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Kapitel 5
ОглавлениеMit großen Augen sieht das Mädchen den Ballon an. Er ist groß und rot und glänzt im Sonnenlicht. Der Clown mit dem weißen Gesicht und der großen roten Nase spitzt die Lippen und zeigt den Kindern mit dem Finger an, still zu sein.
Es wird ruhig.
Spannung liegt in der Luft – das kleine Mädchen platzt fast vor Neugierde.
Mit seinen großen, bunten Handschuhen schnappt sich der Clown den Ballon und beginnt damit, ihn zu verknoten. Links herum, unten durch – und schwupps: eine Giraffe.
Die Kinder lachen und klatschen.
Auch das kleine Mädchen lacht und klatscht. Sie streckt die Hand aus, um die Giraffe zu bekommen, aber der Clown sieht sie nicht und gibt sie einem anderen Kind.
Sie ist traurig, aber nicht lange. Schon hat er den nächsten Ballon in der Hand und verknotet ihn. Er macht es fast lautlos und mit zärtlichen Händen. Kein einziger Ballon ist geplatzt.
Marty kommt auf sie zu. Sie lacht ihn an und winkt ihn zu sich. Der Clown ist jetzt nicht mehr interessant. Jetzt ist Marty da.
Marty wedelt mit dem Schwanz und leckt ihr über das Gesicht, als er bei ihr ist. Er riecht nach Hundefutter, aber ihr ist das egal. Sie wird heute sowieso wieder gebadet, da ist sie sich fast sicher. Heute ist Samstag, und Samstag wird immer gebadet. Das ist so. So, wie jeden Tag die Sonne aufgeht, auch wenn man sie manchmal gar nicht sieht weil so viele Wolken am Himmel sind und die Erde zudecken, weil sie auch besser schlafen kann wenn sie nicht vom Licht geblendet wird.
Jemand ruft nach Marty und der, eben noch Feuer und Flamme für sie, bellt kurz und verschwindet wieder. Das kleine Mädchen ist nicht traurig, sie wird ihn ja bald wieder sehen. Sie dreht sich wieder zu dem Clown, der jetzt keinen Ballon mehr in der Hand hält. Jetzt hat er ein Ding in der Hand, das aussieht, wie eine Rassel. Er zieht es durch die Luft und hinten kommen Kugeln und Bälle raus, die in der Luft schweben und leuchten. Die ersten zerplatzen schon, aber der Clown ist schnell und zieht immer wieder neue Bälle aus dem Ding in seiner Hand heraus. Die anderen Kinder klatschen, das Mädchen auch.
Jemand ruft jetzt ihren Namen. Sie schaut auf, aber die anderen Kinder sind größer als sie. Aber sie erkennt die Stimme und weiß, dass gleich jemand kommen und die hochnehmen wird. Das war immer schon so. Sie ist noch zu klein um selbst so weite Strecken gehen zu können.
Da kommt sie auch schon. Und sie trägt Fufi in der Hand. Sein Kopf hängt ein wenig schief, aber das war, weil er nur ein Ohr hatte. Das andere hat ihm nämlich Marty abgerissen, aber das war ein versehen. Hat er ihr gesagt.
„Jetzt komm hoch, meine Kleine. Schneiden wir den Geburtstagskuchen an, oder was meinst du, Angie?“
„Ja, Kuchen!“, ruft sie und denkt, das muss der schönste Tag in ihrem Leben sein.
Die Dunkelheit hatte ihren Kampf gegen die Sonne wieder gewonnen. Es war November. Der fünfundzwanzigste, um genau zu sein. In dieser Jahreszeit waren die Nächte lang und kalt, das wusste Sam. Er mochte den Herbst oder den Winter nicht besonders weil er Angst hatte vor der Dunkelheit. Das hätte er zwar niemals zugegeben, aber es gab einige Menschen, die davon wussten. Da wären seine Mutter, die ihm die Monster unter seinem Bett immer mit einem Gedicht vertrieben hatte, oder seine Ärzte. Sämtliche Ärzte, die er in den vergangenen dreißig Jahren besucht hatte und die ihm nicht nur einfach Spritzen gegeben hatten sondern wirklich mit ihm geredet hatten. Die wussten es, auch wenn er es den meisten nicht gesagt hatte. Irgendwie waren die Ärzte immer dahinter gekommen und haben versucht, ihm die Angst zu nehmen. Letztendlich lief es immer auf Spritzen hinaus.
Noch fiel nur Regen vom Himmel, aber weiter oben in den Bergen war es schon Schnee. Es war ein Sturm aufgezogen, aber der würde seinen Höhepunkt erst in einigen Tagen erreichen. Das sagte die hübsche Frau aus dem Fernsehen, die nach den Nachrichten immer vor der Wetterkarte stand und auf bunte Pfeile und Symbole deutete. Die Frau hatte meistens recht und das machte Sam wütend. Ihm war kalt und er war nass, obwohl er eine recht dicke Winterjacke trug, die er von einem Kerl hatte, der ihm nach einer Zigarette gefragt hatte. Sam rauchte nicht, hatte er nie und würde er auch nicht anfangen. Rauchen war ungesund, das wussten doch schon die Kinder.
Jetzt stand er in diesem kleinen Ort, dessen Namen er schon wieder vergessen hatte. Der Doc war das letzte Mal vor zwei Tagen bei ihm gewesen und hatte ihm gesagt, wo er hin müsste. Wie er dort hinkommen sollte hatte er ihm natürlich nicht gesagt, nur das er vorsichtig sein müsste, weil sie nach ihm suchten.
Sie.
Sam hatte nur eine ungefähre Vorstellung davon, wer sie wirklich waren. Wahrscheinlich die Leute aus der Anstalt und ihre ganzen akkuraten Polizistenfreunde, die nichts Besseres zu tun hatten als den normalen Bürgern das Leben zur Hölle zu machen. So wie Jeffrey und dieser Schwachkopf von Pete, die ihn einfach nicht in Ruhe hatten lassen wollen. Das hatten sie nun davon. Jetzt waren sie tot. T-O-T. Aber das kümmerte Sam herzlich wenig. Früher, als er noch jünger gewesen war, hatte er einmal einen Hund getötet. Nicht weil er ihn angegriffen hätte, sondern einfach nur, weil er Lust dazu gehabt hatte. Er hatte ihn unter einer Brücke gefunden, angekettet an einem Laternenpfahl. Der Köter hatte gebellt und mit dem Schwanz gewedelt und auf ihn zugesprungen, bis ihn seine Leine wieder zurückgerissen hatte. Sam hatte sich umgeschaut, ob jemand in der Nähe war, aber natürlich war niemand da. In solchen Momenten war er immer alleine, es war wie ein Fluch. Also war er zu dem Hund gegangen, hatte ihn an Kopf und Hinterbeinen gepackt und ihm das Kreuz an der Laterne gebrochen. Das hatte ein ziemlich lautes Knacken gegeben und der Hund hatte kurz gejault, aber als er ihn dann zu Boden geworfen hatte war er nur noch einige Sekunden zuckend da gelegen, ehe er still war. Sam hatte ihn noch bestimmt zwei Minuten mit schräg gelegtem Kopf angeschaut, ehe er es für besser befunden hatte, das Weite zu suchen. Man wusste ja nie, wer noch alles vorbeikommen konnte. Manchen Leuten lag ganz schön viel an ihren Tieren, auch wenn er das nie verstehen konnte.
