fahrzeuges und verglich es mit dem Zettel, den sie sich vor zwei Tagen in einem Internetcafe ausgedruckt hatte. Darauf standen einige Informationen zum Hotel und der Umgebung. Das Foto war identisch mit dem Anblick des Hotels.

Ein großer Mann in dunklem Anzug trat aus dem Hotel. Er trug keine Sonnenbrille und hielt sich stattdessen kurz die Hand schützend über die Augen, um sie an das grelle Licht zu gewöhnen. Seine Schritte waren groß und kräftig und als er auf Herb zutrat, streckte er die zweite Hand nach vorne, um sie ihm zum Gruße zu reichen. Der Ärmel seines Anzuges rutschte nach oben und entblößte eine dicke Uhr, die in den Strahlen der Sonne hell glänzte.

„Mr. Morrison nehme ich an?“ Obwohl es sich nach einer Frage anhörte, war Herb sich sicher, dass es mehr eine Feststellung war. Er reichte ihm die Hand und war erfreut und ein wenig erstaunt, als er einen festen und ehrlichen Händedruck bekam.

„Richtig. Sie sind dann wohl Mr. Anderson?“

Anderson lächelte und blinzelte unter seiner Hand hervor. „Genau.“ Dann nahm er die Hand aus seinem Gesicht. „Ziemlich hell hier draußen“, merkte er an und setzte ein gezwungenes Lächeln auf.

„Nur, wenn man es nicht gewohnt ist.“ Herb lachte und drehte sich dann unbeholfen etwas zur Seite, um Anderson seine Familie vorzustellen. „Meine Frau Katharine und meine Kinder Peter, Michael und Sarah.“

Sie stellten sich der Reihe nach vor, schüttelten Hände und tauschten die üblichen Nettigkeiten aus. Herb musterte Anderson währenddessen genau. Er war noch sehr jung für einen Anwalt, keine dreißig Jahre alt. Er war groß gewachsen, hatte einen sportlichen, aber nicht übermäßig muskulösen Körperbau und einen gebräunten, gesunden Teint. Seine dunklen Haare hatte er mit Gel nach hinten gekämmt und seine Zähne blitzten unnatürlich weiß hervor, wenn er lächelte. Was, wie Herb auffiel, wohl ständig der Fall war.

„Wollen Sie sich erst ein wenig von der Fahrt erholen?“, fragte Anderson dann, als er jeden persönlich begrüßt hatte. „Sie sind bestimmt schon lange unterwegs, oder? Wie lange haben Sie gebraucht?“

Herb zuckte mit den Schultern und schaute hilfesuchend zu seiner Frau.

„Etwa 8 Stunden“, antwortete Katharine an seiner Stelle und konnte sich einen Kommentar dazu nicht verkneifen. „Aber eigentlich wäre es etwas weniger gewesen. Wir haben uns verfahren und bestimmt eine Stunde dadurch verloren.“

„Hatten sie keine Karte?“

„Doch. Aber erst als ich sie gelesen habe sind wir dem Ziel wieder näher gekommen.“

Herb winkte ab und Anderson lachte schallend.

„Es geht doch nichts über den Orientierungssinn einer Frau“, meine Sarah und handelte sich die bösen Blicke ihrer Brüder ein.

„Da gebe ich dir recht, junges Mädchen“, meinte Anderson. „Die Stimme in meinem Navigationsgerät ist auch eine Frau. Mit ihr habe ich mich noch niemals verfahren.“

„Um wieder auf Ihre Frage zurückzukommen“, unterbrach Herb die aufkeimende Unterhaltung, „Ich bin nicht müde oder erschöpft. Woran hatten Sie gedacht?“

Anderson nickte. „Dann würde ich gerne erst noch ein wenig mit Ihnen unter vier Augen sprechen, wenn Sie oder Ihre Familie nichts dagegen haben. Ich würde Ihnen gerne noch ein wenig die Hintergründe zu diesem Geschäft erklären und Sie ein wenig darauf vorbereiten, was kommen könnte wenn Sie sich denn bereit erklären würden, das Hotel zu übernehmen.“

„Ohne meine Familie?“ Herb spitzte unentschlossen die Lippen und schaute Katharine zweifelnd an.

