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Kapitel 4
ОглавлениеJa, ich glaube, so kann man in die Geschichte einsteigen. Die wichtigen Punkte, bis auf einen, sind erzählt. Welcher noch fehlt fragen Sie sich? Nun, darauf komme ich bald zu sprechen. Also nicht ungeduldig werden!
Im Grunde kann man sagen, dass sich mit diesen beiden Ereignissen - dem Erbe dieses schicken Hotels und dem Ausbruch dieses Wahnsinnigen - das Rad zu drehen begonnen hat. Langsam und schwerfällig, aber die Kuppe des Hügels ist bald erreicht und von da an geht es nur noch bergab.
Sie können sich sicher schon denken wie es weitergeht, oder? Nun, ich möchte einige Punkte überspringen, Sie jedoch immer auf dem Laufenden halten. Wie Sie sicher schon erraten haben hat sich die Familie Morrison für das Hotel entschieden. Die Entscheidung war schnell gefallen, Katharine und die Kinder konnten ihr Glück kaum fassen. Auch Herb, vom Schicksal in den letzten Wochen und Monaten nicht unbedingt wohl gesonnen behandelt, freundete sich nach und nach mehr mit dem Gedanken an, ein eigenes Hotel zu besitzen. Ob er es nun nach diesem einen Jahr, das im Testament veranschlagt war, verkaufen würde oder seine ganze Kraft hineinstecken sollte, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Konnte er auch nicht, so viele Ereignisse auf einmal waren nichts für einen Mann seines Schlages. Er gehörte nicht zu den Männern, die Schlachten entschieden oder Autorennen gewannen. Er gehörte zu den Leuten, die selbst bei McDonalds noch zehn Minuten auf die bunten Angebotstafeln über dem Tresen starrten und sich überlegte, was er nehmen sollte, auch wenn das Angebot seit Jahren das gleiche war. Ebenso wie übrigens die Entscheidung für das Menü und der Geschmack, der sich auch nach intensiven Studien bei den meisten Gerichten nicht wirklich unterscheiden sollte.
Was?
Sie wollten hören, was mit der kleinen Angie passiert ist? Das konnten Sie sich also merken, ja? Freut mich, wirklich. Ich mag es, wenn Leute meine Geschichten lesen und sich immer noch an die hunderten kleinen Details erinnern können.
Wobei, wenn wir ehrlich sind, die Sache mit Angie keine kleine Sache war. Sie war sozusagen der ausschlaggebende Punkt für diese ganze Erzählung. Wäre die kleine Angie nicht an jenem Tag im Spätsommer ermordet aufgefunden worden - wer weiß, was dann aus all den Menschen hier passiert wäre. Hätten Herb und Katharine sich jemals kennengelernt? Wäre Terrence jemals bei der Polizei geblieben?
Bei Terrence bin ich mir da nicht so sicher, aber Herb und Katharine gehörten einfach zusammen. Wenn sie sich nicht auf dem College kennengelernt hätten wären sie sich bestimmt einmal an einer Tankstelle oder dem Supermarkt über den Weg gelaufen. So war das eben mit dem Schicksal - man wusste nie, wo es zuschlug. Aber man konnte es auch nicht beeinflussen, auch wenn in vielen Filmen und Zitaten andere Wahrheiten darüber verbreitet werden. Schicksal umfasst ein weites Begriffsfeld dessen, was den Lebenslauf des Menschen darstellt oder beeinflusst. Dazu gehören sicher Zufälle, Unfälle - aber auch bewusst ausgeführte Taten. Alles in allem ergibt das wohl das Schicksal so wie wir es kennen und versuchen, zu verstehen. Viele haben Gesagt, das Schicksal der Menschen in Ostberlin sei es, hinter dieser Mauer gefangen zu bleiben, bis der dritte Weltkrieg sie und alles Leben auf der Welt auslöschen sollte. Nun, es war nicht David Hasselhoff, der sie Mauer schließlich zum Einsturz brachte, sondern Zufälle und Taten, die ihr Schicksal besiegelten. Ohne Demonstrationen keine politischen Gespräche, ohne die richtigen Worte kein Mauerfall. So einfach war das. Dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen.