Er stand vor einem kleinen Imbiss mit leuchtend gelben Buchstaben. Das Licht spiegelte sich in den Pfützen wieder und reflektierte von einem Auto, das etwas seitlich von ihm stand. Ein alter Ford Mustang, aber in keinem guten Zustand. Die Stoßstange hing auf einer Seite herab und war auf der anderen Seite nur mit billigem grauem Klebeband befestigt. Außerdem fehlte der rechte Seitenspiegel und auf der ganzen Seite ersteckten sich tiefe Kratzer. Drinnen blinkte alle paar Sekunden ein Licht, wahrscheinlich vom Radio oder einer Alarmanlage. Aber Sam hatte nicht vor, diesen Wagen zu stehlen. Er hätte ihn aufbrechen können, aber ohne Schlüssel war er ziemlich aufgeschmissen. Der Doc hatte ihm einmal erklärt, wie man ein Auto kurzschließen konnte, aber er tat sich schwer dabei, sich Sachen zu merken. Außerdem: wenn es wirklich eine Alarmanlage war dann würden hier ganz schnell zwei oder drei Polizisten auftauchen – und das konnte er jetzt überhaupt nicht gebrauchen.
Was er jetzt brauchte war ein Plan.
Entweder, er musste sich hier in diesem Ort (wie war der verfluchte Name doch gleich?) eine Stelle für die Nacht suchen, wo er zumindest vor dem Regen geschützt war, oder er musste eine Möglichkeit finden, weiter zu ziehen. Der Doc hatte gesagt, immer nach Südwesten, aber er war jetzt schon ganz schön weit im Südwesten und glaubte, dass er schon bald an die Staatsgrenze kommen musste. Sollte er jemanden fragen?
Er schaute sich um. Es waren nicht viele Leute auf der Straße, eigentlich nur drei. Eine Mutter und ihr kleines Kind gingen unter einem Schirm auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie machten schnelle, kleine Schritte und versuchten, den Schutz der Vordächer und Markisen auszunutzen. Das Mädchen trug einen hellen, gelben Regenmantel und Gummistiefel. Ihr schien der Regen nichts auszumachen, denn sie machte sich einen Spaß daraus, Pfützen zu suchen und hineinzuspringen, was die Mutter nur noch mehr dazu antrieb, schneller zu gehen. Sie erreichten ein altes Kino, wo ein neuer Film mit Tom Cruise angekündigt wurde, gingen daran vorbei, hielten kurz vor einem alten Drugstore, wo die Mutter sich in die Hocke begab und irgendetwas zu dem Mädchen sagte, was Sam nicht verstand. Wahrscheinlich schimpfte sie mit ihr, zumindest ließ das Mädchen danach den Kopf hängen und stapfte lustlos neben der Mutter weiter.
Rechts von ihm ging ein Mann auf ihn zu. Er musste etwas jünger sein als Sam und hatte einen Aktenkoffer in der einen Hand, einen Schirm in der anderen. Er trug keine Regenjacke sondern einen langen, braunen Mantel mit einem Kragen aus Fell. Es erinnerte Sam irgendwie an das Fell von dem Hund, den er getötet hatte, und er fragte sich, ob solche Krägen auch aus Hundefell gemacht wurden. Der Mann ging an der leuchtenden Reklame der Autovermietung, die neben dem Imbissladen war.
Im Schaufenster wurde Werbung für ein großes, dunkelblaues Auto gemacht, das auf Sam einen ziemlich teuren und schnellen Eindruck machte. Wahrscheinlich war es ein Auto aus Deutschland – ein Zellengenosse hatte ihm einmal davon erzählt, dass die schnellsten und schönsten Autos immer aus Deutschland kamen. Von amerikanischen Modellen hatte er wenig gehalten: als Sam sie angesprochen hatte war der Kerl rot angelaufen und hatte ihm in sein Essen gespuckt. Sam hatte das Essen weggestellt, es war sowieso schlecht gewesen.
Als er sich von der Reklame losreißen konnte war der Mann schon an ihm vorüber gegangen. Er schaute ihm noch nach bis er um die Ecke verschwunden war, dann drehte er den Kopf in die andere Richtung. Jetzt war wirklich niemand mehr auf der Straße, nicht einmal mehr Autos. Am Ende der Straße blinkte eine Ampel, dann bog ein Bus um die Ecke. Er überlegte kurz, ob er zur Bushaltestelle laufen sollte, verwarf den Gedanken dann aber schnell wieder. Er hatte nicht so viel Geld, das er mit dem Bus fahren konnte. Wahrscheinlich würde der Bus auch nur einen oder zwei Orte weiter fahren, und da hätte er dann das selbe Problem wieder. Nein, was er brauchte war jetzt erst einmal eine Lösung für diese Nacht.
Vor etwa einer halben Stunde war er an einem alten, heruntergekommenen Motel vorbei gekommen. Für eine Nacht hätte er sich wahrscheinlich ein Zimmer nehmen können, aber dann hätte er morgen kein Geld mehr, um weiter zu kommen. Gut, er könnte trampen – aber bei jemandem wie ihm hielten nur die allerwenigsten Menschen an. Ab und zu mal alte Trucker, die ihm dann immer an der Hose herum spielten und ihn dann wieder rauswarfen, wenn er ihnen nicht das gab, was sie sich von ihm erhofft hatten. In Filmen hatte er einmal gesehen, wie zwei Kerle von Staat zu Staat gefahren sind, indem sie auf Züge aufgesprungen sind. Alte Güterzüge wurden nicht kontrolliert und wenn man schnell war, konnte man einen guten Platz erwischen, vielleicht zwischen ein paar Säcken Getreide oder bei einer Lieferung Obst aus dem Süden. Aber Sam hatte während der ganzen Zeit, die er unterwegs war, nur ein Bahngleis gesehen. Dort hatte er so lange gewartet, bis ein Zug gekommen war, aber es war kein Güterzug gewesen. Außerdem war der Zug so schnell gewesen, dass er nur fünfzig Meter neben ihm hergelaufen war und dann gefrustet aufgegeben hatte, um sein Leben nicht zu riskieren.
„Hey, Junge!“
Sam wurde aus seinen Gedanken gerissen. Die Stimme kam von hinter ihm, darum drehte er sich um. In der Tür des Imbiss stand ein großer, dicker Mann, der eine schmutzige, weiße Schürze umgebunden hatte. Er hatte kurze, fettige Haare und Hände, die so groß waren wie Bratpfannen. In seinem linken Mundwinkel steckte eine Zigarette, die schon halb heruntergebrannt war. Er beugte sich nur so wenig aus der Tür, das sein Kopf noch im Trockenen war.