Anderson zuckte mit den Schultern. „Wir können das auch gerne mit allen klären, aber es ist vielleicht ein wenig trocken. Ihre Familie könnte sich in der Zwischenzeit das Hotel und die Umgebung anschauen. Ist wahrscheinlich interessanter.“

„Aber wir entscheiden solche Dinge immer gemeinsam.“

„Sie müssen heute noch überhaupt nichts entscheiden. Ich bin bis morgen Abend hier, auf Wunsch auch noch eine Nacht länger. Bis dahin hätten Sie genügend Zeit, das alles miteinander abzustimmen.“

„Da gibt es nichts abzustimmen“, rief Michael. „Mr. Anwalt, wir nehmen es!“

Anderson wirkte einen Moment etwas verwirrt, dann lachte er. Katharine und Sarah, die mittlerweile zu ihrer Mutter zurückgegangen war, warfen sich einen Blick zu, wie nur Frauen das tun können, und verdrehten die Augen. Peter, der den Kofferraum geöffnet hatte und jetzt halb darin saß, schüttelte den Kopf und wippte weiter im Takt der Musik, die er durch den Kopfhörer im rechten Ohr hörte.

„Es würde mich wundern, wenn dein Vater das nicht täte, mein Junge!“

Dann, wieder an Herb gewandt: „Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Wir können das geschäftliche gleich besprechen und Sie stimmen sich später mit Ihrer Familie ab, oder wir machen das alles gemeinsam.“

Herb zuckte mit den Schultern und warf erneut einen hilfesuchenden Blick zu Katharine. Sie flüsterte Sarah etwas zu und sie antwortete, aber Herb konnte nicht verstehen, worum es ging.

„Geh ruhig alleine, Schatz. Wir schauen uns hier ein bisschen um. Es ist so schönes Wetter und die Gegend ist wirklich bezaubernd.“

„Da haben Sie’s. Alleine könnte ich diese Entscheidung gar nicht treffen.“

„Und letztendlich machen wir ja doch immer das, was die Frauen von uns wollen.“

Herb musste lächeln. „Darauf sollten wir anstoßen.“

Anderson nickte. „Wenn alles so läuft wie es geplant ist dann werden Sie bald noch viel mehr Grund haben, anzustoßen.“ Er hob die Hand und drehte sich in Richtung Eingang. Augenblicke später öffnete sich die Tür und ein Mann, ebenfalls in einem dunklen Anzug, trat ins Freie und kam auf sie zu.

„Mr. van Borg wird sich um Ihr Gepäck kümmern. Wenn Sie sich erst noch etwas frisch machen wollen wird er Ihnen auch gerne Ihre Zimmer zeigen. Ich habe mir erlaubt, Ihnen das gesamte Dachgeschoss zur Verfügung zu stellen.“

„Das ist sehr großzügig, Mr. Anderson. Vielen Dank.“

„Warum danken Sie mir?“, fragte Anderson erstaunt. „Schließlich gehört das schon bald alles Ihnen. Ich sollte mich dafür bedanken, hier wohnen zu dürfen.“

„Ich kann das noch alles gar nicht richtig fassen“, erwiderte Herb und schlenderte neben dem Anwalt her, der sich langsam in Richtung Eingang gewandt hatte.

„Bald können Sie, Mr. Morrison. Glauben Sie mir.“

„Auch ein Glas Scotch?“, fragte Anderson. Er hatte eine Klappe im Schrank geöffnet, hinter der sich eine ganze Reihe teuer anmutender Flaschen befanden, viele noch verschlossen. In einer Hand hielt er ein Glas (mit Eiswürfeln, wie Herb überrascht feststellte), in der anderen hielt er eine dunkle Flasche mit goldenem Verschluss. „Einer der besten hier im Haus.“

„Für mich nur ein Glas Wasser, danke.“

„Wie Sie meinen“, antwortete Anderson ein wenig enttäuscht und schenkte sich selber einige Fingerbreit ein, verschloss die Flasche geschickt mit einer Hand wieder und stellte sie zurück. Dann zauberte er, verdeckt durch seinen Körper, irgendwoher ein weiteres Glas, ebenfalls mit Eiswürfel, und griff eine Etage höher in den Schrank, um eine Flasche mit Wasser zu öffnen. Herb mochte keine Eiswürfel, aber er wollte keine unnötigen Umstände machen und bedankte sich artig, als Anderson ihm das Glas in die Hand drückte. Es war eiskalt.

