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Kapitel 3
ОглавлениеDer Regen wurde von den Sturmböen gegen das Fenster geschmettert. Ein Blitz zuckte über den Himmel, gleißend und bedrohlich, Donner folgte, dass die Wände zitterten. Der Wind rüttelte an dem Gemäuer, zog durch die Ritzen und Spalten, ehe ihn seine Kraft verließ und die nächste Böe versuchte, die Steine voneinander zu lösen, die Balken zu berste und die Ziegel von den Dächern zu blasen.
Aber auch dieses Mal sollte es vergebens sein. Das Gebäude war massiv, aus unzähligen Tonnen von festem Stein, tief in den Boden verankert und schon von so manchem Sturm angegriffen worden. Doch es hielt stand, so wie es immer stand hielt. Nichts Neues.
Sam saß auf seiner Pritsche. Er hatte sich die Decke um die Knie gelegt und schaute gebannt aus dem winzigen Fenster, wo er bei jedem Blitz die dunklen Wolken anstarrte, die ihm zulächelten wie die bösen Gesichter in seinen Träumen. Und der Mann im Mond, der zu ihm kam, nicht mehr als ein Gesicht, dass ihn anstarrte.
Jetzt waren sie draußen, aber er war sich sicher, dass wenn er wieder einschlafen würde, sie dort auf ihn warten würden. So war es immer gewesen.
Wieder grollte Donner, das Fensterglas erzitterte und Sam griff so heftig in seine Decke, dass die Knöchel in seinen Händen knackten. Schweiß tropfte von seinem nackten Oberkörper, aber er fror. Die Heizungen funktionierten nicht, taten sie selten. So lange draußen kein Schnee lag, würden sie auch nicht angeschaltet werden. Sparen – das war angesagt. Am Strom, am Essen, am Personal.
„Probier`s mal mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit“, flüsterte Sam leise vor sich hin und rutschte auf seiner Pritsche weiter nach hinten und lehnte seinen nassen Körper an die kalte Wand. Ihm schauderte, aber das Lied half ein wenig. Immer wenn ihm kalt war half ihm dieses Lied. Wenn er Angst hatte oder sich einsam fühlte dann sang er es auch. Manchmal vertrieb es die Gesichter, aber nicht für lange. Sie kamen immer wieder, aber in letzter Zeit war es schlimmer geworden. Jetzt sah er sie nicht nur, wenn die Lichter ausgemacht wurden, sondern auch am Tag. In der Dusche, wenn die anderen ihn auslachten und ihn unter das kalte Wasser stellten (was sie gerne machten, sie lachten dann immer und klatschten mit ihren Händen auf seinen Bauch und seinen Hintern) oder wenn er in den Keller musste und sie das Licht ausmachten. Im Keller war es besonders schlimm, da sah er die Gesichter fast immer. Sie waren hinter den Vorhängen und unter dem Teppich, manchmal auch im Schrank oder hinter den Bildern, die an den Wänden hingen. Sie lachten und flüsterten. Schlimme Dinge, böse Sachen.
„Sam?“
„Ja.“
„Hast du Angst vor dem Sturm, Sam?“
„Ja.“
Stille, der Donner grollte. Der Donner und der Sturm kamen oft in letzter Zeit. Wahrscheinlich war bald wieder die böse Jahreszeit. Wenn es kalt wurde und der Baum im Hof seine bunten Kleider von sich warf dann war es ein Zeichen dafür, dass die Gesichter die Sonne wieder verdrängt hatten. Dann kamen sie öfter, manchmal schon früh am Nachmittag, noch bevor die Klappe aufging und die Schalen hindurch geschoben wurden. Dann versteckten sie sich unter den Deckeln und warteten nur darauf, dass er sie hochhob.
„Singst du immer noch dieses Lied?“
Sam schloss die Augen und drückte sich die Fäuste auf die Ohren. Er wollte nicht hören was das Gesicht zu ihm sagte. Es war irgendwo hier im Raum oder in den dunklen Schatten da draußen, aber wenn er die Augen schloss und ganz fest an etwas anderes dachte ließen sie ihn meistens in Ruhe.
„… mit Ruhe und Gemütlichkeit. So geht es doch, nicht wahr?“
Sam schüttelte den Kopf und versuchte, die Stimme aus seinem Kopf zu vertreiben. Er dachte an Balu und seine Freunde, an den bunten Dschungel und die tanzenden Affen, die Herde aus diesen großen Tieren mit den langen Nasen (wie hießen sie doch gleich?) und die schönen Lieder und Melodien, die ihn einschlafen ließen. Sie waren seine Freunde und waren jeden Tag bei ihm wenn die Gesichter wieder gemein zu ihm waren.
„Sam, gefallen dir deine bunten Freunde? Du willst sie doch bestimmt einmal wieder sehen?“
Sam nickte und begann zu weinen.
„Ich kann sie töten, Sam. Ich lass sie verschwinden – für immer. Dann bist du ganz alleine mit mir. Dann können wir reden, oder?“
„Geh weg!“, schrie Sam und begann, laut zu weinen. „Verschwinde von hier, du wirst ihnen nicht weh tun! Lass sie in Ruhe.“
Die Stimme lachte. Sam öffnete die Augen und konnte das Gesicht genau vor sich sehen. Es war groß und böse, und irgendwo unter der Krempe seines Hutes mussten Augen sein, die ihn böse anfunkelten. Sehen konnte er sie nicht.
„Probier`s mal, mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit.“ Eine kurze Pause, dann sagte Balu: „Sam, er wird uns töten. Bitte Sam, du darfst uns nicht im Stich lassen.“
„Nein!“, schrie Sam laut. Donner grollte und übertönte seinen Schrei. Schon zuckte der nächste Blitz auf und erhellte den kleinen Raum. Balu und die große, schwarze Katze standen an der Wand, daneben ein großes Gesicht. Das Gesicht lachte und formte mit den Lippen Worte, die böse waren.
„Geh weg!“, schrie Sam und sprang von seiner Pritschte auf. Er packte das kleine Nachtkästchen, das am Boden angeschraubt war, und riss es mit einem lauten Schrei aus seiner Verankerung. Mit einem wilden Brüllen warf er es auf das Gesicht. Es flog hindurch und zerschellte an der dahinterliegenden Wand, wo es in Dutzende Teile brach.
Draußen, hinter seiner Tür, erklangen gedämpfte Stimmen. „Ruhe!“, rief jemand, aber Sam konnte es nicht hören. Er riss die Matratze herunter und schleuderte sie wild im Raum herum. Das Gesicht wich mit einem Grinsen auf den Lippen zurück, aber seine Freunde waren schon verschwunden. Der Raum war leer, nur noch Sam und das Gesicht. Er schrie laut auf, warf die Matratze auf das Gesicht und stürzte sich dann keuchend dagegen. Er schlug gegen die Wand und seine Lippe und seine Nase begannen zu bluten, aber das merkte er nicht.
„Sam, ich werde sie töten, und du kannst mich nicht aufhalten. Nicht so!“
Sam wirbelte herum, packte das Waschbecken, das an der Wand festgeschraubt war und riss es aus der Wand. Wasser tropfte auf den Boden und er rutschte kurz weg, ehe er sein Gleichgewicht wieder fand und das Waschbecken hoch über seinen Kopf hielt.
Draußen kamen jetzt die Schritte von mindestens drei Leuten näher. Sie redeten miteinander. Auch das Licht hatten sie angemacht. Auf ihrem Weg zu Zelle dreiundvierzig wurden sie von teils wütenden, teils anfeuernden Rufen begleitet. Die ganze Station war auf den Beinen, Sam hatte wieder eine seiner Attacken. Sie schlugen gegen die Gitterstäbe, grölten seinen Namen und benutzten alles was nicht angeschraubt war, um Lärm zu machen. Wieder ein Vorfall mehr, schon der dritte in diesem Monat. Eine gute Abwechslung, ist sonst die meiste Zeit ganz schön langweilig hier. Wieder einen Bericht für die Wärter, vielleicht auch wieder eine Woche Fixierung und Spritzen für Sam.
Sam schleuderte das Waschbecken mitten in das Gesicht. Es verschwand vor seinen Augen im selben Moment, wie das Waschbecken gegen die Wand donnerte und scheppernd liegen blieb. Keine zwei Sekunden später erreichten die Wachen seine Zelle, schlossen auf und stürmten, mit Schlagstöcken und Pfefferspray bewaffnet, hinein.
Sam wich schwer atmend an den hinteren Rand seiner Zelle zurück, aber die Wachen waren wütend. Er kauerte sich auf den Boden und zog die Beine an den Körper, aber auch sein Weinen und Flehen war ihm keine Hilfe. Sie schlugen auf ihn ein, traten nach ihm. Jemand sprühte ihm etwas in die Augen und er wusste sofort, was es war. Es brannte und er würde die nächsten zwei Tage nicht richtig sehen können. Nur die Gesichter würden noch da sein, da war er sich sicher. Sie waren auch dann da, wenn er seine Augen geschlossen hatte.
„Warum hältst du nicht endlich deine Klappe?“, schrie einer von ihnen. Ein anderer, der mit dem brennenden Zeug, packte seinen Kopf und schlug ihn gegen die Wand.
„Je-de scheiß Nacht das selbe!“ Bei jeder Silbe ein Schlag. „Willst du wieder ins Loch, Sammy? Sollen wir dich wieder ins Loch stecken damit du ruhig bist?“
Sam fiel zur Seite und hielt sich die Hände schützend vors Gesicht.
Während sie noch weiter auf ihn einschlugen erschien ihm Balu vor den Augen. Seine großen Bärenaugen strahlten ihn an und auf seinem Gesicht war ein fröhliches Lächeln zu sehen. „Hast uns gerettet, Großer! Bist unser Freund!“
Dann wurde es dunkel um Sam. Er schlief wieder ein, die Gesichter ließen ihn in Ruhe.
In der Ferne die Stimmen der Wachen. „Lass gut sein, Pete. Er bewegt sich nicht mehr.“
„Sollen wir den Doc rufen?“
„Nein. Legt ihn auf sein Bett und deckt ihn zu. Der kann ihn sich morgen auch noch anschauen. Oder willst du ihn mitten in der Nacht anrufen und bei dem Scheiß-Wetter herkommen lassen? Für ihn?“
Stille Zustimmung. Sam wurde auf sein Bett geschmissen und seine Arme und Beine an der Pritsche befestigt. Fester angezogen als nötig, würde blaue Flecke geben. Aber das war nicht ungewöhnlich.
Die bunten, die mit dem großen Clown auf der Verpackung, mochte er am liebsten. Der Clown lachte immer ganz fröhlich, die zwei Kinder ebenfalls. In seinen Händen hielt er eine Schale mit Milch und den leckeren farbigen Kringeln darin. Aus der Schale kam ein riesiger Wasserfall der so groß war wie die Kinder daneben. Der Wasserfall (oder eigentlich besser ein Milchfall) erstreckte sich bis über den Boden und spritzte dann in alle Ecken und Kanten der Verpackung. Die bunten Kringel flogen überall rum wie Konfetti bei einer Geburtstagsparty. Die weißen Zähne der lächelnden Kinder blitzten auf, ihre Augen funkelten fröhlich, während sie den Clown, der bestimmt so einige Tricks auf Lager hatte, anschauten. Aus seinem Mund war eine unförmige Sprechblase geformt, in der groß die Worte „Fruutiiss“ stand. Fruutiiss, die mochte Sam am liebsten.