„Wartest du da draußen auf jemanden?“
Sam schüttelte den Kopf, was ja auch der Wahrheit entsprach. Der Typ erinnerte ihn ein bisschen an Mr. Higgins, für den er einmal gearbeitet hatte. Naja, zumindest, bis sie ihn wieder in die Anstalt gesteckt hatten.
„Du vertreibst mir meine Kunden, weißt du das? An Typen wie dir traut sich doch bei Nacht keiner mehr vorbei. Also schau das du Land gewinnst oder komm rein, bevor du dir den Tod holst.“
Sam hatte während der ganzen Zeit, die er hier gestanden hatte, noch keine Menschenseele gesehen, die Anstalten gemacht hätte, in den Laden zu gehen. Er glaubte also nicht, dass er dem dicken Kerl hier irgendein Geschäft kaputt machte. Doch statt jetzt die Einladung anzunehmen blieb er einfach nur stehen und starrte den Mann an.
Der Kerl zog an seiner Zigarette, nahm sie dann in seine riesigen Finger und schnippte sie in Richtung Sam, wo sie in einer Pfütze zum liegen kam und sofort erlosch. „Hast du verstanden, was ich sage? Sprichst du meine Sprache überhaupt oder bist du so eine dumme kanadische Schwuchtel, die nur hier her kommt um unsere Jobs zu klauen und unsere Frauen zu schwängern?“ Er hatte einen tiefen Akzent und Sam konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Vor vielen Jahren war ihm schon einmal jemand begegnet, der so einen Akzent gehabt hatte, aber ihm fiel der Name nicht mehr ein. Wie schon gesagt: er tat sich schwer damit, sich Dinge zu merken.
„Ich verstehe Sie, Sir“, antwortete Sam höflich und ging einen Schritt auf ihn zu. „Und ich bin zum Glück eine mexikanische Schwuchtel.“
Der Blick des Kerls hellte sich ein wenig auf. In seinen Fingern waren schon wieder eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. Er steckte sich eine neue an und machte ein wenig Platz, um Sam hinein zu lassen.
„Gott sei Dank – dachte schon, ich müsste meine Flinte holen, oder?“ Er klopfte Sam auf die Schulter und schloss die Tür hinter ihm.
Drinnen war es angenehm warm, fast schon stickig. Der Geruch von altem Fett und Rauch hing in der Luft, die so dick war, dass du sie hättest schneiden können. In einer Ecke hing ein kleiner, grauer Fernseher, in dem Eishockey lief. Das Ding war so versifft, dass es zu tropfen schien, aber es brachte dennoch ein fast flimmerfreies Bild. Der Tresen war sauber – zumindest einigermaßen. In kleinen Schalen lag Besteck, das seine beste Zeit auch schon hinter sich hatte und an dutzenden Stellen im Griff bereits Rost ansetzte. Eine dampfende Tasse Kaffee und eine Zeitung markierten den Platz, an dem der Kerl, wahrscheinlich der Koch oder sogar der Chef, Platz nahm. Das kleine Lokal hatte nur sechs Tische und etwas über zwanzig Stühle, von denen allesamt leer waren. Es waren billige Plastikhocker, die mit dem Boden verschraubt waren, ebenso wie die Tische. Von überall hatte man einen guten Blick auf den Fernseher, aber Sam konnte das Bild nicht genau erkennen, weil er fast zu weit entfernt davon stand. Er legte seine Jacke ab und schmiss sie über die Lehne eines der freien Stühle.
„Möchtest du ´nen Kaffee?“, fragte der Kerl und nahm einen Schluck aus seiner Tasse, ohne dabei jedoch die Zigarette aus dem Mundwinkel zu nehmen.
„Ich habe kein Geld.“
„Geht aufs Haus“, erwiderte der Kerl und stand auf. Er ging hinter den Tresen und zog darunter eine Kanne mit Kaffe hervor. Dann drehte er sich um, öffnete eine der alten Schranktüren und zog eine Tasse hervor. Er musterte sie mit einem strengen Blick, dann entschied er für sich, dass sie sauber genug für einen Kerl war, der noch nicht einmal dafür zahlen konnte und kam mit der Kanne in der einen und der Tasse in der anderen Hand zu ihm zurück.
„Mein Name ist Hank. Verrätst du mir deinen?“ Er stellte die Tasse auf den Tisch und schenkte ihm den Kaffee ein. Obwohl er dampfte gab es doch nicht den typischen Geruch von Kaffee – dafür war es wohl einfach zu stickig. Sam war trotzdem froh um das warme Getränk. Seine Hände waren steif gefroren.
„Ich bin Louis“, erwiderte Sam. So nannte er sich in den letzten Tagen immer, wie der Affe im Dschungelbuch. Sie reichten sich die Hände. Sams Hände verschwanden fast vollständig in den Pranken des Kochs.
„Also, Louis“, begann Hank und setzte sich mit einem genüsslichen Stöhnen wieder auf den Stuhl, der unter seinem Gewicht ächzte. „Was machst du um diese Zeit in einem so verlassenen Ort wie Brooke?“
Brooke – richtig, das war der Name von diesem Nest!
„Bin auf der Durchreise. Will nach Kalifornien zu meinem Bruder.“
„Kalifornien?“ Hank nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und schnippte sie dann zielsicher in einen Aschenbecher am Nebentisch. Fast in der selben Bewegung zündete er sich die nächste an. „L.A.?“
„Bakersfield. Besser gesagt in einem kleinen Vorort.“
„Mhm.“ Hank musterte ihn interessiert. „Woher kommst du?“
„Minneapolis.“ Das war noch nicht einmal wirklich gelogen.
„Bist du da geboren? Du sprichst nämlich nicht wie einer aus der Ecke, verstehst du?“
Sam schaute ihm tief in die Augen. „Nun, wie spreche ich denn dann, Hank?“
Die Zeit schien für einen Moment stehen zu bleiben. Ihre Blicke hielten sich fest und es war so, als versuchte jeder, hinter die Fassade des anderen zu schauen. Sam musterte Hank sehr genau, auch wenn er nichts Ungewöhnliches erkennen konnte. Der Mann schien einfach nur neugierig zu sein, was sein gutes Recht war. Schließlich gab er ihm hier gerade einen Kaffee aus. Er hatte in seiner Zeit auf der Flucht (und auch schon früher) nur selten Menschen getroffen, die sich von ihm nicht sofort bedroht gefühlt hatten und ihm einfach nur etwas Gutes tun wollten. Für Sam war das ein komisches Gefühl, aber keineswegs so, dass er seine Vorsicht gegenüber dem Typ abgelegt hätte. Dafür hatte er in seinem Leben zu viel erlebt. Und der Doc hatte ihm das auch jedes Mal gesagt. Und der hatte so gut wie immer recht.