Aber ich schweife ab. Vielmehr geht es hier um die Geschichte, die mein Leben verändert hat. Welche Rolle ich dabei spiele fragen Sie sich? Dafür brauchen Sie noch etwas mehr Geduld, es wäre noch zu früh, sich jetzt darüber zu unterhalten. Meine Zeit kommt noch, auch wenn meine Rolle mehr oder weniger unbedeutend ist in dem ganzen Spektakel, das noch folgen sollte. Es hat mich beeinflusst, aber ich habe es wenig beeinflusst. Wie ein Windhauch ein Segelboot auf hoher See - dem Wind ist es egal, ob es da auf ein Boot triff oder einfach nur vor sich hin weht, dem Boot hingegen kann gar nichts Besseres passieren, als dass ein kräftiger Wind die Segel bläht und es vor sich hertreibt. Ich sehe mich in dieser Geschichte wie das Boot, klein und relativ unbedeutend. Der Wind, die Handlung dieser Geschichte, ist etwas ganz anderes. Dazu gehört sicherlich die kleine Angie, aber ihre Zeit ist noch nicht gekommen. Aber ihre Zeit wird kommen, darauf können Sie sich verlassen. Sie war der Windstoß, der das ganze Schiff erst in Bewegung gesetzt hat.
Zurück zu den Morrisons.
Sie haben sich dazu entschieden, das Hotel zu übernehmen. Sie haben alles Organisatorische geklärt, vieles mit der Hilfe des netten Anwalts, der sich immer auf Abruf bereit gehalten hatte, wenn Fragen aufgekommen sind. Die Kinder wurden von der Schule genommen (William Anderson hat dafür so ziemlich jeden Paragraphen in jedem Gesetzbuch studiert um das möglich zu machen), die Wohnung wurde geräumt und die nächsten Verwandten und Freunde angeschrieben, dass man ab November unter einer anderen Adresse zu erreichen sei. Aber nur die wenigsten wurden wirklich informiert, warum die Familie so plötzlich die Koffer packte und in die Nähe eines Ortes zog, den man erst nach einer langen Suche auf Google Earth finden konnte. Herb wollte die Sache so klein wie möglich halten, um die Gerüchte nicht unnötig zum brodeln zu bringen. Er wusste zwar nicht aus eigener Erfahrung was es hieß, reich zu sein, aber er hatte schon viel darüber im Fernsehen gesehen. Plötzlich wurden aus den freundlichen Nachbarn diabolische Neider, die Tomaten an deine Fenster warfen und dir tote Katzen in den Briefkasten stecken. Er wollte, für den Fall das er das Hotel verkaufte und sich das Geld auszahlen ließ, den Luxus, den er dann ohne Zweifel genießen würde, nicht an die große Glocke hängen. Ein kleines Haus für die Familie vielleicht, das beste College für jedes seiner Kinder und vielleicht auch einen netten Sportwagen für den Sommer - ein rotes Cabrio, die Marke war ihm ziemlich egal. Rotes Cabrio mit weißer Lederausstattung. Oldtimer. Genaueres schwebte ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht vor.
Am Samstag, den 31. Oktober 2009, fuhren sie, noch mit ihrem alten Auto, in die Einfahrt des Hotels. Ihre Sachen waren bereits am Tag zuvor mit einem Möbeltransporter abgeholt worden, der jetzt ebenfalls in der Einfahrt parkte. Es war ein sonniger Tag, ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit.
Und her geht die Geschichte weiter.
„Ich kann das alles noch gar nicht fassen! Wir werden leben wie die Könige!“
„Wohl eher wie Könige im Exil. Gefangen auf einer einsamen Insel inmitten des mächtigen Ozeans.“
„Sei still, Mike!“ Sarah puffte ihren älteren Bruder in die Seite und schaute dann wieder aus weit aufgerissenen, glitzernden Augen auf das Hotel. Sie waren seit ihrem ersten Besuch nicht mehr hier gewesen, aber sie hatte sich fast jeden Tag Fotos davon im Internet angeschaut. Obwohl sie es eigentlich nicht tun sollte hatte sie sogar ihrer Freundin Amanda die Bilder gezeigt und ihr die ganze Geschichte erzählt. Von dem verstorbenen Onkel, dem Hotel das sie erben würden – die ganze Geschichte eben. So war das eben mit jungen Mädchen: Schweigen ist Gold, aber damit sie nicht reden musste schon einiges mehr geboten werden.
Amanda war Sarahs beste Freundin. Sie hatten am selben Tag Geburtstag, waren beide Cheerleader an der Schule gewesen, hielten beide nicht viel von den eingebildeten Sportlern, die dachten, sie könnten jede bekommen, und waren gut in der Schule. Sarah sogar noch ein bisschen besser. Wenn sie zwei Jahre weiter gewesen wäre hätte ihr Vater sich schon ernsthaftere Sorgen machen müssen, wie er die teuren Colleges, auf die sie dann zweifelsohne hätte gehen können, bezahlen sollte.