Es war ungewöhnlich warm an diesem Abend im April. Die Sonne war schon vor einer Stunde untergegangen, aber es hatte bestimmt noch fünfzehn Grad auf der Straße. In der kleinen Tankstelle war es noch ein bisschen wärmer, wahrscheinlich lief die Heizung. Barbara, die alte Frau an der Theke, hatte einen dicken Pullover an und einen Schal um den Hals. Sie las eine Zeitung und hatte sich eine Zigarette angezündet. Die Asche fiel ihr immer wieder herunter ehe sie es zum Aschenbecher zu ihrer Linken schaffte, aber das fiel ihr gar nicht auf. Nur ab und zu warf sie einen Blick von ihrer Zeitschrift auf und beobachtete den seltsamen Kerl, der als einziger Kunde zwischen ihren Regalen hin und her streunte und immer wieder einen nervösen Blick über die Schultern warf. Sie hatte ihn schon öfter hier gesehen und bisher hatte er ihr noch nie Probleme gemacht - sie betete, dass es auch heute so bleiben würde. Er zahlte immer brav seine Rechnung, sprach nicht viel und wollte auch sonst nichts wissen. Vielleicht war er behindert, aber das war Barbara egal. Sie hatte selbst einen behinderten Cousin, saß die ganze Zeit nur in seinem billigen Rollstuhl, sabberte und stöhnte, während ihn seine Mutter durch die Gegend schob. Manchmal wünschte sie sich er wäre tot. Nicht um ihretwillen, sondern um seinen. Aber das war Gottes Angelegenheit, sollte er sich damit beschäftigen wenn er ein wenig Zeit fand.
Aus dem alten Radio an der Ecke wünschte ein unnatürlich gut gelaunter Moderator allen Zuhörern einen angenehmen Abend. Er redete davon, dass es die nächsten Tage so schön warm bleiben würde und dass man es genießen sollte, schließlich war die nächste Regenfront nur wenige Tage entfernt und niemand konnte sagen, wann sie wieder vorüber ziehen würde. Er verabschiedete sich und es erklang ein alter County Song, den Barbara schon oft gehört hatte. Allerdings fiel ihr der Name nicht ein.
Die Tür ging auf. Die kleinen Glöckchen bimmelten wild und es kamen zwei Männer herein. Einer von ihnen trug einen Baseballschläger, aber das konnte Barbara nicht sehen, weil sie zu sehr in ihre Zeitung vertieft war. Sie fand keineswegs dass es zu warm war für die Jahreszeit. Zu warm - das konnte sie sich gar nicht vorstellen. Vielleicht im Death Valley oder irgendwo in Zentralafrika, aber nicht hier. Und vor allem nicht mitten im April.
Der zweite Kerl, etwas kleiner als der andere, mit dichtem Bart und einer ausgewaschenen, verbleichten Mütze der New York Nicks auf dem Kopf, studierte kurz die Umgebung. Nur ein Kerl zwischen Regal zwei und drei, etwas dümmlicher Gesichtsausdruck. Er würde ruhig sein. Und wenn nicht - was sollte passieren? Würden sie ihn eben kalt machen. Sie würden aus dem Staat sein noch ehe einer dieses Drecksloch auch nur betreten würde.
Sam hörte die Glöckchen bimmeln. Er wandte sich von seinen Fruutiiss ab und schaute über die Schulter. Ein grimmig drein blickender Mann schaute kurz zu ihm herüber, drehte sich aber dann wieder um. Irgendwo war noch ein zweiter Kerl, aber der war Sam egal. Er vergaß sofort wieder, ihn gesehen zu haben und wandte sich wieder seinen Fruutiiss zu. Mit einer Hand griff er in seine linke Jackentasche und kramte das Kleingeld heraus, das er immer darin aufbewahrte. Es schaute nicht nach viel aus, aber aus Erfahrung wusste er, dass es reichen würde. Manchmal glaubte er, Mr. Higgins bezahlte im zu wenig. Wahrscheinlich weil er dachte, Sam wäre ein wenig zurückgeblieben, was auch stimmte, das wusste Sam selbst. Aber er war keineswegs so dämlich, wie Mr. Higgins es zu diesem Zeitpunkt geglaubt hatte. Sam bekam sehr wohl mit, wie sie hinter seinem Rücken über ihn lästerten, ihn auslachten und ihn immer wieder die dümmsten Sachen machen ließen. Er spielte mit, weil er es satt hatte, sich dagegen zu wehren. Schon vor Jahren hatte er gelernt, dass es ihm nichts brachte, wenn er sich so klug gab wie er wirklich war (was nicht besonders war). So wurde man wenigstens unterschätzt und konnte zuschlagen, wenn sie am wenigsten damit rechneten.
Barbara wandte sich schließlich doch von ihrem Artikel ab um zu sehen, was die beiden neuen von ihr wollten. Die Zapfsäulen waren um diese Uhrzeit schon geschlossen, also brauchten sie bestimmt Alkohol oder Zigaretten. Sollten sie bekommen.
Der Baseballschläger traf sie seitlich am Kopf noch ehe sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte. Sie spürte einen dumpfen Schmerz und ein helles Pfeifen im Ohr, dann wurde ihr schwarz vor Augen und sie flog von ihrem Stuhl. Der Rest ihrer Zigarette fiel ihr aus dem Mund und landete auf dem Fußboden. Die Glut wurde sofort vom ausströmenden Blut gelöscht.
„Scheiße Pete, spinnst du?“, zischte der kleinere von den beiden Männern und schlug Pete gegen die Schultern. „Du solltest sie ausschalten, nicht umbringen!“
Pete zuckte mit den Schultern und warf einen Blick auf die Kassiererin. Sie zuckte auf dem Boden und ihr lief Blut aus Ohren und Nase.
„Die wird schon wieder, Jim. Die werden alle wieder.“
Jim winkte ab, griff an seinen Hosenbund und zog eine nicht geladene Pistole heraus. Sie war aus Prinzip nicht geladen - er war vielleicht ein Räuber, aber wollte kein Mörder werden. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie ihn doch mal schnappen sollten, wollte er zumindest die Möglichkeit offen lassen, nicht mit dem Leben für seine Taten bezahlen zu müssen. Pete war das egal, was ihn wiederum nicht störte. Sollten sie Pete schnappen würde er keine Sekunde zögern, ihm alles in die Schuhe zu schieben.
Er ging zwischen Gang zwei und drei, wo Sam sich, erschrocken vom Lärm, umgedreht hatte. Er stand leicht gebückt da und schaute mit großen Augen auf Jim, der jetzt vor ihm erschien und ihm die Waffe vors Gesicht hielt.
„Ein Wort und ich schieß dir genau zwischen deine hässlichen Augen, Junge. Verstanden?“
Sam nickte. So etwas kannte er aus dem Fernsehen und er wusste, wenn er jetzt etwas sagen würde, dann konnte er sterben. Die Männer und Frauen im Film begannen oft zu zittern oder zu weinen, aber er blieb ganz ruhig. Gelassen stellte er seine Packung Fruutiiss auf den Boden und hob ansatzweise die Hände, um seine Friedfertigkeit zu bestätigen.
„Gut.“ Jim leckte sich mit der Zunge über die Lippen. Kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er war nervös, viel nervöser als sonst. Pete hätte die Frau nicht so schlagen müssen. Das war nicht gut, wegen sowas konnte man bei den Cops schon mal in eine ganz andere Liga aufsteigen. Vom Tankstellenüberfall zur schweren Körperverletzung mit eventueller Todesfolge - da wurde man schnell zum großen Fisch im kleinen Teich.
„Pack alles ein was du finden kannst“, schrie er Pete an. „Schau auch ob sie wertvollen Schmuck bei sich trägt.“
„Ja, mach ich.“ Pete war bereits hinter dem Tresen verschwunden. Den Baseballschläger hatte er auf der anderen Seite stehen gelassen. Mit geschickten Fingern machte er sich an der Kasse zu schaffen.
Jim drehte sich wieder zu Sam. „Schön ruhig bleiben, Mann. Dann wird hier keinem etwas passieren.“ Sein Blick fiel auf die Münzen in Sams Hand. „Hast du da noch mehr von?“
Sam schüttelte den Kopf, aber Jim machte mit der Waffe eine drohende Bewegung zu ihm. „Leer deine Taschen aus, sofort!“
Sam tat wie ihm befohlen. Ihm war es egal, er hatte alles in allem keine drei Dollar mehr bei sich. Morgen gab’s wieder Geld von Mr.Higgins, dann hätte er aufpassen müssen. So legte er die paar Münzen ruhig auf den Boden, hob wieder die Hände und starrte mit leerem Blick an dem Mann vor sich vorbei.
Jim betrachtete einen Augenblick lang ungläubig die paar Münzen. „Du verascht mich, oder?“
Sam schüttelte den Kopf.
„Bist du dumm oder so?“ Jim fragte das aus ehrlichem Interesse heraus. „So wie Forrest Gump?“
„Ich kenne keinen Mr. Gump, Sir.“
Jim legte den Kopf ein wenig schräg. „Scheiße Mann, du bist wirklich ein Trottel, oder?“
Sam zuckte mit den Schultern. Was sollte er darauf auch antworten? Man hatte ihn schon öfter als dumm bezeichnet, für ihn war das nichts Außergewöhnliches mehr. Und sich darüber zu ärgern hatte er schon in seiner frühestens Kindheit aufgegeben. Schließlich hatten die Leute ja recht, irgendwie.
„Woher kommst du, Trottel?“
„Aus der March-Street.“
„Du wohnst alleine?“ Jim lachte laut auf. „Hey Pete, wenn du fertig bist musst du dir unbedingt diesen Kerl hier anschauen.“
„Hab’s gleich“, antwortete Pete. Die Kasse war überraschend gut gefüllt und Pete achtet penibel darauf, auch ja keinen Cent irgendwo zu vergessen.
„Hat man mal deinen IQ gemessen?“
Sam wusste nicht, was ein IQ war, darum schüttelte er den Kopf.
„Kannst du lesen?“
Sam nickte. Nicht gut, aber er kam zurecht.
„Weißt du, was wir hier machen, Dummkopf? Verstehst du das?“ Jim leckte sich mit der Zunge über seine Lippen und die Haut drum herum. Sie glänzte ganz feucht im Licht der Neonröhren an der Decke.
„Ihr nehmt der alten Frau das Geld weg, ja.“
„Glaubst du, dass wir deshalb schlechte Menschen sind?“
Sam überlegte kurz, dann nickte er.
„Nein, sind wir nicht, Trottel. Kennst du die Geschichte von Robin Hood?“
Sam schüttelte den Kopf.