„Was ist das für ein Zimmer?“, fragte er und nippte an seinem Wasser. Kleine Nadelstiche übersäten seine Lippen. „So eine Art Aufenthaltsraum?“

„Foyer, Gentlemans-Lounge, Sitzungszimmer. Sie können damit machen was immer Sie wollen. Bislang diente es meist dazu, Gäste warten zu lassen, wenn ihre Zimmer noch nicht fertig waren.“ Er lachte, aber es klang nicht amüsiert. „Im Sommer kann es hier gerne mal passieren, dass alle Zimmer belegt sind und der Raum hier richtig voll wird.“

„So gut besucht also?“

Anderson ließ sich gegenüber von ihm auf einen großen, braunen Sessel fallen und nahm einen Schluck von seinem Scotch. Sein Gesicht wirkte entspannt, aber in seinen Augen war etwas, was Herb stutzig werden ließ. Die Augen musterten ihn unentwegt und waren sehr wachsam, wie die Augen eines Adlers. Sie passten überhaupt nicht zu seinem gepflegten Auftreten oder zu seiner ruhigen, freundschaftlichen Art.

„Mr. Morrison - könnten Sie so freundlich sein und mir meine Aktentasche reichen? Sie steht neben Ihnen auf dem Boden.“ Er deutete auf den Bereich zu Herb’s Füßen. Eine mittelgroße, dunkelbraune Ledertasche mit einem großen Symbol auf der Seite, wahrscheinlich dem Hersteller. Katharine wüsste das, dachte Herb amüsiert.

Er reichte sie ihm und Anderson öffnete sie dankend. Heraus zauberte er einen großen Ordner, aus dem zwei Blätter herausfielen und auf dem Boden landeten. Anderson hob sie geistesabwesend auf und schlug den Ordner auf seinem Schoß auf.

„Ich habe für Sie einige Unterlagen zusammengestellt, die Sie sich durchschauen sollten. Unter anderem sind dort die Umsätze der letzten zehn Jahre aufgelistet, Namen der Stammgäste, Personal - ganzjährig und saisonal, anfallende Betriebskosten, durchgeführte Renovierungen in den letzten fünf Jahren. Außerdem sind zwei Wertschätzungen des Anwesens von verschiedenen Gutachtern erhalten, beide nicht älter als drei Monate, sowie notariell beglaubigte Urkunden, die den Besitz regeln. Auf ihnen fehlt nur noch Ihre Unterschrift.“

Er hob den Ordner auf und wollte ihn Herb reichen, hielt dann aber in der Bewegung inne und schaute ihn mit leicht schräg gelegtem Kopf an. „Ich hatte mir das so gedacht: ich erzähle Ihnen das wichtigste in den nächsten Minuten, beantworte Ihre Fragen und gebe Ihnen den Ordner dann zur genaueren Einsicht mit. Was halten Sie davon?“

„Gute Idee.“ So musste er das wenigstens nicht alles alleine durchkauen. Er nippte wieder an seinem Wasser. Die kleinen Eiswürfel, so schien es, waren noch ein wenig größer geworden. Sie klapperten aneinander als er es wieder auf einen teuer wirkenden Tisch neben sich stellte.

Anderson stellte den Ordner ebenfalls auf den Tisch, verschloss seine Tasche akkurat wieder und stellte sie neben sich auf den Boden. Herb musste daran denken, wie es bei dem Typen wohl in der Wohnung aussehen musste.