„Hast du auch gelesen, dass die nächste größere Stadt fast vierzig Meilen weit weg ist?“
„Zu weit für jemanden, der keinen Wagen hat, oder?“, spottete Sarah und kassierte jetzt ihrerseits einen Stoß. Das Michael keinen Wagen hatte war ohne Frage der finanziellen Situation der Familie zuzuschreiben. Einen Führerschein besaß er auch nicht, was aber nicht hieß, dass er noch niemals mit einem Auto gefahren wäre. Vor einen halben Jahr hatte er mit seinen Freunden auf einem Parkplatz in der Nähe des örtlichen Busbahnhofes einen Wagen gefunden, dessen Fensterscheiben eingeschlagen waren. Irgendjemand hatte die Rückbank aus dem Wagen (sie glaubte sich erinnern zu können, dass es sich um einen alten Ford handelte) geklaut und dem Wagen auch sonst ziemlich übel mitgespielt. Sam, ein Freund von Michael, hatte den Wagen entdeckt und sich einen Spaß daraus gemacht, Steine darauf zu werfen, bis der Wagen so aussah, als hätte er Pocken. Mehr zum Spaß hatte er sich hinter das Steuer gesetzt und nach dem Schlüssel gesucht. Der fiel hinter der Sonnenblende hervor und in seinen Schoß. Da hörte allerdings Sams Mut auf und Michael, eigentlich der ruhigere von beiden, witterte seine Chance. Er schnappte sich den Schlüssel, drängte Sam auf den uringetränkten Beifahrersitz und versuchte, den Motor zu starten. Der Wagen sprang an und sie fuhren einige Runden auf dem Parkplatz. Irgendwann, Sarah konnte es nicht mehr genau wiedergeben, weil ihr Bruder in der Nacht, als er es ihr erzählte, ziemlich aufgeregt gewesen war, war wohl einer oder mehrere Reifen geplatzt. Michael hat die Kontrolle verloren und den Wagen gegen eine Mauer gesetzt. Sie waren zum Glück nicht schnell genug gewesen als dass ihnen etwas passiert wäre, aber sie waren doch ziemlich erschrocken. Michael hatte eine Schramme am Unterarm und eine Beule auf der Stirn, weil er nicht angeschnallt gewesen war und sich den Kopf am Lenkrad gestoßen hatte. Sarah hatte ihm die Wunde sorgfältig verarztet, natürlich unter der Voraussetzung, dass sie ihrem Vater niemals etwas davon erzählen würde. Von ihrer Mutter hatte Michael an dem Abend nicht gesprochen, aber Sarah hatte es trotzdem für sich behalten. Man wusste ja nie, für was so ein aufgehobener Gefallen nochmal gut sein konnte. Gerade wenn man zwei Brüder hatte und sich nicht immer so ohne weiteres durchsetzen konnte, war es gut, einen Trumpf für sich in der Hinterhand zu behalten.
„Es hat dich niemand gezwungen, hier her mitzukommen“, mischte sich ihre Mutter auf dem Vordersitz in das Gespräch ein. Sie bogen gerade auf den Parkplatz ein, wo der Möbelwagen miserabel geparkt auf drei Parkplätzen thronte. „Deine Alternativen kennst du ja.“
„Nein, danke!“, maulte Michael und wischte sich mit der linken Hand einige Haare aus der Stirn. Sie rochen etwas streng, aber Sarah verkniff sich jeden Kommentar dazu. Michael war stolz auf seine fast schulterlangen, verfilzten Haare. Er hatte nicht vor, sie sich schneiden zu lassen, bis sie nicht die Wintersaison hier oben zu Ende verbracht hatten. So ist es cooler beim Headbangen! war seine einzige Antwort, wenn sein Vater ihn darauf ansprach. Der kam mit der extravaganten Frisur seines jüngsten Sohnes nicht klar, konnte aber letztendlich auch nichts dagegen machen. Ihrer Mutter war es egal – sie erinnerte immer wieder daran, wie sie selbst in den Achtzigern rumgelaufen sind. Und dagegen waren Michaels Haare wirklich noch gar nichts!
Bei ihrem letzten Familienrat, wo entschieden wurde, ob sie gemeinsam als Familie in das Hotel ziehen würden, waren alle Alternativen durchgesprochen worden. Herb und Katharine wollten niemanden zwingen, ein ganzes Jahr weg von ihren Freunden in einem Hotel zu verbringen. Also haben sie für jedes ihrer drei Kinder einen individuellen Plan vorgelegt, was sie in dieser Zeit machen konnten. Für Peter und Michael stand ein Internat zur Auswahl, für Sarah eine Klosterschule. Eine Finanzierungsmöglichkeit hatte ihnen der Anwalt ihres Onkels vorgeschlagen, aber soweit waren sie gar nicht gekommen. Eigentlich hatte der ganze Rat nur wenige Minuten gedauert. Das Hotel war mit überwältigender Mehrheit und in einer wahnsinns Zeit gewählt worden.