„Robin Hood war ein Mann des Volkes – so wie mein Freund und ich hier. Wir nehmen das Geld von den Reichen und schenken es den Armen. Wir tun hier also eigentlich etwas Gutes!“
„Aber die Frau ist doch gar nicht reich“, warf Sam ein. Zumindest glaubte er das. Sie trug keine schönen Sachen und manchmal hatte er sie in einem alten, grauen Auto wegfahren sehen, das auch nicht teuer gewesen sein konnte.
„Wie kommst du darauf, mein dummer Freund?“, fragte Jim wieder ehrlich interessiert. Er hatte seine Waffe sinken lassen. Von diesem Kerl brauchte er wirklich keine Angst zu haben.
Sam zuckte mit den Schultern. Er wollte nicht weiter reden. Sein Magen knurrte und er wurde langsam müde. Der Tag war anstrengend gewesen und er freute sich schon sehr auf seine Packung Fruuttiis.
Jim wollte etwas sagen, aber Pete kam um die Ecke gebogen. Er hatte einen Plastikbeutel dabei, in dem die Münzen aus der Kasse leise knirschten. Den Baseballschläger trug er in der anderen Hand.
„Lass uns abhauen, Jim. Ich glaube, dieses Mal bin ich zu weit gegangen.“
„Was meinst du?“
„Die Frau …“ Pete schaute sich nervös um. „Ich glaube, sie ist tot.“
Jim starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Hast du das überprüft? Hast du ihren Puls gemessen?“
Pete schüttelte den Kopf. „Sie atmet nicht mehr, Jim. Komm, lass uns jetzt abhauen.“ Seine Stimme überschlug sich fast und sein Gesicht hatte jene Züge angenommen, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. „Ich wollte das nicht, Jim, wirklich.“
„Halt die Schnauze jetzt!“ Er drehte sich wieder zu Sam. „Du, komm mit und fühl ihren Puls.“ Er hob seine Waffe wieder höher und zeigte damit genau auf Sams Gesicht. „Und wehe, du machst jetzt auch nur eine falsche Bewegung.“
Sam dachte nicht daran. Er bückte sich, hob seine Packung Fruuttiis auf und ging dann an den beiden Männern vorbei zur Theke. Die alte Frau lag dahinter in einer riesigen Pfütze aus Blut. Ihre Augen waren leicht geöffnet und unter ihrer Nase und um ihren Mund war alles verkrustet.
Er ging in die Hocke und passte einen Moment nicht auf. Seine Packung fiel ihm aus der Hand und landete erst auf ihrem Kopf und rutschte dann ins Blut hinunter. Sam gab einen erschrockenen Laut von sich und zog die Packung wieder heraus. Der Clown hatte jetzt ein ganz rotes Gesicht und die Schrift in seiner Sprechblase war nur noch schwer zu lesen. Hoffentlich war noch kein Blut durch den dünnen Karton gesickert, das würde er nämlich nicht mehr essen wollen.
Vorsichtig stellte er die Packung auf den Tresen, hinter dem Pete stand. Er hatte Tränen in den Augen und kaute jetzt nervös an einem seiner Fingernägel herum. Jim stand hinter ihm, die Waffe immer noch zitternd in seiner Hand. Er überlegte fieberhaft. Wenn diese Frau wirklich tot war dann war es sehr gefährlich, diesen Trottel hier am Leben zu lassen. Auch wenn er dumm war, aber bei einer Gegenüberstellung würde er sie mit Sicherheit erkennen können. Wahrscheinlich wusste auch Pete das.
„Fühl ihren Puls!“
Sam schaute ihn fragend an.
„Hast du noch niemals den Puls einer Person gefühlt?“
Sam schüttelte den Kopf und Jim hob flehend die Hände in den Himmel. „Warum, großer Gott, warum tust du mir das an?“ Er murmelte etwas mit geschlossenen Augen vor sich hin und Sam wartete geduldig ab.
„Weiß du, wo das Herz ist?“
Das wusste Sam und er zeigte auf seine Brust.
„Na wenigstens das. Fass ihr an die Brust und schau, ob ihr Herz noch schlägt.“
Zum Glück lag die Frau auf der rechten Seite, so dass es für Sam kein Problem war, ihre linke Seite zu fühlen. Sie hatte nur kleine Brüste und so war es ein Leichtes, den Herzschlag zu finden. Doch da wo er sein sollte war nichts. Er wartete einige Sekunden, dann nahm er seine Hand wieder von ihr und schüttelte den Kopf.
„Scheiße!“, brüllte Pete. Er lehnte sich über den Tresen und wischte alles, was darauf stand, mit einem Schrei herunter. Die Kasse flog auf den Boden, daneben eine Packung mit Feuerzeugen, Kugelschreibern und Kaugummis, die wiederum gegen einen Zeitschriftenständer flogen und diesen umwarfen. Auch Sams Fruuttiis kamen nicht ungeschoren davon und landeten an der Stelle zwischen Tresen und Fensterscheibe. Die Packung platzte auf und die kleinen bunten Fruchtkringel fielen durch das Loch.
Sam fühlte, wie sich Wut in ihm ansammelte. Sie hatten nicht das Recht, so etwas zu tun. Nicht das Recht, eine Frau umzubringen und nicht das Recht, ihm seine Fruuttiis wegzunehmen. Er ballte die Hand zu einer Faust, blieb dann aber doch ruhig. Das hatte man ihm früher so beigebracht: die Wut kontrollieren. Es war gefährlich, seine Wut nicht unter Kontrolle zu haben.
Jim biss nervös auf seiner Unterlippe herum. Hinter seiner Stirn arbeitete es. Den Trottel töten und abhauen? Oder dem Trottel irgendwie die ganze Sache unterschieben?
„Was machen wir jetzt?“, stöhnte Pete. Seine Hände zitterten stark und er musste sie mit aller Kraft auf den Tresen drücken, um sie ruhig zu bekommen. Seine Knöchel traten unter der gespannten Haut hervor.
„Abhauen“, antwortete Jim schließlich seufzend. „Wir müssen schleunigst Land gewinnen.“
„Und was ist mir ihm?“ Pete nickte zu Sam, der immer noch ruhig neben der toten Kassiererin saß. Er hatte ihr nochmal an die Brust gefasst, aber eigentlich wollte er nur mal spüren, wie sie sich so anfühlten. Er hatte nicht oft die Gelegenheit dazu. Sonderlich befriedigend war das Ergebnis allerdings nicht und er war mit den Gedanken wieder bei seiner Packung Cornflakes angekommen, die jetzt außerhalb seines Blickfeldes lagen und über den ganzen Boden verstreut waren.
Jim stieß ihn mit dem Fuß. „Steh auf, Mann.“
Sam gehorchte, obwohl er es nicht guthieß, dass der Kerl ihn mit dem Schuh trat. Doch noch bevor er ganz auf den Beinen war stieß Jim ihn ein weiteres Mal, dieses Mal heftiger. Sam verlor das Gleichgewicht und stürzte auf die Frau. Seine Hände rutschten über den blutigen Boden, er fand keinen Halt und landete bäuchlings auf der Frau. Der Geruch von Blut stieg ihm in die Nase und er glaubte, sogar noch etwas anderes zu riechen, schwach, aber eindringlich. Wie am Bahnhof, dachte er noch während des Fallens.
„Oh nein!“, rief Jim ironisch aus und warf Pete einen nervösen Blick zu. „Das wollte ich nicht, Junge. Pete, mach mal deine Keule sauber und gib sie ihm, damit er sich daran hochziehen kann. Das ganze Blut hier – unglaublich glitschig.“
Pete nickte verstehend. Er packte sich eine Flasche Wasser, riss einen Schwamm zur Autoreinigung aus seiner Verpackung und reinigte seinen Baseballschläger sehr gründlich. Dann umfasste er das Ende des Schlägers mit dem Lappen und reichte ihm Sam, der sich nicht bewegt hatte.
„Hier, greif zu. Ich zieh dich hoch.“
Sam packte zu, aber es fiel ihm schwer, Halt zu finden. Seine ganzen Hände waren voller Blut und er rutschte immer wieder ab. Nach drei vergeblichen Versuchen gelang es ihm schließlich doch und Pete zog ihn schwer atmend in die Höhe. Jim betrachtete das ganze Geschehen aus sicherer Entfernung und ging währenddessen noch einmal alle Punkte durch. Hatte er etwas vergessen? Etwas angefasst vielleicht, wo seine Fingerabdrücke sein konnten?
„Pete, die Kasse. Mach sie sauber!“
Pete nickte und machte sich mit den selben Mitteln daran zu schaffen. Sam beobachtete alles mit großen Augen.
„Was macht ihr hier?“
„Sauber. Ist ein ziemliches Chaos hier, findest du nicht auch?“
„Ja.“
Jim beobachtete Sam mit scharfen Augen. „Du hast auch einiges abbekommen. Du solltest jetzt dann nach Hause gehen und dich sauber machen.“
„Mr. Higgins sagt, ich soll immer schön sauber in die Arbeit kommen.“
„Da hat er auch recht“, pflichtete Jim ihm bei. „Am besten lässt du dein Shirt gleich hier liegen und ziehst dir etwas anderes an. Dort drüben gibt es einen Kleiderständer, da ist bestimmt was in deiner Größe dabei.“
„Aber ich kann es nicht bezahlen.“
Jim winkte ab und setzte ein Lächeln auf. „Das ist nicht schlimm, wir übernehmen das für dich. Schließlich war es mein Fehler dass du in diese Sauerei gefallen bist.“
Sam legte den Kopf leicht schräg. In seiner Hand drehte er den Baseballschläger, an dem jetzt eine Menge seiner blutigen Fingerabdrücke waren. Ein einfacher Schläger, ohne Aufdrucke oder Tape um den Griff. Mit diesem Ausdruck im Gesicht kam er Jim noch einmal zehn Prozent dümmer vor als er ohnehin schon war.
Dann ging Sam an Jim vorbei weiter hinten in den Laden. Dort hingen an einem rostigen Kleiderständer zwanzig verschiedene Jacken und Pullover, kariert oder einfarbig, mit Kapuze und ohne. Sam begutachtete sie interessiert.
Jim schaute ihm einen Augenblick lang zu, dann wandte er sich wieder an Pete. „Wie weit bist du?“
„Hab’s gleich.“ Er warf einen Blick über die Schultern. „Was hast du mit ihm vor? Ihn einfach gehen lassen?“
Jim senkte die Stimme. „Mach hier alles schön sauber, hörst du? Und dann gib mir die Tüte mit Geld.“
„Du willst sie ihm mitgeben?“, flüsterte Pete entsetzt. Dann überlegte er und nickte schließlich. „Naja, besser ein Überfall ohne Beute als ein begangener Mord und Gefängnis.“
Jim nickte. „Und dann verlassen wir für eine Zeit diese Gegend. Die Polizei wird ihn wahrscheinlich schnappen, aber auch wenn er ein Trottel ist, kann er ihnen immer noch die Wahrheit sagen. Es ist also besser wenn wir vorerst ein wenig untertauchen.“
„Meine Rede, Junge, meine Rede.“ Pete wuchtete die alte Kasse schwer schnaufend zurück auf den Tresen. „Fertig.“
Jim drehte sich wieder zu Sam um. Der hatte sich mittlerweile eine Jacke ausgesucht. Sie war dunkelrot und hatte einen goldenen Baum (eine Eiche oder etwas in der Art) auf die Brust gedruckt. Jim winkte ihn zu sich heran.