„Womit soll ich beginnen?“

„Erzählen Sie mir etwas vom Hotel. Wann wurde es gebaut?“

„Ende der Sechziger. Aber damals nur der große Hauptteil, also der Teil in dem wir uns jetzt befinden. Später wurde noch der Flügel im Westen angebaut, etwa neunzehnhundertsechsundsiebzig. Nochmal zwei Jahre später wurde dann das Dachgeschoss ausgebaut. In diesem Teil befinden sich fünf große Suiten, die sie aktuell zu Preisen von ca. einhundert achtzig Dollar pro Nacht vermieten können. Sie haben jeweils rund achtzig Quadratmeter und verfügen über große Badewannen sowie überdachte Balkone. Die Zimmer sind besonders beliebt bei frisch verheirateten Pärchen und besser betuchten Paaren in den mittleren Jahren. Im Schnitt liegt hier die Auslastung bei fünfundsiebzig Prozent, in den Sommermonaten bei fast einhundert.“

„Fast zweihundert Dollar pro Nacht?“ Herb’s Hals wurde trocken und er nahm einen Schluck von seinem eisigen Getränk. „Und das wird gebucht?“

„Es ist sogar fast ständig ausgebucht. Das Hotel genießt einen sehr guten Ruf, das sollten Sie sich merken. Ihr Onkel hat immer mit einem Auge auf den fünften Stern geschielt, und lassen Sie mich eines sagen: viel fehlt nicht. In ein, zwei Jahren - natürlich je nach Führung - ist das nicht unmöglich.“

„Fünf Sterne?“

„Im Augenblick vier, aber das sollte sich, wenn es nach Ihrem verstorbenen Onkel geht, bald ändern. Weitere Arbeiten am Haus waren für nächstes Frühjahr geplant gewesen, den Kostenvoranschlag und alle dazu vorhandenen Unterlagen liegen in dem Ordner bei. Ob Sie das ausführen wollen oder nicht bleibt Ihnen überlassen.“ Er trank einen Schluck aus seinem Glas. Die Eiswürfel klapperten leise, als er es wieder zurück stellte.

„Wie viele Personen arbeiten hier?“

Anderson überlegte kurz, dann griff er nach dem Ordner. „Da muss ich spicken, verzeihen Sie mir.“

Herb dachte gar nicht daran, er war ihm ja nicht mal böse deswegen.

„Das ganze Jahr über sind hier sechs Personen angestellt. Ein Koch, zwei Servicekräfte, ein Hausmeister und dessen Gehilfe sowie die Rezeptionistin. In den Monaten April bis Oktober, also der Hauptsaison hier oben, sind noch drei weitere junge Mädchen aus der Region hier, aber die ändern sich von Jahr zu Jahr. Ihr Onkel hat sehr viel Wert darauf gelegt, Arbeit in die Region zu bringen. Handwerker kommen immer aus den umliegenden Städten, auch wenn sie vielleicht etwas mehr kosten. Auch daher begründet sich der gute Ruf des Hotels.“

Herb dachte daran, wie auch seine Firma einst diese Philosophie gehabt hatte und was letztendlich daraus geworden war. Wie so viele Dinge ein Opfer der Zeit.

„Warum kommen die Gäste in dieses Hotel?“

Anderson zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe. „Ich glaube, ich verstehe Sie nicht ganz“, stotterte er.

„Wieso ein Hotel mitten im Nirgendwo? Was macht es so besonders?“

Herb konnte sehen, dass Anderson angestrengt nachdachte, was ihn ziemlich nervös machte. Eigentlich sollte gerade das eine Frage sein, mit der er hätte rechnen müssen. Er hatte keineswegs vor, die Katze im Sack zu kaufen. Ein Hotel, das nur durch das Anpreisen eines jungen, sehr jungen Anwalts in seinen Besitz übergehen soll von einem Onkel, den er seit unzähligen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Was auf den Papieren stand war ihm im Moment nicht wichtig. Er hatte lange genug als leitender Angestellter gearbeitet um zu wissen, dass Dinge sich sehr stark unterschieden wenn sie auf Papier standen anstatt persönlich besprochen zu werden.