Sie bogen auf den Parkplatz ein. Vor dem Möbeltransporter standen zwei kräftige, große Männer mit alten, ausgewaschenen weißen Shirts. Einer von ihnen trug kurze, unten ausgefranste Jeans-Shorts, der andere eine blaue Arbeitshose mit Trägern, die er lässig von den Schultern hängen ließ. Sie rauchten und unterhielten sich lebhaft miteinander. Etwas abseits von ihnen konnte Sarah noch eine dritte Person sehen, die allerdings überhaupt nicht zu den beiden passte. Es war ein Mann, vielleicht Anfang oder Mitte vierzig, der eine richtige Arbeitsuniform trug. Sie war grau und hatte auf der Brust ein kleines Logo aufgenäht, das Sarah aber aufgrund der Entfernung nicht richtig erkennen konnte. Er hatte die Hände in den Hostentaschen und schaute sich immer wieder um, als ob er noch auf jemanden warten würde.
Sie hielten neben dem Möbelwagen. Sarah stieg aus dem Auto und streckte sich. Die lange Fahrt hatte ihrem Körper ziemlich zugesetzt. Außerdem war sie müde und hoffte, dass die beiden Möbelpacker schneller waren, als sie ausschauten.
„Hoffentlich geht nichts kaputt“, flüsterte ihre Mum, die nach ihr aus dem Wagen stieg. „Jogi Bär und Balu machen keinen kompetenten Eindruck.“
„Jogi Bär und Balu?“, fragte Sarah lachend. „Das ist gut.“
Ihre Mutter lächelte. „Wollen wir das Beste hoffen.“ Sie musterte ihre Tochter. „Geht es dir gut? Nervös?“
Sarah schüttelte den Kopf. „Nur etwas müde und verspannt. Die lange Autofahrt, weißt du?“
„Dein Vater fährt ja auch wie eine alte Frau“, rief ihre Mutter, gerade laut genug, damit ihr Dad es hören konnte. Der stand neben der Fahrertür und gähnte gerade lautstark, als er plötzlich einen bösen Gesichtsausdruck aufsetzte und mahnend den Zeigefinger hob.
„Aufpassen, junge Frau! Sonst sag ich den beiden hier, dass sie deine Sachen einfach den Hang hinunterwerfen sollen.“
„Wenn du willst, dass ich ein Jahr lang in denselben Klamotten rumlaufe: nur zu.“
Herb gab ein abfälliges Geräusch von sich und verließ den Wagen. Er schlenderte auf die beiden Möbelpacker zu und gab ihnen nacheinander die Hand. Sie unterhielten sich kurz, aber Sarah konnte nicht verstehen, um was es ging. Ihr Blick fiel wieder auf den Mann, der etwas abseits stand. Er schaute zu ihnen herüber, aber es war unmöglich zu sagen, wen von ihnen er gerade musterte. Sie gab ihrer Mutter einen sanften Stoß in die Seite und flüsterte ihr zu, ohne den Blick von dem Mann zu nehmen: „Wer ist das da drüben? Gehört der zu den Möbelpackern?“
Ihre Mum zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber träg der nicht eine Uniform? Diese beiden Witzfiguren hier haben ja noch nicht einmal richtige Hosen an!“
„Gehört er zum Personal?“
„Hier im Hotel? Kann sein. Vielleicht der Gärtner oder der Hausmeister. Hey, Sie da!“
Sarah zuckte zusammen als ihre Mutter plötzlich laut rief. Sie fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und deutete auf den erschrockenen Mann, der jetzt einen ziemlich nervösen Eindruck machte. Er zeigte mit den Fingern auf seinen Körper. Ich?
„Ja, Sie, können Sie bitte schnell hier her kommen?“
Wieder schaute der Kerl sich um, fasste sich dann aber doch ein Herz und ging mit festen Schritten auf sie zu. Er war ziemlich groß, bestimmt eins neunzig, und an den Schläfen bekam er schon graue Haare. Vielleicht war er doch ein bisschen älter als Sarah es vorhin geschätzt hatte.
„Wie kann ich Ihnen helfen, gnädige Frau?“, fragte er mit einem Akzent, den Sarah nicht richtig zuordnen konnte. Es klang nicht, wie irgendwo aus den Südstaaten, auch nicht wie aus Kanada. Irgendwie europäisch.