„Alles klar, wir gehen jetzt und rufen einen Krankenwagen. Du solltest jetzt auch gehen und dir noch einen schönen Abend machen. Mr. Higgins wird dich morgen bestimmt ausgeschlafen wieder haben wollen.“
Sam nickte, aber er hatte ein ungutes Gefühl. Irgendetwas passte ihm nicht an dem Kerl mit den dreckigen, blonden Haaren. Seine Augen fixierten ihn sehr aufmerksam und seine Lippen zeichneten ein sanftes Lächeln ab, das ihm unbehaglich war.
„Hier, das nimmst du bitte noch mit. Dafür, dass ich dich versehentlich gestoßen habe und du so schmutzig geworden bist.“ Jim reichte Sam die Tüte mit dem Geld. Sam nahm sie an, blickte hinein und lächelte. Nein, so viel Geld hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Dafür musste er sehr lange arbeiten.
„Lag ein paar Dollar für diese schöne Jacke auf den Tresen. Du willst ja hier keinen Diebstahl begehen, oder?“
Sam schüttelte den Kopf. Er hatte früher schon manchmal Dinge gestohlen, aber das hat immer großen Ärger heraufbeschworen. Und manchmal auch Schläge, ganz früher.
„Meine Fruutiiss?“ Er zeigte auf den Boden, wo seine Packung mit dem lustigen Clown auf der Vorderseite lag – aufgeplatzt und verdreckt.
Pete, der während der ganzen Unterhaltung still im Hintergrund gestanden hatte, sich immer wieder umdrehte und nervös von einem Bein auf das andere stieg, rief ungeduldig: „Hol dir in dem scheiß Regal halt einfach neue und dann schau das du hier rauskommst!“
Sam schaute traurig auf den Boden. Er mochte es nicht, wenn man ihn anschrie. Mr. Higgins schrie ihn auch an, aber das war etwas anderes. Er war sein Boss. B-O-S-S. Der durfte das, sagte zumindest Kelly, die nette Frau vom Sozialamt.
„Ruhig Pete!“, ermahnte ihn Jim und hob beruhigend die Hand. „So spricht man nicht mit jemandem, kapiert?“
Pete fuhr sich mit den Händen durch die Haare. „Das ist mir scheiß egal, Jim! Lass uns jetzt von hier verschwinden, kapiert?“
„Hol ihm eine neue Packung, Pete. Da drüben, ziemlich weit hinten.“
Pete starrte ihn mit offenem Mund an. Seine linke Hand ballte sich immer wieder zur Faust. In diesem Moment wünschte er sich, er hätte den Baseballschläger noch.
Es sollte nicht das letzte Mal bleiben.
Kopfschüttelnd setzte er sich in Bewegung, streifte Sam mit der Schulter, so dass der einen Ausfallschritt machen musste, um nicht zu stürzen. Jim atmete tief durch. Gleich war es geschafft. Junge, gleich bist du durch.
Er hörte er Poltern, dann, nach wenigen Sekunden: „Jim?“ Pete lachte, aber es war kein fröhliches Lachen. „Das war die letzte beschissene Packung glaub ich. Hier ist nichts mehr, nur noch das Preisschild.“
„Bist du sicher?“
„Verfickte Scheiße nochmal, natürlich bin ich sicher!“, schrie Pete und kam wütend zurück gestampft. „Glaubst du ich kann nicht lesen?“
Jim enthielt sich einer Antwort. Hinter seiner Stirn arbeitete es hektisch. Er war das gewohnt, Pete hatte es nicht so mit denken. Er war eher der Arbeiter, während Jim die Führungsperson darstellte. Als Team eigentlich unschlagbar. Von so einem Trottel hier würden sie sich erst recht nicht in die Parade fahren lassen.
Noch während er nachdachte nahm die Geschichte eine unglaubliche Wendung.
Es begann damit, dass Pete sehen konnte, wie draußen ein Wagen vorfuhr. Er parkte ganz am Ende des Geländes und machte die Lichter aus. Aus dem Wagen heraus stiegen zwei junge Männer, keine dreißig Jahre alt und unterhielten sich angeregt. Pete war sich sicher, dass sie sie nicht sehen konnten, weil die Scheiben leicht verspiegelt waren, aber würden sie näher kommen, wäre alles zu spät.
Während er sich zu Jim herumdrehte fiel sein Blick auf die Packung jener Cornflakes, die dieser behinderte Kerl so gerne haben wollte. Mit dem großen Clown darauf und den lachenden Kindern. Die Packung war aufgeplatzt, aber so wie es aussah bestimmt noch mehr als siebzig Prozent des Inhalts darin.
Draußen schlugen die Autotüren zu und die beiden Männer standen noch bei ihren Wägen.
Pete hob die Packung auf.
„Hier, geht aufs Haus!“, schrie er und warf sie auf Sam zu. Die Packung drehte sich und noch mehr Fruuttiis flogen heraus. Sie flog am überraschten Jim vorbei, der noch versuchte, mit der Hand die Flugbahn zu verändern, sie aber verfehlte. Der Clown flog mit überraschender Genauigkeit auf Sams Kopf zu. Er war zu perplex um sich noch zu ducken, so dass sie ihn mitten im Gesicht traf. Die bunten Kringel verteilten sich wie ein Regenschauer im halben Laden, die Packung fiel von Sams Gesicht auf Sams Schultern und von da auf den Boden. Der Clown lachte jetzt nicht mehr sondern hatte statt eines Mundes einen riesigen, dunklen Riss im Papier. Sein Lachen war zu einer Fratze verzogen.
Sam betrachtete den Clown einige Sekunden mit einer Mischung aus Neugierde und Fassungslosigkeit. Dann kam das, was seine Betreuerin früher immer „den Schalter umlegen“ genannt hatte.
Sam packte seinen Baseballschläger fester und war mit vier, fünf großen Schritten bei dem überraschten Pete. Der reagierte ebenso langsam wie Jim, der Sam noch am Arm packen wollte, aber ebenfalls zu spät. Sam holte in der Bewegung mit seinem Schläger aus und zog voll durch. Der überraschte Pete wurde genau an der Seite des Kopfes getroffen, genauso wie Barbara vor ihm. Nur war der Schlag dieses Mal bei weitem Stärker, wäre ein echter Homerun gewesen, ein Schlag ins Publikum oder sogar über so manches niedrige Station hinaus gegangen.
Für Petes Kopf allemal zu viel. Sein Schädelknochen zersplitterte wie ein morsches Stück Holz, die Splitter bohrten sich umgehend in sein linkes Auge, zerstörten sein Trommelfell und drückten sich in sein Gehirn. Sein Jochbein wurde zertrümmert, mehrere Zähne wurden aus dem Kiefer gerissen und fielen als harmlose Geschosse aus seinem Mund. Noch bevor er am Boden ankam war er tot.
Jim schrie laut auf und zog seine Waffe. „Keine Bewegung, du dummer Hund, oder ich jag dir eine Kugel zwischen die Augen!“
Sam wirbelte herum. Er verstand nicht was der Kerl rief, alles was er hörte war das Pochen seines Herzens und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Er hob den blutigen Schläger über den Kopf und lies ihn auf Jims Hände herunter rauschen. Die Waffe wurde ihm aus den Händen geschlagen, die Hände an - wie die Gerichtsmedizin später herausfinden sollte - insgesamt achtzehn Stellen gebrochen. Schreiend vor Angst und Schmerz fiel Jim auf die Knie. Sam holte ein weiteres Mal aus und lies den Schläger genau auf Jims Scheitel niedergehen. Im nächsten Moment war es vollkommen still im Laden.
Sam wusste nicht, wie lange er so dagestanden hatte, als plötzlich das kleine Glöckchen der Tür bimmelte. Einen Augenblick lang war nichts zu hören, dann ein kurzer, entsetzter Aufschrei und die Tür fiel zurück ins Schloss.
„Ruf die Bullen, Mann!“
Leise Stimmen in der Ferne. Sam nahm sie fast gar nicht wahr.
Er blieb noch einige Minuten so stehen und beobachtete, wie das Blut vom Schläger auf den Boden tropfte, dann setzte er sich auf den Boden, lehnte sich an den Tresen und sammelte einige Fruutiiss ein, die überall verstreut lagen. Genüsslich steckte er sie sich, sortiert nach Farben und Geschmack, in den Mund und schaute auf den Deckenventilator, der sich langsam drehte.
Die Polizei kam acht Minuten später an.
„Hey, Wagner!“
Ein Tritt in die Seite. Sam wurde aus seinen unruhigen Träumen gerissen. Stöhnend versuchte er, die Hände vor das Gesicht zu schlagen, doch sie waren mit dicken Lederriemen am Bett fixiert. Vorsichtig öffnete er die Augen, doch über ihm war das gleißende Licht einer Lampe so hell, dass sie sofort zu tränen begannen und er sie stöhnend wieder zusammenkniff.
Er bekam wieder einen Tritt in die Seite, dieses Mal etwas fester.
„Lass gut sein, Pete. Er ist am Leben.“
„Teufel nochmal, der Blitz soll mich erschlagen wenn mir das nicht am Arsch vorbeigeht!“
Sam blinzelte aus einem Auge heraus. Er hatte starke Kopfschmerzen und einen sehr schlimmen Geschmack im Mund. Seine Beine waren ihm eingeschlafen und kribbelten jetzt unangenehm.
Über ihn gebeugt standen zwei Männer. Der eine hieß Pete, soviel hatte er mitbekommen, aber bei dem anderen war er sich nicht ganz sicher. Jeffrey oder so ähnlich. Pete war der jüngere der beiden, vielleicht Ende dreißig. Jeffrey war ein älterer Beamter, wahrscheinlich kurz vor der Pensionierung. Er trug einen dichten Bart und hatte kleine, trübe Augen, aus denen man nicht schlau wurde. Sam hatte gelernt, dass man an den Augen von Menschen ihr wahres Wesen erkennen konnte. Allerdings sah er bei Jeffrey nur zwei schwarze Punkte hinter den ergrauten Wimpern.
Pete hatte große Augen, in denen immer ein böses Glitzern lag. Er war derjenige, der Sam in den letzten fünf Jahren, seit denen er hier saß, mindestens achtmal so sehr verprügelt hatte, dass er dachte, sterben zu müssen. Zweimal hatte er auf der Krankenstation gelegen, die anderen male hatten er und Jeffrey es für besser gehalten, ihn einfach zwei Tage von der Arbeit freizustellen und auf seiner Pritsche in Ruhe liegen zu lassen. Sam wusste nicht, dass Pete beim zweiten Mal, als er ihn auf die Krankenstation geprügelt hatte, eine Abmahnung bekommen hatte und seitdem schwer aufpassen musste, wie er sich den Gefangenen gegenüber verhielt. Die Übergriffe waren seitdem nicht seltener geworden, liefen aber meist ohne bleibende Verletzungen aus.