Dann veränderte sich Hanks Gesicht zu einem Grinsen und er klopfte Sam auf die Schulter. „Keine Sorge, Louis“, lachte er ihm rau entgegen. „Mir ist es scheiß egal woher du kommst oder wie du sprichst. Ich bin ganz froh, hier drinnen ein wenig Gesellschaft zu haben, das zählt.“ Er zog tief an seiner Zigarette und blies den blauen Rauch durch die Nasenlöcher wieder aus.
„Warum sind hier keine Gäste?“
Diese Frage musste Hank wirklich lustig finden, denn er lachte so laut, dass es von den Scheiben wieder zu hallen schien. Außerdem fiel ihm seine Zigarette fast aus dem Gesicht und er musste sie in die Hand nehmen. Mit der anderen Hand hielt er sich seinen gewaltigen Bauch.
„Hey, Louis: sieht das für dich nach einem Laden aus, wo gute Familien am Abend zum Essen ausgehen? Weißt du, wann ich hier den meisten Umsatz mache: wenn in Greenwich oder St. Patrick Baseballspiele sind. Dann kommen die ganzen Teenager hier vorbei und halten mir damit die Bude über Wasser. Im Winter bin ich froh, wenn sich mal ein einsamer Trucker hier rein verirrt, verstehst du?“
Sam nickte. Klang einleuchtend.
„Der Laden wirft nicht so viel ab, weißt du?“ Er kratzte sich mit einer Hand am Bauch. Das weiße Shirt war an einigen Stellen schon so stark durchgescheuert, dass man seinen haarigen Oberkörper sehen konnte. „Gibt nicht viel Industrie in der Gegend, Touristen sowieso nicht. Louis, in diesem Ort wird man nur geboren oder stirbt. Dazwischen gibt es nichts was man hier machen kann. Deswegen hauen auch immer mehr Menschen ab. Als ich hier angefangen habe, das muss so vor dreiundzwanzig Jahren gewesen sein, da waren hier noch doppelt so viele Leute hier. Jeden Samstag war hier volles Haus, jeden Donnerstag, wenn drüben im Kino die Premieren waren, sind mir hier so viele Teenies und auch ältere Menschen entgegengekommen, dass ich sogar zwei Angestellte hatte. Einen Koch aus Russland, frag aber bitte nicht wie sein Name war, und eine wirklich hübsche Bedienung. Mary glaub‘ ich war ihr Name. Ja, Mary Cooper.“
Er schnalzte mit der Zunge.
„Das war ein Feger, kann ich dir sagen. Alleine wegen ihr hab‘ ich hier drinnen zu der Zeit so viele Kunden gehabt. Ihre Beine.“ Er stöhnte und verdrehte die Augen. Für Sam wirkte er in diesem Augenblick so, als hätte er einen Herzinfarkt und würde jeden Moment nach hinten umkippen. Es wäre ihm nicht ganz unrecht gewesen, auch wenn der Kaffee besser war als es den Anschein gemacht hatte.
„Was ist passiert?“, fragte er, mehr um das Gespräch am Laufen zu halten als weil es ihn wirklich interessierte. Er hörte sowieso nur mit einem Ohr zu. Für ihn stellte sich immer noch die Frage, wie er in den nächsten Stunden weitermachen sollte. Und diese eine Frage war mehr, als sein armes Gehirn überhaupt bewerkstelligen konnte.
„Oh, ich sag‘ dir, was passiert ist: die scheiß Demokraten haben mir hier alles kaputt gemacht. Haben hier die Steuern erhöht, da die Abgaben in die Höhe geschraubt, dort Förderungen für die Industrie gestrichen. Von einem Jahr auf das andere sind mir die Hälfte der Kunden weggezogen, im Jahr darauf noch einmal die Hälfte. Und jetzt schau nach draußen: das Kino ist so gut wie tot, nur noch eine Tankstelle hat Benzin für mehr als drei Autos am Tag und das verfluchte Motel ist so marode, dass es wahrscheinlich nächstes Jahr geschlossen wird. Den Koch musste ich im ersten Jahr entlassen, Mary ist dann im Winter des selben Jahres gegangen, weil ihr Freund irgendwo einen guten Job gefunden hat und ihr `nen Braten in die Röhre schieben wollte. Der Hundesohn: war ein guter Pitcher, hätte was werden können wenn du mich fragst. Aber seine Eltern hielten nix von dem Sport, weißt du? Das waren Kinder aus reichem Haus, selbst nie etwas erreicht und so. Haben ihren Sohn aufs College geschickt und ihm dann `ne Stelle zugeschachert bei `ner großen Firma an der Westküste. Für Mary freut’s mich, keine Frage. Es wäre ja nicht so, dass ich keinem Menschen etwas gönnen würde. Wenn ich könnte, hätte ich den Laden hier schon längst dicht gemacht und mir wo anders ein Schlupfloch gesucht, aber es gibt für einen Kerl in meinem Alter nicht mehr viel, wofür es sich zu arbeiten lohnt. In ein paar Jahren werd‘ ich den Schuppen hier verkaufen und mich zur Ruhe setzen, das sag‘ ich dir. Vielleicht irgendwo im Süden eine kleine Hütte bauen. Irgendwo, wo dieses scheiß Wetter nicht hinkommt, verstehst du?“
Sam nickte. Seine Hände fühlten sich jetzt wieder etwas besser an, aber die bohrende Frage in seinem Kopf machte ihn fast wahnsinnig.
„Weißt du schon, wo du diese Nacht schlafen wirst?“
Sam schüttelte den Kopf.
Hank trank seine Tasse in einem Zug leer und schenkte sich neuen Kaffee ein. „Ich hab hier hinten ein kleines Zimmer. Irgendwo liegt noch eine alte Matratze rum. Ist zwar nichts besonderes, aber bevor du draußen schläfst oder dir im Brooke-Inn den Tod holst könntest du da schlafen. Kostet dich auch nichts.“
„Nein!“
Sam zuckte zusammen und Hank sah ihn fragend an. Der Doc war wieder da. Er stand hinter Hank, direkt unter dem Fernseher. In einer Hand hielt er seinen Spazierstock fest, mit der anderen wischte er über den Bildschirm und hinterließ dabei einen hellen Streifen im Dreck.
„Du wirst nicht bei diesem versoffenen, fetten Kerl bleiben, hast du mich verstanden, Sam?“
Sam bewegte die Lippen, aber es kam kein Laut heraus. Hank legte den Kopf leicht schräg und nahm wieder einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. „Louis? Alles in Ordnung?“
„Du wirst diesem Typen jetzt sagen, dass mit der alles in Ordnung ist und dir noch einmal eine Tasse Kaffee geben lassen.“
„Danke, Hank. Mir geht’s gut. Bekomm‘ ich noch was von deinem Kaffee?“
Hank schenkte ihm nach ohne seinen Blick von Sam zu nehmen. Sam konnte spüren, wie in seinem Gegenüber das Misstrauen wieder wuchs. Seine hohe Stirn war in Falten gelegt, die aussahen, als wären sie mit einem Messer in altes Leder geritzt worden. Das Ende seiner Zigarette glühte fast ununterbrochen.