„Bitte nicht so förmlich, mein Name ist Katharine. Das hier ist meine Tochter Sarah.“
„Hi.“
Der Mann nickte ihr kurz zu und versuchte dabei, ein freundliches Gesicht aufzusetzen. Aber genauso wirkte es auch: aufgesetzt.
„Darf ich Ihren Namen auch erfahren?“ Sarah wäre am liebsten im Boden versunken. Manchmal war die direkte, freundliche Art ihrer Mutter nicht auszuhalten. Aber gerade bei Männern bewirkte das eine Menge – ihr Aussehen war dabei sicherlich nicht hinderlich.
„Mein Name ist Jesse van Borg.“
„Freut mich, Sie kennen zu lernen, Jesse. Ich darf Sie doch Jesse nennen, oder?“
„Selbstverständlich gnädige Frau.“
„Katharine.“
„Katharine. Verzeihung.“
„Kommen Sie aus Belgien? Ihr Name und ihr Akzent klingen so europäisch.“
„Holland. Gegen meinen Akzent kann ich nichts mehr machen.“ Er versuchte wieder, zu lächeln. Dieses Mal wirkte es etwas freundlicher.
„Ich finde, er passt zu Ihnen. Sagen Sie: meine Tochter und ich haben gerade gerätselt, was Sie da für eine schicke Uniform tragen. Können Sie uns da vielleicht weiterhelfen?“
„Klar. Das ist die Kleidung, die ich von diesem Hotel gestellt bekomme.“
„Sie arbeiten also hier?“
„Bin der Gärtner und Hausmeister. Alles, was repariert gehört, erledige ich hier. Im Winter räum ich Schnee, im Sommer mähe ich den Rasen.“
„Freut mich, endlich jemand von den Angestellten kennen zu lernen.“ An Sarah gewandt: „Sag doch mal deinem Vater Bescheid, dass er sich hier vorstellen soll.“
Sarah nickte und ging zu ihrem Vater, während sich ihre Mutter weiter mit dem Hausmeister unterhielt. Der hatte scheinbar noch überhaupt keine Ahnung, dass sie jetzt hier die neuen Vorgesetzten waren.
Ihr Vater unterhielt sich angeregt mit den beiden Möbelpackern. Sie rauchten immer noch (oder schon wieder?) und es war ihnen deutlich anzumerken, dass ihnen das Gespräch unangenehm zu werden schien. Sarah verdrehte die Augen und konnte ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken. Ihr Vater hatte so eine Art an sich – wie sollte man sagen? Er war unglaublich anstrengend, aber auf eine nette Weise. Seine Arbeit im Büro hatte ihn so werden lassen, zumindest behauptete das ihre Mutter. Früher hatte man mit ihm auch als Fremder einfach nur netten Smalltalk führen können, aber irgendwie war das heute nicht mehr so. Dad war oft einfach nur nervig wenn er mit Menschen sprach, die er noch nicht so gut kannte. Er war dann irgendwie wie ein neugieriges kleines Kind, das alles wissen wollte und einfach keine Ruhe mehr gab, bis ihn jemand an der Hand packte und zur Seite zog.
Heute war Sarah die Rettung der beiden Möbelpacker. Sie stellte sich zu ihnen und unterbrach ihren Vater frech, der gerade etwas von Sonnenblumenöl und braten erzählte.
„Hey Dad, Mum will dass du dich da drüben mal blicken lässt. Sie hat einen der Angestellten an der Hand.“
Ihr Vater schaute sie einen Augenblick lang fragend an. Sein Gesichtsausdruck war wirklich niedlich, fand sie, so ein bisschen wie von einem kleinen Hund, dem man gerade seinen Knochen weggenommen hatte. Er warf einen scheuen Blick über die Schultern und lächelte verwirrt.