Für Pete war dieser Job nur eine Art Übergangslösung. Sein Onkel war er Leiter dieser Anstalt und er würde in drei, vier Jahren diesen Posten übernehmen. Das war ihm klar, das war seinen Kollegen klar. Damit hatte er hier eine Art Sonderstellung eingenommen. Man sprach höflich mit ihm, versuchte sich mit ihm gut zu stellen. Man lud ihn auf private Feiern ein, ließ ihn beim monatlich stattfindenden Bowlingabend häufiger gewinnen als nötig und verschwieg so manche Missetat, die er den Insassen der Anstalt hier antat. Einzig der Zufall hatte es damals so gewollt, dass der eigentliche Arzt an dem Tag, an dem Sam mit fünf gebrochenen Rippen eingeliefert wurde, nicht im Haus war, sondern eine Vertretung. Der Vorfall wurde öffentlich, aber geschickt als „Unfall“ und „Notwehr“ behandelt; intern jedoch war Petes Onkel dazu gezwungen, seinem Neffen eine Strafe aufzubrummen, um die interne Ordnung zu wahren. Die Hoffnung von vielen, dass Pete vielleicht versetzt werden würde, bestätigte sich damals nicht.
„Mach ihm die Fesseln los und lass ihn aufsetzen. Der Doc ist gleich hier.“
Pete löste die Riemen an den Händen und an den Beinen, dann packte er zusammen mit Jeffrey Sam bei den Schultern und zog ihn hoch. Als Sam fast wieder umgekippt wäre packten sie ihn fester und lehnten ihn an die Wand. In Sams Kopf drehte sich alles, aber er sagte nichts.
„Tief durchatmen, Wagner. Das wird gleich wieder.“ Jeffrey klopfte ihm auf die Schultern. Pete verdrehte die Augen und spazierte durch die Zelle. Das zerstörte Waschbecken lag immer noch da wo Sam es gestern an die Wand geschmissen hatte. Die Handwerker kamen nicht vor zehn Uhr, so lange mussten sie dafür sorgen, dass Sam sich nicht von seiner Pritsche wegbewegte.
„Du hast ihm gestern ganz schön was mitgegeben“, brummte Jeffrey und betrachtete sorgfältig Sams Kopf. Eine dicke Platzwunde über seinem Ohr war über Nacht verkrustet, aber seine ganze Seite war voller eingetrocknetem Blut. Außerdem war seine Backe auf der linken Seite angeschwollen und blau verfärbt. Seine Augen, die Sam immer noch nicht öffnen konnten, waren stark gereizt und gerötet. „Der Doc wird Fragen stellen.“
„Der Doc kann mich mal, verstanden?“, rief Pete. Er hatte sich an die gegenüberliegende Wand gelehnt und sich eine Zigarette angesteckt. Rauchen war auf der Station verboten, aber das kümmerte ihn genau so wenig wie das, was auf ihn zukommen könnte, wenn diese Übergriffe nicht aufhörten.
Jeffrey schüttelte leicht den Kopf und klopfte Sam wieder auf die Schultern. „Tief durchatmen, klar? Der Arzt ist gleich da.“
Sam nickte stumm. Der Geschmack in seinem Mund war die Hölle, aber er wagte es nicht, vor den beiden auf den Boden zu spucken. Seine Nase lief ihm und verklebte seine Lippen und ein paar Bartstoppeln.
„Wie geht es Tina?“, fragte Pete beiläufig und blies den blauen Rauch in die dunkle Zelle.
Jeffrey schüttelte den Kopf. „Der letzte Arzt hat gemeint, sie sollte es noch mal mit einer Chemo probieren. Aber er hat ihr nicht viel Hoffnung machen wollen.“
„Macht sie’s?“
Jeffrey zuckte mit den Schultern. „Sie ist schwach, weißt du? Wiegt nur noch fünfundvierzig Kilo. Eigentlich zu wenig um das alles nochmal durchzustehen.“
„Scheiße.“
„Mhm.“
Pete nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und blies kleine Kreise in die Mitte der Zelle.
„Was sagst du dazu?“
„Zur Chemo?“
„Würdest du sie machen?“
Jeffrey lächelte, aber es war kein fröhliches Lächeln. „Ich weiß es nicht. Bin zum Glück bislang davon verschont geblieben. Aber ich glaube, es ist schlimm für sie. Sie hat ja schon drei Stück hinter sich und jedes Mal ging es ihr noch schlimmer. Nach der letzten waren wir sehr zuversichtlich dass es geholfen hat, aber dieser Rückschlag jetzt vor zwei Wochen war glaub ich zu viel für sie. Sie hat einfach keine Kraft mehr.“
Pete inhalierte tief. „Jeffrey, wenn das meine Frau wäre dann würde ich ihr aber sowas von in den Arsch treten. Sie hat kein Recht darauf ihr Leben zu verlieren und dich hier alleine zu lassen nur weil sie keine Kraft mehr hat für die Behandlung. Solange es auch nur den dünnsten Strohhalm gibt an den man sich klammern kann sollte man das auch machen!“
„Du hast leicht reden, Junge“, brummte Jeffrey. „Würdest du deine Frau gerne so leiden sehen?“
Pete schüttelte den Kopf. „Du wirst dir den Rest deines Lebens Vorwürfe machen, wenn sie diese Behandlung nicht macht. Was willst du denn in ein paar Jahren machen wenn du hier nicht mehr arbeitest? Den ganzen Tag in deinem kleinen Haus sitzen und Bier trinken, Spiele anschauen und dir einmal in der Woche ne‘ Nutte ins Haus holen?“
„Pete!“
„Bitte korrigier mich, wenn ich mich irren sollte, aber so würde es doch werden, oder nicht? Ist es das Wert? Tritt deiner Frau in den Arsch und sag ihr, sie soll sich gefälligst nicht so anstellen. Wenn schon nicht um Ihretwillen, dann doch wenigstens wegen dir!“
„So einfach ist das nicht“, antwortete Jeffrey traurig. Er tätschelte immer noch Sams Schulter als wäre es die seiner Frau. Irgendwie war Sam dankbar für diese Nähe. Er hatte lange keine Nähe von anderen Personen gespürt.
Pete zuckte mit den Schultern. Er hatte seine Zigarette aufgeraucht und warf den Stummel in die Nähe des am Boden liegenden Waschbeckens. „Mein Sohn ist jetzt Quarterback. Kaum zu glauben, oder?“
„Wie alt ist er jetzt?“
„Sieben. Er könnte aber schon bei den neun bis elfjährigen mitspielen weil er ziemlich groß für sein Alter ist. Und er ist gut, Jeffrey, richtig gut! Aus dem wird mal ein richtig großer!“
„Freut mich, Mann.“ In Wirklichkeit krampfte sich Jeffreys Magen zusammen. Er hatte Pete’s Junge noch nicht oft gesehen, aber der Kleine war ein wahres Biest. Kurzer, stoppeliger Haarschnitt wie bei den Marines und ein Auftreten, als wäre er der Kaiser von China. Jeff konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was dieser Junge in seiner Jugend machen sollte. Irgendwie kam er ihm schon so vor wie ein künftiger Straftäter und nicht wie ein Footballstar kommender Zeiten, aber er verkniff sich jeglichen Kommentar dazu. Wenn der Junge so werden würde wie Pete, der nur durch die harte Hand seines Vaters einigermaßen normal geworden war, dann würde er seine Pension gerne noch ein wenig heraus zögern um den Tag mitzuerleben, wie Pete Junior mit Fußfesseln eingeliefert werden würde.
„Sam?“
Sam zuckte zusammen und schaute auf. Aus dem linken Auge konnte er immer noch nichts sehen, aber das rechte war schon wieder ganz gut. Zum Glück war es relativ dunkel, sonst wäre er wohl nach wie vor blind. Am hinteren Ende der Zelle, direkt neben Pete, stand ein weiterer Mann. Er trug einen großen Hut mit umgekrempelter Schürze und hatte einen Spazierstock dabei, dessen Griff die Weltkugel darstellte. In der anderen Hand trug er einen kleinen Koffer, ziemlich heruntergekommen soweit Sam das sehen konnte.
„Hi Doc!“, murmelte er.
Pete und Jeffrey warfen sich einen fragenden Blick zu.
„Wie geht es dir, Sam?“
„Mein Kopf tut weh, wissen Sie? Hab ziemlich was drauf bekommen.“
Doc schüttelte den Kopf. „Das sollte ich mir mal genauer anschauen.“ Er stellte seinen Koffer auf den Boden und kniete sich nieder, um etwas heraus zu holen.
„Wagner?“
Jeff ging neben ihm die Hocke und winkte mit den Händen vor seinen Augen. „Wagner, alles klar bei dir?“
„Ich weiß nicht was du von normaler Medizin hältst, Sam, aber ich habe jahrelang damit gearbeitet und nicht so wirklich viel damit erreicht. Die Leute brauchen Pflaster und Verbände, aber keine Pillen und Nadeln. Damit die Wunden wirklich gut heilen brauchen die Menschen Hoffnung, Sam. Was hältst du davon, wenn ich dir eine Geschichte vorlese?“
„Ja, das wäre schön“, antwortete Sam und lächelte etwas. Geschichten waren gut, vor allem wenn man sie nicht selber lesen musste. Das war nur anstrengend und man konnte die Stimmen auch nicht so gut nachmachen.
„Wagner?“ Jeff warf Pete einen fragenden Blick zu. Pete zuckte mit den Schultern, holte tief Luft und stöhnte.
„Machen wir ihn wieder fest bis der Doc kommt. Ich will nicht nochmal so einen Ärger wie gestern Abend.“
Sie drehten Sam wieder auf den Rücken, der das widerstandslos mit sich geschehen lies, und legten ihm die Riemen wieder an. Dieses Mal aber nicht so fest wie am Abend zuvor.
„Ich will dir eine Geschichte erzählen, Sam. Was möchtest du denn gerne hören?“
„Erzähl mir von Balu und seinen Freunden.“
Jeff und Pete traten zwei Schritte zurück und beobachteten Sam aus sicherer Entfernung. Ihnen war beiden unheimlich zumute. Samuel Wagner war ohne Zweifel einer der schwierigsten Fälle in der ganzen Anstalt. Sogar unter den ganz schlimmen Fällen war er sehr weit vorne mit dabei.
„Die Geschichten aus dem Dschungel? Mowgli und Balu, der Tiger und die Schlange, der Oberst und King Louis? Soll ich dir von denen erzählen? Sam, es gibt nichts was ich in diesem Moment lieber machen würde. Aber zuvor musst du mir noch kurz zuhören, es gibt da nämlich noch was, was wir beide besprechen müssen. Ich bin nicht nur gekommen, um dir eine Geschichte zu erzählen. Geschichten sind toll, aber wir können auch unsere eigene Geschichte schreiben, mit all deinen Freunden. Willst du das machen, Sam? Sollen wir gemeinsam eine Geschichte schreiben?“
„Ich weiß nicht, Doc. Mit unseren ganzen Freunden?“
„Mit jedem einzelnen, Sam. Sie werden alle dabei sein und dir helfen.“
„Gut.“ Sam musste lächeln. Es sollte ein glückliches Lächeln sein, aber für Pete und Jeffrey, die alles mit gespannten Mienen beobachteten, war es das Lächeln eines Irren, kurz davor, sein letztes bisschen Verstand noch zu verlieren.