Der Doc wischte sich seine Finger an seinem Anzug ab und ging einige Schritte auf die beiden zu. Sein Blick war immer noch streng, aber jetzt hatte er auch wieder jenen Funken Güte in sich, an den sich Sam in den letzten Wochen so gewohnt hatte. Er setzte sich an den Tischen neben sie und Sam versuchte, nicht in seine Richtung zu schauen. Es gelang ihm nicht ganz und Hank folgte seinem Blick und drehte seinen Kopf so weit, dass er genau in die Augen vom Doc schaute. Doch anstatt ihn zu sehen schaute er einfach durch ihn hindurch.
„Sam“, begann der Doc und schaute über ihn hinweg an die gegenüberliegende Wand. Dort war eine kleine Pinnwand angebracht mit allerlei Karten aus dem ganzen Land. Eine, wo die Sonne groß und orange über einem Ozean unter ging, gefiel ihm besonders gut. „Wir dürfen jetzt nicht den gleichen Fehler machen wie die Menschen in den Filmen, verstanden? Weißt du, was für Fehler die Leute in den Filmen immer machen?“
Sam nickte stumm. Hank trank noch einen Schluck aus seiner Tasse, dann stand er auf und ging mit der leeren Kanne in der einen, und der Tasse in der anderen Hand zurück zum Tresen. Er stellte beides ab, lies Sam jedoch dabei nicht aus den Augen. Selbst, als er ihm den Rücken zugedreht hatte, nutzte er den Spiegel an der Wand neben dem Herd, den er immer benutzte, um auch dann auf dem Laufenden zu sein, wenn er einmal nicht in die richtige Richtung gedreht saß.
„Frag diesen fetten Kerl, ob er dir ein Taxi ruft.“ Er schlug die Beine übereinander und machte mit der Hand eine auffordernde Geste. Sein Ton war ruhig, aber bestimmt, wie jemand, der es nicht gewohnt war, das man ihm je Widerspruch leistete
„Hank“, stammelte Sam und drehte sich ein wenig auf seinem Hocker, um zum Koch sehen zu können, ohne den Kopf zu sehr zu verrenken. „Könntest du mir vielleicht ein Taxi rufen?“
„Du willst noch weg?“ Hank schüttelte den Kopf, auch wenn es ihm offensichtlich nicht ganz unrecht war, dass Sam aus seinem Laden wieder verschwand. „Mein Angebot steht noch.“
„Danke. Ich muss aber wirklich weiter.“
„Womit willst du das Taxi bezahlen? Du hast gesagt, du hättest nicht einmal Geld für einen Kaffee?“
Sam drehte sich zum Doc um, aber der zuckte nur gelangweilt mit den Schultern.
Nicht mein Problem.
„Ich habe Geld“, antwortete Sam stotternd. „Aber nicht hier.“
„Das wird dem Taxifahrer herzlich egal sein wo du dein Geld hast. Solange du ihn nicht bezahlen kannst wird er so schnell weg sein dass er dir wohlmöglich über die Füße fährt wenn du nicht schnell bist.“
„Gott, ist der Kerl lästig“, knurrte der Doc und warf Sam einen bösen Blick zu. „Lass dich nicht in so ein Gespräch verwickeln. Sag ihm, dass du Geld auf der Bank hast und die nächste Bank irgendwo hinter diesen Orten liegt, von denen er vorher gesprochen hat.“
„Ich muss zur Bank“, erwiderte Sam brav. „Aber die nächste ist erst in St. Patrick. Das ist schon in Ordnung.“
„Zur Bank, hm?“ Hank kratzte sich wieder am Bauch. Seine Zigarette war abgebrannt und ihm hing nur noch der gelbe Filter im Mund. Auf dem kaute er mit den Schneidezähnen lustlos herum und musterte Sam. Sam hielt seinem Blick stand, auch wenn seine Hände zitterten und er sie zu Fäusten ballen musste, damit es nicht auffiel. Er fühlte sich nackt, wie ein Neugeborenes auf einem kalten OP-Tisch.
„Gut, wenn du meinst“, seufzte Hank schließlich und zog einen alten Apparat unter dem Tresen hervor. Die Tasten waren schon ganz abgegriffen und der Hörer war am unteren Ende aufgeplatzt, aber als Hank ihn abhob, konnte Sam das Pfeifen des Freizeichens hören.
Hank wählte ein paar Nummern, dann hielt er sich den Hörer ans Ohr und stützte sich auf dem Tresen ab. Sam schaute zum Doc und der nickte zufrieden. Seine Finger streichelten sanft über den Griff seines Gehstockes.
„Sue?“
Sam drehte sich wieder zu Hank, der wohl jemanden erreicht hatte.
„Ja, hey Sue. Hier ist Hank … Ja, mir geht’s gut. Und selbst alles in Ordnung? Was macht Jos Rücken? … Mhm. … Mhm. … Sturer alter Bock, nicht?“ Er lachte laut auf. „Ja klar, kommt einfach vorbei. Ihr wisst ja, wo ihr mich findet. … Nein, nicht besser. Selbe Scheiße, anderer Tag, richtig?“ Er lachte wieder. „Mhm. … Werd‘ ich machen, kannst dich drauf verlassen. … Ja sicher. … Danke. Hey Sue, eigentlich ruf ich an, weil ich hier jemanden im Laden hab‘, der ein Taxi bräuchte. Hast du um die Zeit noch einen Fahrer für mich frei? … St. Patrick und danach vielleicht noch weiter, weiß ich nicht genau. Kann schon ein oder zwei Stunden dauern. … Ja?“ Er hob eine Hand und zeigte Sam seinen nach oben gestreckten Daumen, das allgemein gültige Zeichen für Geht klar, Junge!
„Zehn Minuten? Wer ist es? … Charlie?“ Hank lachte wieder. „Fährt der immer noch mit dem Auto? Die Bullen in dieser Gegend drücken einfach zu oft ein Auge zu, nicht? … Ja, meine Rede, Sue! … Also dann, danke für deine Hilfe und wir sehen uns demnächst? … Richtig, machen wir. Grüß mir Joe, ja? … Gut!“ Er legte den Hörer auf und räumte das Telefon wieder unter den Tresen, wo Sam es nicht sehen konnte.