„Ja klar, sofort.“ Er drehte sich um, ging einen Meter, drehte sich dann wieder um und reichte den beiden Männern die Hände zum Abschied. „Wir haben später bestimmt noch einmal Zeit. Aber das müssen Sie sich anhören. Der Geschmack ist einfach ein ganz anderer. Sehen Sie, …“
„Dad!“
„Natürlich, deine Mutter. Auf Wiedersehen. Und viel – wie sagt man doch gleich in Ihrem Gewerbe – Glück? Petri Heil war es nicht, oder?“
„Viel Glück ist in Ordnung Mr. Morrison“, antwortete einer der beiden, der mit den Hotpants. „Petri Heil sagt man glaube ich beim Angeln.“
„Ah ja, richtig.“ Ihr Vater lächelte kurz. „Naja, ich muss gehen. Meine Frau …“
„Frauen sollte man nicht warten lassen“, stimmte der andere der beiden Männer ihm zu und warf seine Zigarette auf den Boden. „Das gibt sonst was auf die Ohren, richtig?“
Die letzte Frage war an Sarah gewandt. Sie wollte etwas antworten, aber sein Blick musterte ihren Körper derart auffallend, dass sie es vorzog, einfach stumm zu nicken und mit ihrem Vater zu gehen, der bereits die ersten Schritte hinter sich gebracht hatte. Während sie zurück zu ihrer Mutter ging konnte sie die Blicke der beiden, die sich auf ihren Hintern bohrten, förmlich spüren. Am Anfang hat ihr das immer noch gut getan und ihrem Selbstbewusstsein in die Karten gespielt, aber mittlerweile war es einfach nur noch peinlich. Hoffentlich sah ihre Mutter das nicht – sonst würden die zwei sehr schnell wirklich einen Satz heiße Ohren kassieren.
„Jesse – darf ich Ihnen meinen Mann vorstellen?“, rief sie, als die beiden sie erreichten. „Das ist Herbert, aber alle nennen ihn eigentlich Herb.“
Sie reichten sich die Hand. Sarah beobachtete belustigt, wie ihr Vater direkt danach seine Hand unauffällig an der Hose abwischte. Er mochte es eigentlich nicht, Leuten die Hand zu geben. Darüber verbreiten sich die meisten Krankheiten, wisst ihr das? Nur die Hälfte der Menschen wäscht sich mehr als zweimal am Tag die Hände – nicht mal nachdem sie auf der Toilette waren!
„Freut mich, Hallo.“
Jesse nickte freundlich. „Dann sind Sie also mein neuer Chef.“
„Oh, meine Frau hat es Ihnen also schon erzählt.“ Er lief ein wenig rot an, oder täuschte das? „Ja, so sieht es wohl aus. Aber bitte nennen Sie mich nicht so, ja? Ich bin einfach Herb, okay?“
„Wie Sie wollen, Herb“, erwiderte Jesse. Dann war es einen Augenblick lang still. Ein peinlicher Moment, den Sarah am liebsten mit etwas unterbrochen hätte, aber ihr fiel natürlich nichts ein, was den Moment nicht noch peinlicher gemacht hätte.
Die Situation wurde von einer anderen Person gerettet. Die große Tür zum Foyer öffnete sich und ein gut gekleideter, großer Mann kam heraus. Es war Anderson. In einer Hand trug er ein kleines Tablett, auf dem mehrere Tassen abgestellt waren, in der anderen trug er seine Sonnenbrille, die er jeden Moment aufsetzen würde, da war sich Sarah sicher. So bleich wie der Kerl war so selten ging er wohl auch in die Sonne – ein typischer Anwalt eben, oder?
„Guten Morgen, alle miteinander!“, rief Anderson schon von Weitem. „Schön dass sie gut angekommen sind. Wie war die Fahrt?“
„Gut“, antwortete ihre Mutter. „Haben sie da Kaffee drin? Ich würde sterben für eine Tasse Kaffee.“
Anderson lächelte. Er stellte sich zwischen Jesse und ihren Vater und hielt das Tablett noch ein wenig höher. „Ein Gruß der Küche. Nicht einen Tropfen verschüttet, ist das denn zu glauben?“
„Nein“, antwortete Sarah, obwohl sie wusste, dass die Frage eigentlich keine Antwort verdient gehabt hätte. Anderson tat so, als hätte er es nicht gehört und versuchte mit der einen Hand umständlich seine Sonnenbrille aufzuziehen.
„Bitte, nehmen sie sich – es ist noch mehr da, falls das nicht reichen sollte. Hey, Jungs!“ Er rief Peter und Michael, die beide am Auto standen und sich leise unterhielten. Jetzt schauten sie erschrocken auf. „Wollt ihr auch Kaffee? Drinnen gibt es auch Tee und alles Mögliche.“
„Nein, danke!“, rief Michael zurück und auch Peter winkte ab. Anderson zuckte mit den Schultern und bot die übrigen beiden Tassen den zwei heißen Möbelpackern an, die immer noch nicht so motiviert rüberkamen, wie Sarah und ihre Mutter das gerne gesehen hätten. Sie nahmen dankend an und gingen wieder rüber zu ihrem Möbelwagen, wo sie die Tassen mit einer zusätzlichen Zigarette verfeinerten und wirken ließen.