Nicht abwegig.
In der Folgezeit kam der Doc öfter vorbei. Er erzählte Sam Geschichten, die ihm nicht mal in seinen kühnsten Träumen eingefallen wären. Von großen Tieren mit unzähligen Armen, von Schiffen und Walen und Männern mit Holzbeinen, von bösen Wölfen und hübschen Mädchen, von Schweinchen und Stiefmütterchen, von Prinzessinnen und groben Vätern, sogar von einer Fabrik, die so viel Schokolade herstellte, dass er sie in hundert Jahren nicht aufessen konnte. Der Doc erzählte die Geschichten gut: er verstellte seine Stimmen, manchmal schrie er laut wenn es die Handlung von ihm verlangte, ein anderes Mal tanzte und sang er zu Musik, die Sams Kopf spielte, aber niemand außer ihnen beiden hören konnte. Der Doc nannte das ihr kleines Geheimnis, die Dinge, die nur Sam und er hören und sehen konnten. Er sollte es für sich behalten, schließlich war es ein Geheimnis. Von den anderen in der Anstalt, waren es nun Aufseher oder die ganzen anderen Verrückten, würde das keiner verstehen. Sie würden ihn auslachen - oder ihm wehtun.
„Pass gut auf, was du sagst, Freund. Die meisten anderen Menschen sind Freaks, verstehst du?“
Sam schüttelte den Kopf. Er kannte das Wort nicht.
Der Doc lächelte. Er verspottete ihn niemals oder verlor die Geduld mit ihm. Irgendwie schaffte er es immer die Dinge so zu erklären, dass auch Sam sie verstand.
„Sie sind anders als du. Dümmer als du!“
Das verstand Sam sehr wohl, aber er konnte es nicht glauben. Er hatte in seinem Leben eine ganze Menge Schulen und andere Einrichtungen besucht, deren Aufgabe hauptsächlich darin bestanden hatte, ihn zu erziehen und ihm so viel mit auf den Weg zu geben, dass er selbstständig leben konnte. Hatte er in den ersten Schulen noch sehr viel Aufmerksamkeit bekommen so war das Interesse an ihm mit jedem Jahr weiter gesunken. Zum Schluss hatten seine Lehrer sich schon damit zufrieden gegeben wenn er eine halbe Stunde lang ruhig sitzen geblieben war und ein Bild gemalt hatte.
„Ich bin dumm“, flüsterte Sam. In seiner Kindheit und Jugend hatte er oft zu weinen angefangen, auch wenn er niemals richtig begriffen hatte, was es eigentlich hieß, schlau zu sein. Es war die Art, wie die Menschen ihn ansahen oder es aussprachen. Der Spott oder das gutgemeinte Mitleid in ihren Augen. Einer seiner frühen Freunde, ein Junge namens Bill, hatte immer gesagt: „Es ist eigentlich ganz egal wie schlau wir in den Augen dieser Leute sind. Die Hauptsache ist doch viel mehr, dass sie uns nicht wegsperren können, nur weil wir anders sind. Das macht ihnen Angst, weißt du? Viele von denen glauben, dass die Dummen schuld sind am Untergang der Welt. Das die Dummen gefährlich sind.“
„Warum?“
„Weil es keine dummen Leute gibt, Junge! Wir sind nur anders intelligent, und das verstehen sie nicht.“
Sam war das damals sehr logisch vorgekommen. Bill war ein guter Freund gewesen. Er hatte das Heim einige Wochen vor ihm verlassen weil er eine nette Familie gefunden hatte, die sich um ihn kümmern wollte. Viele Jahre später hatte Sam in einem Bericht in den Nachrichten gesehen dass Bill festgenommen worden war, weil er einen Kindergarten angezündet hatte und sieben Kinder darin gestorben waren.
„Sam?“
Sam hob den Kopf. Der Doc stand am Fenster und schaute nach draußen. Es war noch kein Schnee gefallen, aber das konnte nicht mehr lange dauern. Die Nächte in der Anstalt waren kälter geworden, die Heizung noch nicht angestellt. Kosteneinsparung.
„Ja?“
„Sam, es wird Zeit, dass wir anfangen, unsere eigene Geschichte zu schreiben. Verstehst du, was ich damit meine?“
Sam schüttelte den Kopf.
„Dann lass es mich dir erklären“, erwiderte der Doc ruhig und drehte sich zu ihm. „Hör mir jetzt genau zu.“
Er wirbelte den Spazierstock mit dem großen Kopf in seiner Hand hin und her. Sam folgte gebannt der Bewegung, bis er in eine Art Trance zu verfallen schien. Der Doc lächelte und setzte sich mit überkreuzten Beinen vor ihn. Dass er dabei einen halben Meter über dem Boden schwebte, fiel Sam nicht auf.
Hol’s dir zurück hat er gesagt.
Es ist deins. Dein ganzes Leben hast du darauf gewartet und jetzt wollen sie es dir stehlen. Dein ganzes Leben, Samuel, verstehst du?
Zurückholen.
Aber wie?
Zurückholen.
Tu
was ich dir sage.
„Ich hol’s mir zurück.“
Die Nacht war ruhig. Draußen wehte nur ein leichter, aber umso eisigerer Wind. Das Wetter würde umschlagen in den nächsten Tagen, es würde Schnee fallen, die Straßen würden vereist sein. Kein guter Zeitpunkt, um eine Geschichte zu beginnen hatte Sam gesagt, aber der Doc hatte geantwortet, dass es nur dann zu schaffen war. Wenn die dämlichen Menschen nicht ohne Angst nach draußen gingen weil die Schatten immer länger wurden. Wenn ihre modernen Hilfsmittel ihnen nicht mehr helfen konnten weil die Natur ihnen einen Strich durch ihre unfaire Rechnung machte. Dann, wenn der Mond hinter den Wolken verschwand, hinter Wolken, die nicht mehr verschwanden, weil der Wind sie immer wieder aufs Neue aufpeitschte und vor sich hier trieb. Keine gute Zeit für eine Geschichte? Nicht für die anderen, richtig.
„Zurück was mir gehört.“
Sam saß auf seiner Pritsche. Immer wieder ballte er die rechte Hand zur Faust, öffnete sie wieder, schloss sie wieder. Die Adern an seinem nackten Unterarm traten so dick wie Strohhalme hervor. Er hatte eine Gänsehaut, obwohl er schwitzte. Sein Körper klebte vor heißem Schweiß, der aus all seinen Poren trat. An seiner Stirn stand das Wasser und lief ihm über sein Gesicht herunter. Auf dem Boden hatte sich eine dunkle Pfütze gebildet, in der sich das sanfte Licht des Mondes wiederspiegelte. Der Doc stand auf der anderen Seite des Raumes. Er hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen, so dass man nur das Lächeln seiner Lippen sehen konnte. Er trug einen feinen Anzug und glänzende, weiße Schuhe, die einen Beschlag aus Metall an der Spitze hatten. Neben ihm stand ein kleiner Koffer, der Koffer eines Büroangestellten. Er war verschlossen und mit einem Zahlencode gesichert.
„Holst du’s dir wieder, Sam? Schreiben wir deine Geschichte?“ Seine Stimme klang düster und Sam bekam ein wenig Angst, aber er nickte trotzdem.
„Gut“, flüsterte der Doc. Dann schrie er feierlich heraus: „Lasst die Spiele beginnen! Die Athleten in die Arena!“
Sam stand auf, packte seine Pritsche und riss sie aus der Verankerung. Seine Muskeln spannten sich unter seinem engen, nassen Shirt, aber letztendlich war es keine große Herausforderung für ihn. Er war groß und kräftig, war er schon immer gewesen.
Mit einem lauten Brüllen schmiss er sich dann gegen die Tür. Zweimal, dreimal. Nach dem vierten Mal ging auf dem Gang das Licht an und er konnte Stimmen hören. Keine fünf Sekunden später fingen auch die anderen Gefangenen auf der Station an, zu brüllen. Sie riefen vor Freude und Erregung seinen Namen, endlich etwas, was den tristen Alltag in diesem Loch ein wenig durcheinander wirbelte.
Binnen weniger Augenblicke war die Station zu einem Tollhaus geworden. Überall begannen die Insassen zu Grölen, wurden Gegenstände gegen die Zellentüren geworden, Waschbecken zerstört, Laken zerrissen. Die diensthabenden Wachen erreichten die Stationstür in dem Moment, als einer der Gefangenen seine eigenen Exkremente durch die Gitterstäbe auf den Gang warf und dabei fröhlich die Nationalhymne anstimmte. An diesem Tag Dienst hatten Pete und ein junger Kollege von ihm, Alvin Dobster. Jeffrey war zu Hause bei seiner Frau, die zwei Tage darauf sterben sollte.
„Soll ich Verstärkung anfordern?“, rief Alvin. Er hatte seine Waffe gezogen und zitterte leicht. Pete betrachtete ihn von oben herab und gab ein verächtliches Geräusch von sich.
„Wegen dem hier? Verflucht noch eins, was wollen die Verrückten denn machen?“
„Aber im Handbuch steht ...“
Pete winkte ab. „Es ist mir scheißegal was in irgendeinem Handbuch steht. Ich werde nicht die Verantwortung dafür übernehmen wenn hier in einer halben Stunde fünfzehn schwer bewaffnete Kollegen aus ihren Betten gerissen wurden und nichts weiter vorfinden als ein paar bescheuerter Trottel die hier ihren eigenen kleinen Karneval veranstalten. Du vielleicht?“
Alvin schüttelte nach kurzem Bedenken den Kopf. Natürlich wollte er das nicht. Was würde wohl seine Frau dazu sagen? Außerdem war Pete der Neffe vom Chef - mit ihm sollte man es sich besser nicht verscherzen, oder?
„Was sollen wir machen? Willst du jeden an die Betten fesseln?“
Petes Augen funkelten im Licht der hellen Flurbeleuchtung. „Nein.“ Er lächelte. „Das wird nicht nötig sein. Ich kann mir ziemlich genau vorstellen wer für all das hier die Schuld hat.“
Seine Stimme hatte etwas, was Alvin einen Schauer über den Rücken jagte.
„Wer?“
„Komm mit!“, rief Pete und ging mit festen Schritten voraus. Er hatte seinen schwarzen Schlagstock gezogen. Alvin schluckte und entsicherte seine Waffe. Man konnte ja nie wissen.
Sie versuchten beide, sich möglichst genau in der Mitte des Ganges zu halten. Da, wo die Insassen nur wenige Sachen hinwerfen konnten, weil durch die winzigen Fenster an ihren Zellentüren ihre Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt war. Trotzdem wurden Pete und Alvin beide von mehreren Gegenständen getroffen: Unterwäsche, Zahnbürsten und Dinge, von denen sie nicht einmal genau sagen konnten, was es eigentlich war.