„Hast Glück, Louis“, bellte Hank und steckte sich eine neue Zigarette an. Den alten Filter spuckte er auf den Boden. „Ist nicht üblich, dass du um diese Zeit in dieser Gegend noch ein Taxi bekommst. Ist hier nicht so wie im scheiß L.A., richtig?“
„Danke, Hank.“
Hank winkte ab. Sam bemerkte, wie sich Hank zurückhalten musste, um nicht wieder zu ihm an den Tisch zu kommen. Er beugte sich wieder über den Tresen und blies blauen Rauch in kleinen Kreisen aus seinem Mund. Sam fragte sich, wann Hank wohl das letzte Mal mit einer Frau zusammen gewesen sein mochte und bemerkte schließlich selbst, dass auch er schon einige Zeit alleine war. Eigentlich hatte er seine letzte Frau irgendwann in dem Monat gehabt, bevor sie ihn eingesperrt hatten, wegen der Sache mit den zwei Typen an der Tankstelle. Es schien ihm schon unglaublich lange her, was wohl auch stimmte. Sein Zeitgefühl war immer schon schlecht gewesen, aber er glaubte, dass es schon mehr als fünf Jahre gewesen sein mussten. Wahrscheinlich eher sieben oder acht.
„Charlie ist ein ganz schön alter Hundesohn, aber eine gute Seele. Tankt aber manchmal ein bisschen zu viel. Du solltest an ihm riechen, bevor du ins Auto steigst.“
„Solange er mich irgendwie nach St. Patrick bringt ist mir egal, wie viel er getankt hat.“
„Vernünftige Einstellung. Den Kids hab‘ ich hier früher auch das eine oder andere Bier ausgeschenkt. Ist zum Glück immer gut gegangen, bis auf das eine mal. So ein Kerl, Footballspieler.“ Hank schüttelte traurig den Kopf. „Hat den Hals nicht voll bekommen und ist dann mit seinem Wagen gegen `ne alte Eiche gefahren. Ja, ich glaube, es war eine Eiche. Ist durch die scheiß Windschutzscheibe gefallen und einfach am Baum geplatzt.“ Er machte ein schmatzendes Geräusch. „War `ne ziemliche Sauerei. Die Cops waren hier und haben Fragen gestellt. Hat er den Alkohol bei Ihnen bekommen? Schenken sie öfter an Minderjährige aus? Lauter solche Sachen eben. Konnten mir aber nichts nachweisen, die anderen Kiddies haben dicht gehalten. Irgendwoher mussten sie ja auch den Stoff bekommen, um ihren Kummer zu ertränken, nicht wahr, Louis? Das ist der Kreislauf des Lebens.“
Sam nickte, auch wenn es ihm ziemlich egal war, was Hank da von sich gab. Der Doc war wieder verschwunden, so plötzlich und ohne Spuren, wie er auch immer auftauchte. Er hatte ihn wieder auf die richtige Spur gebracht und schien sich damit begnügen zu wollen.
„Was willst du arbeiten, wenn du bei deinem Bruder bist? Schaust nicht so aus, als hättest du was gelernt.“
„Ja?“
„Versteh‘ mich nicht falsch, mein Junge, aber du machst auf mich nicht den hellsten Eindruck. Deine Augen schauen ganz schön oft einfach so ins Leere.“
„Vielleicht bin ich einfach nur müde.“
„Ja, vielleicht.“
Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann entschloss sie Sam, doch auf die Frage zu antworten. Er wollte den fetten Kerl nicht verärgern, schließlich hatte er eine Menge für ihn getan, ohne ihm blöd zu kommen oder unangenehme Fragen zu stellen.
„Mein Bruder hat ein kleines Bauunternehmen. Er will, dass ich ihm auf einer Baustelle helfe. Steine schleppen, Beton anrühren und solche Sachen.“ Er hatte einmal einen Film über jemanden gesehen, der gelegentlich am Bau aushalf, und der hatte in einem Gespräch während des Films genau diese Worte benutzt. Sam klopfte sich innerlich selbst auf die Schultern, dass er sich das hatte merken können.
„Ehrliche Arbeit. Musst aber auf deinen Rücken aufpassen, sonst geht’s dir so, wie dem armen Joe. Hat sein halbes Leben lang auf Baustellen oder in Bergwerken geackert. Jetzt ist er froh, wenn er noch ohne Hilfe ein Glas hochheben kann oder zum Scheißen nicht die Hilfe seiner Frau braucht.“
„Das tut mir leid.“
„Ach, Joe ist eine gute Haut. Der nimmt das locker.“ Hank lachte, dann wurde sein Lachen zu einem ungesund klingenden Husten. Er spuckte etwas vor sich auf den Boden und Sam war froh, dass er das nicht sehen musste.
„Sag mal, Louis, darf ich dir eine Frage stellen?“
„Klar.“
Hank stieß wieder blauen Rauch durch die Nase aus. „Du kommst aus Minneapolis, richtig? Und du willst den ganzen scheiß Weg bis L.A. mit dem Auto fahren? Du hast nicht mal ein eigenes Auto, stimmt’s?“
Sam schüttelte den Kopf und schaute sich um, ob der Doc vielleicht wieder aufgetaucht war. Natürlich war er nicht zu sehen, aber irgendwie wusste er, dass er ihn beobachtete.
„Du fährst also Tausende von Meilen durch das Land und zahlst hunderte von Dollars, um in Hotels zu schlafen, Taxis zu bezahlen oder dir Mietwägen zu leihen, richtig?“
Sam nickte, auch wenn er, um ehrlich zu bleiben, noch nicht allzu viel Geld gebraucht hatte. Er hatte sehr überzeugende Argumente wenn es darauf ankam, gerade wenn es um Essen oder Mitfahrgelegenheiten ging.
„Warum hast du dir nicht einfach ein verdammtes Flugticket gekauft und bist nach L.A. geflogen? Wenn du das Geld dafür nicht gehabt hättest, dann würdest du jetzt auch nicht hier sein.“
„Ich habe Flugangst“, antwortete Sam wie aus der Pistole geschossen. „Trau mich nicht an einen Flughafen ran, geschweige denn in ein Flugzeug.“
Gute Antwort.
„Flugangst, hm?“, knurrte Hank und setzte ein breites Grinsen auf. In diesem Moment wusste Sam, dass der Kerl ihm auch nicht das Geringste glaubte. Sein Herz begann, schneller zu schlagen und seine Atmung beschleunigte sich zu einem unruhigen Pressen. Er konnte fühlen, wie seine Hände wieder zu zittern begannen und er versuchte, sie in einer Faust zu verbergen. Seine Gedanken rasten – zumindest für seine Verhältnisse. Es war, wie so oft, wenn er sich eingeengt fühlte: die Umgebung um ihn herum verschwamm ein wenig und er hatte das Gefühl, als stünde er in einem Tunnel, vor sich nur zwei Türen. Eine Tür führte ihn hinaus wenn der Zufall es gut mit ihm meinte und in diesem Moment der Taxifahrer in der Tür stehen würde. Die andere Tür meinte es auch gut mit ihm, aber schlecht mit dem Koch.
Er lauschte, doch die Tür hinter ihm blieb zu. Natürlich.