„Wollten Sie mit rein kommen? Es ist zwar schon etwas spät, aber ich habe die Küche angewiesen, alles für ein gutes Frühstück bereit zu halten. Der Tag wird sicher noch anstrengend genug werden, da sollte man ihn doch wenigstens mit etwas im Magen beginnen, habe ich recht?“
„Eine gute Idee“, stimmte ihre Mutter zu.
Als Sarah am Abend ins Bett fiel wäre sie fast auf der Stelle eingeschlafen. Eigentlich, so dachte sie noch, war das alles ganz schön viel für einen Tag gewesen. Und das stimmte auch, wenn man das alles nochmal überdachte. Schließlich war sie jetzt fast vierundzwanzig Stunden auf den Beinen; darin eingeschlossen selbstverständlich eine Autofahrt mit ihrem verplanten Vater und ihren nervenden Brüdern.
Das Frühstück war wirklich schön gewesen. Das Personal hatte draußen auf der Terrasse eine Tafel aufgebaut, wo sie alle in der Sonne sitzen konnte. Es war angenehm warm gewesen, obwohl der Wind immer wieder kräftig um die Ecken geweht hatte. Sie hatten einige Angestellte kennengelernt: den Koch, Jim Bob Ray, ein schwarzer Mann Ende dreißig mit echtem Südstaaten-Akzent; Luise Gallagher, die Chefin des Hauses und schon seit vielen Jahren im Hotel tätig und eine junge Frau, das nicht viel älter war als sie selbst: Patricia Perry. Sie war so etwas wie die Schülerin von Luise, aber die beiden waren weit davon entfernt, ein Chef-Angestellter-Verhältnis miteinander zu haben. Sie waren vielmehr wie Mutter und Tochter mit gewissen Regeln. Patricia machte hier wohl so etwas wie eine Ausbildung und für Sarah bestand kein Zweifel daran, dass sie die Nachfolgerin von Luise werden würde, wenn diese in ferner Zukunft mal in Rente gehen würde.
Die Möbelpacker hatten sich als recht kompetent erwiesen. Sarah fand sie immer noch hässlich, aber sie verstanden es recht gut, sämtliche Schränke, Betten, Regale, Kisten usw. unbeschadet in ihr eigenes Stockwerk zu schaffen. Außerdem gaben sie sich Mühe, ihren Vater zu ertragen, der die meiste Zeit in ihrer Nähe war und dirigierte, wo welche Kisten und Möbel abgestellt werden mussten, nur um es dann in einer Minute wieder anders zu sehen und die ganzen Sachen wieder umgeräumt werden mussten. Peter und Michael halfen die meiste Zeit mit. Zwar murrte und meckerte Michael, der körperlich bei weitem nicht die Statur seines Bruders hatte, ständig, aber irgendwie rang er sich doch dazu durch, bis nachmittags um vier Uhr durchzuhalten. Erst dann ging ihm die Kraft (oder die Lust) endgültig aus und er zog es vor, den restlichen Tag in seinem neuen Zimmer zu verbringen, um ein wenig an seinen Gitarren herum zu zupfen.
Die Möbelpacker schafften das letzte Teil gegen sechs Uhr abends in ihre Räume. Ihnen gehörte das komplette Dachgeschoss, das sogar über einen separaten Eingang an der Seite des Hauses besaß. Eine breite, metallene Treppe verlief im Schutz einer Kante des Hotels entlang und endete in einer großen Dachterrasse, die einen gemauerten Grill besaß und so groß war, das wohl ohne Probleme dreißig Leute bequem dort essen und trinken konnten. Von dort hatte man einen wunderbaren Blick über die Wälder. Außerdem konnte man den Parkplatz gut einsehen und die Straße, die zu ihm führte.
Die Eingangstür war aus Glas und bestand aus zwei großen, weißen Flügeln, die mit goldenen Griffen bestückt waren. Man konnte sie beide aushängen, aber das hatten sie nicht getan, weil man sie so weit aufmachen konnte, dass die beiden Männer sogar mit dem Sofa ohne Probleme durch passten. Vom Gang weg gelangte man dann auf der linken Seite gleich in das Zimmer, in dem Peter schlafen würde. Es war sehr geräumig und sie hatte sogar ein eigenes, kleines Badezimmer. Die Fließen waren strahlend weiß, er hatte eine Badewanne und eine separate Dusche. Auf der anderen Seite, etwas versetzt, befand sich die Eingangstür von Michael. Er hatte dieses Zimmer gewollt, weil es etwas kleiner war als das andere, in dem Peter jetzt schlief. Peter war das nur recht gewesen, schließlich war er der ältere Bruder.