Sie erreichten Sams Zelle nach weniger als dreißig Sekunden, aber in dieser Zeit hatte sich ihr Gemütszustand grundlegend verändert. Während Pete anfangs nur wütend gewesen war, so hatte ihn jetzt ein Zorn übermannt, der ihm selbst Angst einjagte. Seine Hände zitterten und klebriger Schweiß lief ihm am ganzen Körper herunter. Er hatte seinen Schlagstock so fest umklammert dass seine Finger ganz weiß waren und die Knöchel deutlich hervor gedrückt erschienen, fast so wie die Muskeln von Dr. David Banner, wenn er sich in Hulk verwandelte. Pete dachte in diese Moment nicht wirklich daran, aber einem kleinen Teil in seinem Gehirn war bewusst, dass wenn sein Kollege ihn nicht zurückhalten würde, so wie Jeffrey es immer tat, würde er Sam hier und heute den Kopf einschlagen. Er hatte es schon mal getan, vor langer Zeit. Damals waren sie ihm nicht auf die Schliche gekommen, aber das musste nichts bedeuten. Glück war ein spärlich gesätes Gut.
Alvins Angst vor den Gefangenen hatte sich in panische Furcht verwandelt. Doch war der Grund dafür weniger der Aufstand, den er mittlerweile als nicht besonders tragisch empfand, sondern vielmehr sein Kollege selbst. Er beobachtete ihn aus sicherer Entfernung und hatte den Griff seiner Waffe fest umschlossen. Vielleicht würden sie auf den Gefangenen schießen müssen, aber vielleicht würde auch jemand anderes als Ziel in Frage kommen.
Sam warf sich erneut gegen die Tür. Seine Schulter schmerzte und er war sich ziemlich sicher, dass die Tür trotzdem nicht einen Millimeter aus ihren Fugen weichen würde - aber das war auch nicht nötig. Gerade als er sich ein weiteres Mal dagegen werfen wollte, hielt der Doc ihn mit einem scharfen Ruf zurück. Sam blieb schwer atmend stehen. Der Doc stand etwas rechts von ihm, vielleicht einen halben Schritt weiter hinten. Der sichtbare Teil seines Gesichts war entspannt, fast zufrieden. Draußen tobte die Menge, so wie er es vorausgesagt hatte. Alles Roger!
„Setz dich an die Wand“, befahl er Sam und deutete auf die Wand gegenüber der Tür. „Setz dich genau da hin, wo das Mondlicht hereinfällt.“
Sam nickte eifrig und tat wie ihm geheißen. Der Doc blieb stehen und streichelte sanft den Kopf seines Stockes. Den Koffer hatte er neben sich abgestellt, aber griffbereit stehen gelassen.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Sam neugierig, als er sich gesetzt hatte. Sein Herz pochte wild und in seinen Augen stand ein ähnlicher Ausdruck wie in dem eines Kindes, wenn es am Weihnachtsmorgen den Baum mit den Geschenken sah. In diesem Moment sah er wieder aus wie der achtjährige Junge, kurz bevor die schlimme Sache passiert war. Seine Nase lief ihm, wie damals.
„Geduld, Sam. Wenn es so weit ist machst du einfach genau das was ich dir sagen. Kannst du das für mich tun?“
„Ja“, antwortete Sam schlicht. Wenn andere Leute ihm sagten was er tun musste wurde ihm ein wenig leichter ums Herz.
Es vergingen einige Sekunden, vielleicht eine Minute. Der Lärm vom Gang wurde immer lauter, es wurden Gesänge angestimmt oder einfach nur Flüche aneinander gereiht. Ein unangenehmer Geruch breitete sich aus, aber Sam war sich sicher, dass der nicht von ihm kam. Er betrachtete seine Hände im Mondlicht und drehte sie, als könnte er nicht glauben, was er da sah. Seine Finger glänzten silbern und golden, seine Fingernägel waren sauber geschnitten und ein angenehmes, weiches Gefühl fuhr durch seinen Unterarm. Die zahlreichen Kratzer und Wunden waren verschwunden und er hatte die Hände eines Edelmannes, eines Königs. Als er den Doc darauf ansprechen wollte lächelte dieser ihn nur an und legte den Zeigefinger auf die Lippen.
Die Illusion verschwand in dem Moment, als sich ein Schlüssel in das Schloss seiner Zellentür schob. Zeitgleich schob sich eine Wolke vor den Mond und ließ Sam sowie die ganze Zelle in absoluter Finsternis zurück.
„Ich bring dich um, du verdammter Bastard“, flüsterte Pete, während er seinen Schlüsselbund aus der Tasche kramte und den richtigen heraussuchte. Alvin stand etwas versetzt hinter ihm und konnte nicht genau verstehen, was da über die Lippen seines Kollegen kam, aber eigentlich wollte er es auch gar nicht hören. Seine Finger am Griff der Waffe waren verschwitzt und er ließ einen Augenblick von ihr ab um sie sich an der Hose trocken zu wischen. Was Rita jetzt wohl dazu sagen würde?
Die Zellentür schwang auf und mit ihr kam ein Luftstrom, der noch mehr seltsame Gerüche in den Raum brachte. Sam verzog angewidert das Gesicht und drehte den Kopf etwas nach links, weg vom Doc. Durch die geöffnete Tür fiel etwas Licht herein, aber nur ein geschulter Beobachter hätte erkennen können, dass es weit weniger war als es eigentlich hätte sein müssen. Es war fast so, als würde das Licht durch einen Schleier herein scheinen, einen Vorhang vielleicht. Sam saß weiterhin in absoluter Finsternis.
„Wagner?“, rief eine Stimme, die Sam nur allzu gut kannte. Der Schatten einer Person zeichnete sich vor dem hellen Hintergrund ab - ein breiter, großer Mann. In seiner Hand konnte er die Umrisse eines länglichen Gegenstandes sehen. Auch den kannte Sam gut genug. Schwarzer Freund, Arm des Gesetzes.
„Lass ihn ruhig ein wenig näher kommen, Sam. Wir haben keine Eile.“
Der Doc stand fast in vollkommener Dunkelheit, aber Sam konnte den Griff seines Gehstockes glänzen sehen. Seine Stimme strahlte eine überwältigende Ruhe aus, die Sam bis in die Haarspitzen ergriff.
Pete tastete nach dem Lichtschalter, doch als er ihn gefunden hatte, hielten seine Hände einen Moment inne. In der Dunkelheit sah es von Sams Blickwinkel gesehen so aus, als würde der Arm des Wärters einfach mit der Wand verschmelzen und nur ein kümmerlicher Stumpf eines Armes zurückbleiben. Er konnte nicht erkennen, wie Petes Finger die Splitter und Trümmer des Lichtschalters ertasteten und erschrocken wieder zurückzuckten. Er wusste nicht, dass es für ihn vollkommen ungefährlich war hier einen Stromschlag zu bekommen, weil Sam die Kontakte nicht offen gelegt hatte.
„Du verdammter Mistkerl“, flüsterte Pete. Seine Hand zuckte zurück und er ergriff seine Taschenlampe, die er in seinem Gürtel stecken hatte. Es war eine große, schwere Taschenlampe, die dem Schlagstock
schwarzer Freund
in nichts nachstand. Mit beidem konnte er wüten wie ein Windrad.
Er knipste das Licht an und ging einen Schritt weiter in die Zelle.
Seine Hände zitterten stärker als er es zulassen wollte. Er konnte es gerade noch unterdrücken, dass die ihm aus der Hand glitt und auf den Boden fiel. Das hätte ihm gerade noch gefehlt. Gerade bei Wagner wusste man nie, was man vorfinden würde.
Sollte der Arzt mal schauen was er morgen vorfinden würde, nicht?
Und dann dieser Gestank in der Luft - hier in der Zelle schien er noch schlimmer zu werden! Was hatte dieser beschissene Psychopath hier gemacht? Sich ein bisschen an moderner Kunst mit Exkrementen versucht?
Alvin hinter ihm sagte etwas, aber Pete hörte es nicht. In seinen Ohren war das Rauschen seines eigenen Blutes schier übermächtig geworden. Im Hintergrund war nur noch das himmlische Orchester der anderen Trottel zu hören, eine Untermalung seines eigenen Gefühls. Er schien auf einer Wolke zu schweben, von der man ihn nicht so schnell wieder herunter bekommen würde. Vielleicht würde der Dummkopf ihm auch noch den Gefallen tun und sich wehren, ihn vielleicht sogar mit einem Streifschlag an der Wange oder an der Nase treffen.
Boah, Junge! Die Sache wäre geritzt, nicht wahr? Aber sowas von!
Ein Windhauch streifte seine Wange, aber den nahm Pete nicht bewusst war.
Es hätte ihm auch so nicht geholfen.
„Geh zur Seite, ich sicher‘ den Raum mit dir zusammen“, rief Alvin über Petes Schulter hinein in den Raum, aber Pete reagierte nicht. Sam wartete nur darauf, dass das Licht der Taschenlampe ihn treffen würde, und was immer sonst noch so auf ihn warten würde - das hatte der Doc ihm nicht sagen wollen. Aber dann kam es ganz anders.
Geschwind, aber doch mit einer Eleganz wie eine junge Tänzerin, huschte der Doc an Pete vorbei und glitt zur Tür, vor der immer noch der junge Kollege des Wärters stand. Der Doc bleckte noch die Zähne, dann zog er die Tür mit einem kräftigen Schwung zu. Der Windhauch wehte durch die Zelle und trug noch mehr schlechte Luft zu Sam. Von draußen klangen die Rufe und Gesänge, eben noch laut und schrill, nur noch gedämpft zu ihm herein.
Obwohl der Doc nichts sagte, war Sam plötzlich danach, aufzustehen. Es schien ihm die richtige Zeit zu sein. Sein großer Körper schnellte in die Höhe in dem Moment, als Pete es schaffte, seine Taschenlampe anzumachen.
Aus der Dunkelheit selbst schwoll vor ihm ein noch finstererer Schatten an. Er verdeckte das vergitterte Fenster, durch welches das schwache Licht der Sterne hineinfiel. Der Umriss war nur vage zu erkennen und hob sich kaum von der schlampig verputzten Wand dahinter ab. Doch schien er anfangs zu breit und zu hoch zu sein als dass er von einem Menschen hätte kommen können.
Pete betätigte den Knopf seiner Taschenlampe. Ihm war immer noch nicht bewusst geworden, dass die Tür hinter ihm geschlossen worden war. Wer sollte denn die Tür schließen? Alvin, der Trottel, würde es auf jeden Fall nicht wagen, oder?
Der Lichtkegel durchschnitt die Zelle und traf, keine drei Meter von ihm entfernt, auf ein Hindernis. Pete realisierte zu spät, was es war.
Sam machte drei große Schritte nach vorne, nicht ganz so grazil wie der Doc, dafür aber genauso lautlos. Er erreichte den überraschten Wärter und zögerte keine Sekunde. Seine beiden Hände griffen unter Petes Arme, suchten nach einem festen Griff und schleuderten ihn dann zurück. Er ließ die Taschenlampe auf den Boden fallen, sie rollte auf dem Boden, beschrieb einen Halbkreis und blieb dann so liegen, dass sie wie so eine Art Scheinwerfer wirkte, wie sie auf Bühnen ein bestimmtes Ereignis einfangen wollten, wenn der Rest des Bühnenbildes noch für den Zuschauer versteckt bleiben sollte.