Mit einem Ruck stand er auf und stieß dabei gegen den Tisch. Die Tasse wackelte und fiel schließlich auf den Boden, wo sie mit einem lauten Klirren zerbrach. Das Geräusch hallte in dem leeren Lokal so laut, als würde ein Zug von einer Wand zur anderen rauschen und mit einem Tosen durch sie hindurch brechen. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, aber das waren sie auch vorher schon gewesen. Er machte einen schnellen Schritt auf den Tresen zu, aber Hank hatte den Braten bereits gerochen, bevor er fertig war.
Mit einer leichten, flüssigen Bewegung zog er eine Schrotflinte unter seinem Tresen hervor und hielt sie locker mit einer Hand von sich. Die Mündung zeigte genau auf Sam, der augenblicklich stehen blieb. Der Tunnelblick war immer noch da, aber etwas
der Doc
hielt ihn zurück, Dummheiten zu machen.
„Ganz ruhig, Großer!“, lachte Hank. Die Zigarette in seinem Mundwinkel war auch fast ganz aufgeraucht und wippte nur noch dampfend hin und her. Der Anblick erinnerte Sam an die Cartoons, wo der Rest einer Zigarre immer mehrere Zentimeter vor dem Mund schwebte und die Bewegungen des Kopfes dennoch mitmachte. „Lass uns diesen schönen Abend nicht so kaputt machen, ja?“
Sam kochte innerlich. Seine Finger kribbelten und er wäre am liebsten auf den Kerl zugerannt, aber seine innere Stimme sagte ihm, dass er nicht einmal einen halben Meter vorwärts gekommen wäre, eher das meiste von ihm verstreut im Lokal hängen würde wie Wackelpudding.
„Weißt du, Louis – sofern das dein richtiger Name ist -, ich hab‘ mir schon von Anfang an gedacht, das an dir was nicht ganz richtig ist. Irgendwie lässt mich das Gefühl nicht los, dass du ein bisschen verrückt bist, verstehst du? Nicht so verrückt wie Jack the Ripper oder so, vielleicht eher so wie Forrest Gump. Kennst du Forrest Gump?“
Es war nicht das erste Mal, dass man ihn das fragte. Doch wie die male davor schüttelte er auch jetzt den Kopf.
„Naja, ist ja auch egal. Wahrscheinlich täusche ich mich, und du bist einfach nur ein Trottel, ohne irgendwelche Begabungen. Sonderlich schnell rennen kannst du wahrscheinlich nicht, oder?“
Als Sam nicht antwortete, fuhr er unbeirrt fort. „Ich will hier keinen Ärger haben, kapiert? Es ist mir eigentlich scheiß egal, warum du hier mit dem verfluchten Taxi weg willst, warum du nicht in einem Flugzeug bist oder ob die ganze scheiß Army hinter dir her ist, verstehst du? Wir machen uns hier nicht so viel aus solchen Geschichten. Wenn du hier keinen Ärger machst, brauchst du auch vor den Leuten keine Angst zu haben, weder vor mir, noch vor irgendjemandem sonst. Wir leben hier unser Leben, du lebst dein Leben. Wenn sich beide mal überschneiden …“. Er zuckte mit den Schultern und machte mit der freien Hand eine wegwerfende Bewegung. „ … dann kümmert mich das nicht, kümmert dich das nicht, kümmert das niemanden, klar? Es kümmert mich einen Dreck, ob du jemanden abgestochen hast, eine Tankstelle überfallen oder die verfickte First Lady geknallt hast, okay? Du bist hier in meinem Revier – und solange du hier nichts unrechtes getan hast, bist du für mich so gut wie jeder andere Bürger in dieser Stadt.“
Draußen ertönte eine Hupe. Sam musste sich nicht umsehen, um zu wissen, dass es sich um das Taxi handelte, dass Hank bestellt hatte. War wirklich schon so viel Zeit vergangen?
Hank legte die Flinte auf den Tresen und hob beide Hände. „Siehst du: ich bin nicht dein Feind. Steig in das Taxi und verschwinde einfach von hier. Du musst Charlie kein Trinkgeld geben, aber ich wäre dir dankbar, wenn du ihm vielleicht eins auf die Nuss geben könntest. Er braucht ab und zu einen Denkzettel, um daran erinnert zu werden, wer er eigentlich ist. Kannst du das für mich machen, Louis?“ In seinem Gesicht lag ein selbstsicheres, böses Grinsen. Seine gelben Zähne glänzten Sam an. Sie hatten dieselbe Farbe, wie die Filter seiner Zigaretten.
Schließlich legte sich die Anspannung von Sam und er nickte. Er wusste, dass seine Möglichkeiten ohnehin begrenzt waren. Wenn er nicht hier und jetzt erschossen werden wollte, musste er das tun, was Hank ihm sagte. Es war komisch, aber er glaubte dem Koch. Was für einen Grund sollte er auch haben, ihn anzulügen? Schließlich könnte er die ganze Sache mit einem einzigen kurzen Druck an seinem Zeigefinger beenden.
Hank schien die stille Zustimmung irgendwie bemerkt zu haben, denn sein Lächeln wurde noch ein bisschen breiter und er reichte Sam die Hand. Sam ging auf ihn zu, ergriff sie und wunderte sich wieder, wie jemand so eine große Hand haben konnte. Sein Blick streifte noch einmal kurz die frei liegende Schrotflinte auf dem Tresen, die nur wenige Handbreit von ihm entfernt war, aber er hatte nicht mehr das Verlangen, sie zu nehmen. Er war sich nicht sicher, ob er sie überhaupt erreicht hätte, oder ob Hank nicht noch einen Trick auf Lager gehabt hätte, ihn daran zu hindern. Ihre Blicke trafen sich und sie beschlossen ihr stilles Einvernehmen.
Dann drehte Sam sich ohne weitere Worte um und verließ das Lokal. Als er schon in der Tür stand und das Taxi, das direkt vor ihm parkte, schon sah, rief Hank ihm noch etwas hinterher.
„Nur einen kleinen Klaps, ja? Du sollst ihm nicht gleich das Genick brechen.“ Er lachte. Das Lachen verstummte, als Sam die Tür hinter sich schloss. Dann waren wieder nur das Prasseln des Regens und der unruhig laufende Motor des Taxis zu hören. Es war ein alter Chevy, mit durchgerosteten Löchern an den Kotflügeln und einer Farbe, die Sam noch nie zuvor gesehen hatte. Vielleicht war es einmal orange gewesen, aber das musste schon zwanzig, dreißig Jahre her sein.
Er stieg hinter dem Beifahrersitz ein. Im Inneren roch es nach altem Fusel und Zigaretten, Käsekräckern und Schweiß. Er verzog kurz das Gesicht, sagte aber nichts. Der Kerl am Steuer, Charlie, drehte sich zu ihm um. Er hatte langes, graues Haar, das ihm fettig ins Gesicht und über die Schultern fiel. Sein Gesicht war eingefallen und seine Augen wirkten im Licht der eingeschalteten Innenbeleuchtung leblos. Er hatte eine fiese Infektion an der Oberlippe, die nicht mehr nur nach Herpes aussah und als er redete, offenbarte er eine faulige Grotte, die früher einmal seine Mundhöhle gewesen war.