„Wenn Sie erlauben würde ich Ihnen gerne etwas zeigen.“ Anderson erhob sich von seinem Sessel. „Vielleicht verstehen Sie dann besser, was ich meine.“

Herb folgte ihm aus der Tür hinaus in den Empfangsbereich, der im Moment verlassen war. Sie gingen an der breiten Treppe, die mitten in der Halle stand, vorbei und bogen in den neu gebauten Flügel ab. Hier war der Boden mit einem braunen Teppich ausgelegt, der sehr sauber und gepflegt wirkte. An den Wänden hingen im Abstand von zehn Metern kleine Gemälde mit Nummern daran, einige mit einem roten Punkt versehen wie bei Kunstausstellungen, wenn die Bilder verkauft waren. Der Gang war hell durchleuchtet, da am Ende ein großes Panoramafenster mit Tür auf den dahinterliegenden Balkon eingelassen war, durch das die tief stehende Sonne einfiel. Anderson öffnete die Tür, die lautlos nach außen schwang und bat Herb mit der Hand, auf den Balkon zu treten.

Der Balkon war eine erhöhte Terrasse, die so groß war, dass man auf ihr leicht ein Abendessen für vierzig, fünfzig Personen ausrichten konnte und sogar noch Platz hatte, ein wenig zu tanzen. Der Boden war aus rotem Stein, das Geländer aus jenem dunklen Holz, aus dem auch der leicht überhängende Dachstuhl war. Es wehte ein leichter Wind, der den Geruch von frischem Gras und dem angrenzenden Wald herüber wehte. Ansonsten war es ganz still.

Herb trat an das Geländer heran. Der Anblick raubte ihm den Atem.

Der Wald begann keine dreißig Meter vom Haus entfernt. Große Nadelbäume, Tannen und Fichten, bildeten einen fast undurchsichtigen Wall, dazwischen rankten sich kleine Pflanzen und Sträucher. Doch an einer Stelle, etwa einhundert Meter entfernt und am hinteren Ende des großzügig angelegten Gartens, lichtete sich der Wald und eine Schneise von etwa zwanzig Metern eröffnete einen Blick bis weit in die darunterliegenden Täler. Die Sonnenstrahlen wurden glitzernd wie kleine Perlen von einem still daliegenden See zurückgeworfen und warfen zusätzliches Licht auf das Haus. Hinter dem See kam wieder Wald, der sich dann die nächsten Berge empor wand, lichter wurde schließlich den Wiesen und Feldern Platz machen musste und dann ganz verschwand.

„Unglaublich schön!“, staunte Herb mit leiser Stimme. Anderson, der neben ihn getreten war, nickte.

„Im Winter ist dieser See drei bis vier Monate eine einzige Eisfläche. Ein Traum für Wintersportler, ebenso wie die vielen Skilifte in den umliegenden dreißig Meilen. Und im Sommer ist er zwar nicht besonders warm, aber an heißen Tagen eine gerne gesuchte Erfrischung. Vom Parkplatz weg führen drei unterschiedlich lange Wanderwege dort hinunter, zwischen drei und fünf Stunden Fußmarsch. Zurück wurden die Gäste bislang auf Wunsch von einem der Angestellten mit einem Transporter geholt.“

„Kann ich verstehen“, murmelte Herb, ohne den Blick vom See und dem umliegenden Panorama zu nehmen. „Wer wünscht sich nicht, hier Urlaub zu machen?“

„Diesem Ausblick verdankt das Hotel übrigens seinen Namen. Es war aber mehr oder weniger Zufall, dass gerade von dieser Stelle aus der See zu erkennen ist.“

Herb blickte auf. „Wieso?“

„Als das Hotel gebaut wurde war hier noch überall Wald. Die Bauarbeiter haben einen Großteil abgeholzt und waren dann, als es Frühling wurde und der Schnee schmolz und die Erde aufweichte, ziemlich sorglos. Eines Tages gab es einen Erdrutsch, der diese Lücke in den Wald riss, weil der Boden die ganze Flüssigkeit nicht mehr aufnehmen konnte und die Wurzeln der Bäume fehlten, um das Erdreich zusammenzuhalten. Ihr Onkel musste damals eine saftige Geldbuße bezahlen.“