Michaels Zimmer war in drei Teile geteilt, die durch jeweils zwei Stufen voneinander in der Höhe abwichen. Ganz oben hatte er sein Bett hingestellt, dann darunter sein Sofa und seine Schränke. Ganz unten hatte er seine ganzen Instrumente verstaut. Im Augenblick lagen sie nur auf dem Boden oder lehnten an der Wand, aber er würde sich sicherlich bald daran machen, die wieder an den Wänden zu befestigen, so wie er das früher auch schon hatte. Er mochte es nicht, wenn man immer über seine Sachen fiel. Obwohl er vom äußerlichen her der unordentlichste von ihnen dreien war, so war er doch im Kern derjenige, der Unordnung am wenigsten ausstehen konnte. Sarah war da anders: für sie war sie erst dann richtig zuhause, wenn der ganze Boden mit ihren Klamotten zugedeckt war. Und von Peter musste man gar nicht reden: in seinem Zimmer lebten immer schon nach wenigen Tagen Tiere, die da nicht hingehörten.
Sie selbst hatte sein Zimmer fast am Ende des Flures, gegenüber dem zweiten Badezimmer. Es war ziemlich groß und sie hatte noch nicht die geringsten Vorstellungen, wie er es einrichten sollte. Sie hatte den beiden Möbelpackern gesagt, sie sollen ihre ganzen Sachen in die Mitte des Raumes stellen, sie würde den Rest dann erledigen, wie sie es gerne hatte. Dad hatte sie ziemlich angefahren deswegen, aber Sarah hatte ihren eigenen Kopf und ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen.
Am Ende des Flures schien es so, als würden sich die Wände öffnen – ähnlich wie ein Fluss, der in einen riesigen See mündete. Das offene Wohn- und Esszimmer war mehr ein Saal als ein Raum. Die Decke war wahnsinnig hoch und mit einer kleinen Glaskuppel abgeschlossen, durch die so viel Tageslicht drang, dass es unwahrscheinlich hell war. Auf der anderen Seite des Raumes war ebenfalls eine gläserne Front, die auf einen Balkon führte, von dem aus man dann den Blick ins Tal hatte und den See zwischen den Bäumen funkeln sehen konnte.
Die Küche war nur durch einen schmalen Tresen vom Wohnzimmer getrennt und laut ihrer Mutter so ziemlich auf dem neuesten Stand der Technik. Außerdem war auch sie durch zwei Stufen vom Rest des Raumes abgehoben, was noch einmal einen schönen Schnitt bildete. Gegenüber von der Küche, auf der anderen Seite des Raumes, befand sich zum einen die große Sofaecke. Sie hatten zwar ihr altes Sofa mitgenommen, es allerdings jetzt erst einmal zu Peter ins Zimmer gestellt, weil das Wohnzimmer hier bereits vollkommen eingerichtet war. Stimmig eingerichtet. Ein riesiges, braunes Sofa mit drei Hockern, einem gläsernen Tisch und dazu abgestimmt einem Teppich, der vor dem offenen Kamin lag, raubten nicht nur Sarah den Atem, als sie es das erste Mal gesehen hatte. Auch ihre Eltern hatten es nicht fassen können und ihr Vater hatte in einem kurzen Schwächeanfall sogar einen Augenblick auf einem der Hocker platznehmen müssen. Der ganze Raum (oder vielmehr Saal!) musste über einhundert Quadratmeter haben. Durch die hohe Decke mit der gläsernen Kuppel wirkte es wahrscheinlich noch viel größer, als es letztendlich war.
Vom Wohnzimmer weg gingen nur zwei Türen: auf der Seite des Sofas kam man in das elterliche Schlafzimmer, auf der Seite der Küche gab es ein weiteres, großes Badezimmer. Beides wirkte auf sie so, als wäre es erst vor kurzem neu renoviert worden, aber Anderson verneinte das ein ums andere mal.
„Das hier wurde alles für sehr, sehr viel Geld gebaut und es wurde, wie Sie sehen können, an fast nichts gespart. Mr. Morrison war nicht oft hier, aber einige Male hat er hier Partys gefeiert oder ein langes Wochenende verbracht. Sie können mir glauben: der Mann hat genau gewusst, wie es sich gut leben lässt.“
„Aber hallo!“, hatte ihr Vater zustimmend geantwortet.
Ist das alles wahr? fragte sie sich im Halbschlaf und drehte sich auf die Seite. Das Mondlicht fiel auf ihr ruhiges Gesicht. Bitte mach, das ich nicht träume lieber Gott, ja?
Sie träumte nicht. Doch bald schon wünschte sie sich, sie könnte einfach nur aufwachen.