Pete donnerte gegen die Tür und brach auf dem Boden zusammen. Sam setzte ihm nach, zog ihn wieder hoch und schlug ihn dann wieder zu Boden. Pete stöhnte leise, aber das waren die einzigen Geräusche, die bei diesem ungleichen Kampf zu hören waren. Zwar tobte draußen noch immer das Tosen der Gesänge und Rufe der anderen Insassen, aber die waren hier drinnen nur noch sehr vage wahrzunehmen.
Pete hob den Blick vom Boden auf und schaute aus blutunterlaufenen Augen zu seinem Gegner hoch. Sams Gesicht konnte er nicht genau erkennen, für Pete fiel das Licht dazu nicht richtig. Als Sam sich ein weiteres Mal zu ihm herunter beugte, schlug er ihm mit der Faust dahin, wo er sein Gesicht vermutete. Er berührte Sam, aber schon einen Bruchteil nachdem er den Schlag ausgeführt hatte, wusste er, dass die Wirkung in etwa dem entsprach, wie wenn man mit einem Wattebausch versuchte, einen Elefanten zu erschießen. Sam hielt zwar kurz in seiner Bewegung inne, aber es hatte vielmehr den Anschein, dass er überrascht war, überhaupt eine Art Gegenwehr zu spüren, als dass er ernsthaft getroffen wäre.
Pete versuchte, diesen Moment auszunutzen. Er hechtete aus seiner gekrümmten Haltung zur Seite und versuchte, an der anderen Ecke der Zelle wieder auf die Beine zu kommen. Doch noch ehe er auf den Knien war hatte auch Sam sich wieder gefangen und ihm einen gewaltigen Tritt gegen den Rücken verpasst. Pete japste und fiel nach vorne um.
Lautlos trat Sam neben ihn, bückte sich, zog ihn an den Schultern hoch und hielt ihn mit seinem unglaublich kräftigen linken Arm oben. Mit der rechten Hand machte er eine Faust - und schlug zu.
Und wieder.
Und wieder.
Das hast du dir eingebildet, Alvin. Du bist nur erschrocken und deine Nerven haben dir einen Streich gespielt.
Ach ja?
Dieses Gesicht!
Alvins zitternde Hände versuchten zwanghaft, sich um die Waffe zu schließen, aber es gelang ihm nicht. Er hatte einen seltsamen Druck auf den Ohren und nahm auch seine Umgebung nicht mehr richtig war. Sein Atem war das einzige, was er klar und deutlich hörte.
Und die dumpfen Geräusche aus der Zelle, in der Pete vor dreißig Sekunden verschwunden war.
Die Tür ist zu. Die Tür sollte nicht zu sein, Alvin. Mach die verdammte Tür auf!
Oh, wie gerne er die Tür öffnen würde. Etwas war da nicht in Ordnung, das spürte er. Die Tür hätte nicht zu gehen dürfen, das hätte nicht passieren dürfen. Es war seine Aufgabe, seinem Kollegen den Rücken zu decken. Aber warum war die Tür zugegangen?
Die Fratze! Der Mann mit der Fratze hat es gemacht.
Es gibt keinen Mann mit einer Fratze! Der Insasse dieser Zelle heißt Sam Wagner. Und Sam Wagner ist ein großer, breiter Mann mit einer platten Stirn und kurzen, blonden Haaren. Sam Wagner hat keine Fratze. Sam Wagner hat keinen Hut!
„Pete?“
Er erschrak beim Klang seiner eigenen Stimme. Sie hörte sich irgendwie belegt an, gar nicht mehr wie die Stimme, die den ersten Platz beim jährlich stattfindenden Karaoke-Wettbewerb der Stadt gewonnen hatte. Die Stimme, die schon früher im Kirchenchor lauter geklungen hatte als alle anderen. Mit dieser Stimme hatte er eine fast perfekte Kopie von Queens The Great Pretender gesungen und das Publikum, inklusive seiner stolzen Frau, hatten gejohlt und ihn gefeiert. Jetzt klang sie vielmehr wie die Stimme eines demenzkranken neunzigjährigen, der im Bett liegt und nach einem Pfleger ruft.
Doch anstatt einer Antwort verklangen die Geräusche in der Zelle endgültig.
„Pete, ich komm jetzt rein.“
Er ging an die Tür und wollte sie öffnen. Aber das ging nicht, natürlich nicht. Sie war wieder ins Schloss gefallen und konnte jetzt nur mit einem Schlüssel geöffnet werden. Mit zitternden Händen kramte er seinen Schlüsselbund aus der Tasche und suchte den richtigen heraus. Es dauerte einige Zeit bis er ihn gefunden hatte, aber mindestens ebenso lange bis es ihm gelang, den schweren, langen Schlüssel in das Schloss zu führen.
Kurz bevor er den Schlüssel drehte hielt er noch einmal für einen Moment inne. War das in Ordnung so? Was sagte das Regelbuch in so einem Fall?
Er wusste es, natürlich. Er kannte die Prioritäten. Und doch war es Alvin in diesem Moment egal. Ein Kollege von ihm war dort drinnen, zusammen mit einem Verrückten und
der Mann mit der Fratze der ihm die Zähen gebleckt hatte
seine Aufgabe bestand jetzt darin, ihm zur Seite zu stehen. Er konnte nicht so lange warten, bis Verstärkung hier angekommen war.
„Und morgen lachen wir bei einem Bier über die Sache“, flüsterte er und zwang sich ein Lächeln ab.
Die Tür öffnete sich, noch ehe er seinen Schlüssel gedrehte hatte.
Alvin wurde der Schlüsselbund sanft aus der Hand gezogen als die Tür nach innen aufglitt. Es geschah ganz langsam, ohne Eile. Handbreit für Handbreit wurde der Spalt zwischen Rahmen und Tür größer. Was herauskam war reine Dunkelheit. Alvin musste erschrocken feststellen, dass es wirklich so war: die Dunkelheit kam heraus, nicht das Licht vom Gang herein. Die Schatten breiteten sich vor seinen Füßen aus und krochen an seinen dünnen Beinen empor, bis sie fast an seiner Hüfte angekommen waren. Erst dann wich er einen Schritt zurück, dann noch einen und noch einen, bis er mit dem Rücken an die gegenüberliegende Tür stieß. Der Schatten war von ihm gewichen, aber er breitete sich weiter halbkreisförmig vor der Tür aus, wie es sonst ein Lichtkegel tat.
Die Geräusche auf der Station wurden einen Moment lang leiser. Diejenigen, die an dem winzigen Zellenfenster standen und das gleiche sahen wie Alvin, blieben fassungslos stehen und starrten auf die Tür. Als sich die ausbreitende Ruhe auch bis in die hinteren Zellen bemerkbar gemacht hatte und auch dort der Lärm etwas ruhiger wurde, konnte Alvin wieder den ersten klaren Gedanken fassen.
„Pete?“, rief er. Seine Stimme klang wieder etwas fester als vorher, aber das Zittern konnte man noch klar heraushören. Er griff nach seiner Waffe, nahm sie fest in beide Hände und streckte die Arme nach vorne, wie er es während seiner Ausbildung gelernt hatte. „Pete, ich komme jetzt rein. Die Tür war zugefallen.“
Er ging wieder einen Schritt auf die Tür zu. Seine Schuhe berührten den Schatten, der sich unbemerkt wieder an seinen Beinen hoch schlich.
„Wagner?“ Seine Stimme zitterte wieder mehr. Schweiß lief ihn von der Stirn in die Augen und er blinzelte häufig. Es brannte, aber er wollte keine Hand von der Waffe nehmen, um sich das Gesicht abzuwischen. In Filmen starben die Polizisten immer genau in solchen Situationen, das hatte er schon oft gesehen. Also den Spruch wörtlich nehmen: Augen zu und durch!
„Wagner, kommen Sie bitte mit erhobenen Händen aus der Zelle getreten. Meine Kollegen sind bereits unterwegs und keiner von uns will, dass etwas passiert. Haben Sie mich gehört, Wagner? Kommen Sie jetzt einfach aus Ihrer Zelle und die Sache ist morgen schon vergessen, okay?“
Alvin war jetzt nur einen Schritt von der Tür entfernt. Er versuchte, in den Schatten dahinter etwas zu erkennen, aber es war so, als versuchte er, die genauen Umrisse der Sonne zu erkennen. Nach einem kurzen Augenblick taten ihm bereits die Augen weh und tränten. Der Schweiß tat sein übriges.
Der Schatten reichte jetzt bis fast zu seiner Brust. Dunkle Arme wie von Kraken, die sich um seinen Körper schlangen und das helle Grau seiner Uniform in ein düsteres Schwarz tauchten. Er leckte sich über die Lippen und saugte den salzigen Schweiß darauf weg.
Ein leises Stöhnen kam aus der Zelle. Alvin erkannte Petes Stimme sofort.
„Pete, alles in Ordnung bei dir? Ich komme jetzt rein.“
Aber das brauchte er gar nicht, denn Pete kam raus. Zumindest dachte Alvin das im ersten Moment, als Pete in der Tür erschien. Er war übel zugerichtet. Sein Gesicht war blutverschmiert und seltsam verformt. Seine Uniform war vom Blut verfärbt worden und seine Arme hingen schlaff und leblos an ihm herunter. Nur seine Augen waren noch voll da. Sie blitzen unter den zugeschwollenen Gesichtskonchen hervor und suchten seinen Blick. Er stöhnte etwas, aber es war so leise und verzogen, dass Alvin es nicht verstehen konnte.
Er hatte Pete noch keine drei Sekunden gemustert, als ihm auffiel, dass seine Beine nicht den Boden berührten. Und da war es auch schon zu spät.
Sam schleuderte Pete, den er als menschliches Schutzschild benutzt hatte, von sich. Pete flog gegen Alvin und riss ihn mit zu Boden. Dabei löste sich aus seiner Waffe ein Schuss, der Pete in den Unterleib traf. Er war noch nicht tot, als sie beide auf dem Boden landeten, aber er war dem einen weiteren Schritt näher gekommen. Alvin schlug hart mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf und für mehrere Sekunden wurde ihm schwarz vor Augen. Das Gewicht von Pete, der jetzt halb auf ihm lag, hatte ihm die Luft aus den Lungen gequetscht und er rang gequält nach Atem.
Sam trat aus seiner Zelle. Alvin konnte ihn genau sehen. Er schien keine Verletzungen aufzuweisen. Nur sein weißes Shirt war blutbefleckt, aber er glaubte nicht, dass es wirklich sein Blut war. Nicht nachdem er Pete gesehen hatte.
Er ging an den beiden am Boden liegenden Wärtern vorbei und war schon zwei Meter von ihnen entfernt, als er plötzlich wieder stehen blieb. Es wirkte fast so, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Einen Augenblick lang stand er einfach nur da und schaute in die Ferne, dann drehte er sich wieder um.
Alvins Herz machte einen erschrockenen Sprung und er versuchte, Pete von sich herunter zu schieben. Vermutlich hätte er es auch geschafft, aber Sam ließ ihm keine Zeit mehr dafür. Er kniete sich vor Alvins Kopf - und schlug zu.