„Er wird es verschmerzt haben können, richtig?“

Anderson nickte. „Der Ausblick war fortan das Markenzeichen des Hotels. Es sprach sich ziemlich schnell rum, die richtigen Fotos wurden gemacht und an die richtigen Personen geschickt, die wiederum die richtigen Leute kannten, und so weiter. Ein Titelbild in den frühen siebziger Jahren auf einer bekannten Zeitschrift und von da an war es ein Selbstläufer. Sogar heute kommen noch Gäste von damals.“

„Treue Gäste, hm?“

„Gut betuchte Gäste, Mr. Morrison. Aber Sie werden sie noch kennen lernen, davon bin ich überzeugt.“

Sie blieben noch eine Zeit lang ruhig nebeneinander stehen. Herb wäre noch länger geblieben, aber Anderson hatte noch andere Pläne.

„Soll ich Ihnen noch mehr vom Hotel zeigen? Wir können uns während dessen weiter unterhalten.“

„Sehr gerne. Eine Frage könnten Sie mir aber gleich noch beantworten.“

Anderson lächelte. „Gerne.“

Herb lehnte sich gegen das Geländer. „Ich habe am Eingang kein Schild gesehen und auch sonst kein Anzeichen darauf, wie das Hotel eigentlich heißt. Sie sagten, es hätte etwas mit diesem wunderschönen Ausblick zu tun?“

„Ihr Onkel hielt nicht viel von Werbung, darum gibt es hier auch keine Flyer oder Webetafeln. Er hat immer gesagt: Wer schon einmal hier ist, braucht nicht noch daran erinnert zu werden, wo er gerade ist.“

Herb nickte verständnisvoll.

„Er hat das Hotel so benannt wie die ersten Worte, die ihm in den Sinn gekommen waren, als er zum ersten al auf der Wiese hinter Ihnen gestanden hat und den Blick auf den See hatte. Ich erinnere mich, als er es mir einmal erzählt hatte. „Was für eine unglaubliche Aussicht man hier auf die Berge hat!“

„Das `Mountain View`.“

„So wie es hier steht.“

Herb dachte, das war ein guter Name.

Ein sehr guter Name.


„Wo ist der Haken?“

„Welcher Haken?“

Herb lehnte sich zurück und nahm das Glas mit Wasser, welches er vorher hatte stehen lassen, wieder in die Hand. Die Eiswürfel waren geschmolzen und seine trockene Kehle lechzte nach Flüssigkeit.

„Mr. Anderson: ich bin nicht von vorgestern. Meine Haare werden langsam grau, der Bauch immer dicker und ich muss vielleicht schon aufpassen, wenn ich einen Kasten Bier die Treppe hochtrage, dass ich mir nicht den Rücken verrenke oder gar das Genick breche. Aber im Kopf bin ich noch voll da. Und mein Gefühl sagt mir, dass dieses ganze Geschäft, so wie Sie es mir hier unterbreiten, einfach zu gut ist um wahr sein zu können.“

„Ist es das? Ich fasse das mal als Kompliment auf.“

„Das ist nichts gegen Sie, Mr. Anderson. Sie machen mir einen engagierten, guten Eindruck. Aber Sie können mir nicht sagen, dass mein Onkel, den ich seit gut dreißig Jahren weder gesehen noch gehört habe, mir ein Hotel im Wert von ... - von wie viel reden wir eigentlich?“

„Zehn Millionen Dollar.“

Herb schnalzte mit der Zunge. Sein Mund wurde schon wieder trocken (komisch, heißt es nicht immer, dass einem bei so viel Geld der Mund wässrig wird?), aber sein Glas war leer. „Wow.“

„Warten Sie den fünften Stern ab. Dann können Sie hier ganz andere Preise verlangen.“

Herb machte eine wegwerfende Handbewegung. „Der Haken? Wollen Sie mich nicht darüber aufklären? Und wenn Sie mir jetzt sagen, dass es keinen gibt, werde ich jetzt aufstehen, meine Familie einpacken und mit ihr zurück nach Hause fahren.“

Anderson musterte ihn mit glitzernden Augen. Herb hielt seinem Blick stand und schließlich veränderte sich Anderson`s Gesichtsausdruck. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, dennoch wirkte es nicht fröhlich.

„Ich glaube Ihnen das sogar“, murmelte er. Dann beugte er sich nach vorne, nahm sein Glas und trank den letzten Schluck daraus. Er schmatzte lauter als nötig und stellte das Glas mit einigem Schwung zurück auf den Tisch, so dass es wild hin und her schepperte, ehe es schließlich gefährlich nahe am Rand stehen blieb. „Sie haben recht, eine Sache haben wir noch nicht besprochen. Aber ich würde das nicht als „Haken“ bezeichnen, so wie Sie das gerne machen. Ich würde es vielmehr eine „Bedingung“ nennen. Eine Übereinkunft wenn Sie so wollen.“

Herb nickte wortlos und gab ihm mit der Hand zu verstehen, fortzufahren.

„Ihr Onkel hat großen Wert auf Nachhaltigkeit gelegt. Zum Beispiel fand er während der ersten großen Krise in seinem Geschäftsleben sehr oft einen Weg, dass seine Projekte einen weiteren Sinn hatten. Häuser wurden zu Kindergärten, Verkaufserlöse meistens gespendet. Ihr Onkel war Organspender, wussten Sie das?“

Herb schüttelte den Kopf.

„Was ich Ihnen damit sagen will: Linus Morrison war kein Mensch, der etwas nur für das Hier und Jetzt getan hat. Er wollte immer, dass alles einen tieferen Sinn hat. Mit dem Mountain View verhält es sich ähnlich.“

„Sie wollen mir sagen, dass ich das Hotel nicht verkaufen darf?“

„Würden Sie das denn wollen?“

Herb überlegte kurz. „Die Möglichkeit besteht natürlich. Sie haben ja gut recherchiert und wissen sicherlich, dass wir finanziell nicht so gut dastehen wie wir es gerne hätten. Und von einem Hotel kann ich nicht abbeißen, verstehen Sie?“

„Natürlich“, erwiderte Anderson ruhig. „So ein Hotel macht eine Menge Arbeit.“

„Wollen Sie es mir jetzt wieder ausreden?“

„Ich verstehe Ihre Gedanken, Mr. Morrison. Ein Hotel - am anderen Ende des Landes - ohne jegliche Erfahrung.“ Er lachte. „Selbst mich würde das eine ganze Menge Überwindung kosten. Wen denn auch nicht?“

„Und trotzdem habe ich keine andere Wahl?“

„Mr. Morrison“, sagte Anderson ruhig. „Ihrem Onkel war sehr wohl bewusst, was er da verlangte. Aus diesem Grund hat er in diesen Vertrag eine Klausel einbauen lassen, die Ihnen wahrscheinlich aus diesem Übel einen leichten Ausweg zeigt.“

Herb hörte gespannt zu.

„Ich kann es Ihnen jetzt nicht wörtlich wiedergeben, aber letztendlich läuft es darauf hinaus, dass Sie, alleine oder mit Ihrer Familie, das Hotel eine Saison weiterführen müssen. Wenn Sie dieses Jahr hinter sich gebracht haben, egal ob zum Guten oder zum Schlechten, bleibt es ganz und gar Ihnen überlassen was Sie damit machen.“

„Warum hat er das gemacht?“

Anderson lächelte wieder. „Wahrscheinlich weil er dachte, dass Sie nach einem Jahr in diesem Hotel keinen anderen Job mehr machen wollen.“

Einen Augenblick saßen sie sich nur gegenüber und schauten sich in die Augen. Im Nachhinein dachte Herb oft an diesen Moment zurück. Es war dieser Moment, in dem eigentlich noch alles in der Luft hing und trotzdem schon eine Entscheidung gefallen war.

„Sie wissen, dass ich das noch mit meiner Familie klären muss?“

„Natürlich.“

Aber innerlich schloss Anderson in diesem Augenblick die Akte Morrison.

Herb hingegen öffnete eine neue Akte.

Die letzte in seinem Leben.





Der Mann im Mond

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