„So Junge, wo soll’s denn hingehen?“
Er hatte einen noch viel schärferen Akzent als Hank ihn gehabt hatte. Außerdem war seine Aussprache undeutlich, was ziemlich sicher an den wenigen Zähnen lag, die er noch hatte, und daran, das er ordentlich betrunken zu sein schien.
„Nach Westen“, antwortete Sam.
„Fahr ich nicht.“
„Was?“
„Bei dem Wetter schwimmt einem da die Straße davon. Wüssten Sie, wenn Sie hier wohnen würden.“
Sam stöhnte leise. „Ich glaube schon, dass sie da lang fahren werden.“
„Hören se mal, Mister“, begann Charlie, aber Sam gab ihm keine Gelegenheit, mehr zu sagen. Er packte Charlie an den schmalen Schultern und zog ihn mit einem festen Ruck ein wenig zu sich. Charlie quiekte überrascht auf, hatte den starken Händen aber nichts entgegen zu setzen. Sam holte ihn ganz nahe zu sicher heran.
„Hör du mir mal zu, Charlie“, sagte er aufgesetzt freundlich. „Wenn ich nach Westen fahren will, dann fährst du mich nach Westen. Und wenn ich auf den beschissenen Mond fahren will, dann fährst du mich da auch hin, okay? Fahr jetzt los oder ich mach die Karre hier zu deinem Grab.“
Charlie schaute ihn aus großen Augen heraus an. Seine Unterlippe zitterte stark. Sam warf ihn wieder zurück auf den Fahrersitz und machte mit der Hand eine auffordernde Geste. „Gang rein und los geht’s!“
Charlie murmelte etwas, das Sam nicht ganz verstehen konnte, aber schließlich spurte er doch und setzte den Wagen in Bewegung. Sie bogen an der nächsten Kreuzung nach links ab und verließen Brooke nach weiteren drei Kreuzungen und zwei Minuten. Der Regen prasselte laut gegen das Wagendach und machte Sam schläfrig. Auch wenn er sich vornahm, noch nicht einzuschlafen, konnte er sich nicht mehr lange dagegen wehren. Eine innere Stimme sagte ihm, dass Charlie keine Probleme machen würde.
Sie sollte Recht behalten.
Das Fernsehbild war schlecht, aber Sam merkte das nicht. Er kannte die Geschichten, die farbenfroh und tonlos zu sehen waren, auswendig. Jeden Tag, wenn die kleinsten ihren Mittagsschlaf hielten, durften die größeren Kinder sich im Gemeinschaftsraum versammeln und Zeichentrickfilme anschauen. Disney, Warner Brothers – manchmal einige Folgen von einer Serie aus Japan, aber daraus machte sich Sam nicht so viel. Die Figuren hatten viel zu große Augen, zu kleine Münder und bewegten sich auch so gut wie gar nicht. Außerdem waren überall bunte Lichter zu sehen, komische Kreaturen, die er sonst noch nirgends gesehen hatte und eine Handlung, der er wahrscheinlich auch mit Ton nicht hätte folgen können. Um ehrlich zu sein, tat er sich schon schwer, der Handlung beim Roadrunner zu folgen, aber das brauchte ja keiner zu wissen. Es gab Dinge, die man besser für sich behalten sollte, das wusste er schon seit einiger Zeit. Zum Beispiel, warum man eigentlich hier in diesem Heim war, wenn man doch Eltern hatte, die in einem mittelgroßen Haus in einer ganz netten Wohngegend wohnten, nicht tranken oder Drogen nahmen, feste Jobs hatten und eigentlich ein ganz geordnetes Leben führten. Er wusste es selbst nicht ganz genau, aber sein Gedächtnis war nie besonders gut gewesen. Früher hatten die Ärzte immer zu seinen Eltern gesagt, er sei ein Kind, dem man besonders viel Aufmerksamkeit schenken musste. Er würde langsamer lernen und Probleme mit der Gesellschaft haben. Aber Sam wusste ganz genau, was der Arzt seinen Eltern damals mitgeteilt hatte: dass er ein Trottel war und sie nur nach einem Grund suchten, ihn abzuschieben. Das hatte sein Onkel ihm an jenem schicksalhaften Samstagnachmittag auch erzählt, als die ganze Sache ins Rollen gekommen war. Manchmal glaubte er, dass sein Onkel der einzige Mensch auf der Welt war, der ihn verstand. Er hatte ihn noch einmal besucht, aber das war schon lange her, bestimmt ein Jahr oder zwei. Er hatte ihm über den Kopf gestreichelt und etwas gesagt, das Sam sich immer wieder in Erinnerung rief. Sie wollen dir wegnehmen, was eigentlich deins ist, Junge.
„Walter?“
Sam schaute auf. Sie hatten ihm hier einen anderen Namen gegeben. Also eigentlich waren es nicht einmal die Leute hier im Heim gewesen, sondern die Pflegefamilie, bei der er einige Monate verbracht hatte. Die hatten ihn Walter genannt, weil sie von irgendjemandem gehört hatten, dass man mit einem neuen Namen anfangen sollte, um ein ganz neues Leben um ihn herum aufzubauen. Wenn er immer wieder bei dem alten Namen genannt werden würde, den seine echten Eltern ihm gegeben hatten, bevor sie ihn verstoßen hatten, dann würde seine kleine Seele niemals aufhören, an diese Zeit zurück zu denken.
Also haben sie ihn Walter genannt. Sam hielt nicht viel von diesem Namen – er machte ihn alt und irgendwie noch dümmer, als er sogar in seinen Augen war. Wie Walter, der Straßenfeger oder Walter, der Kerl, der die toten Tiere vom Highway holt, wenn die Trucks sie zermatscht haben. Das hatte ihm Hugh erzählt, ein Junge in seinem Alter. Sam glaubte, dass Hugh vielleicht der einzig Junge im Heim war, vor dem man wirklich Angst haben musste. Er hatte ein blindes Auge, das irgendwie milchig ausschaute, und eine ziemlich vernarbte Haut am rechten Arm. Als Sam ihn einmal gefragt hatte, was er angestellt hätte, hat ihn Hugh einfach nur angelächelt und mit dem Daumen an seinem Zeigefinger gerieben. Sam hatte es nicht verstanden und es dabei belassen.
Ansonsten waren die anderen Kinder ganz in Ordnung. Sam hatte nicht viele Freunde, eigentlich nur zwei oder drei, mit denen er regelmäßig zu tun hatte, aber das war ihm ganz recht so. Es gab Kinder, die den ganzen Tag nur aus dem Fenster starrten oder auf Stühlen saßen, und sich nicht bewegten. Die wurden öfter von Krankenschwestern oder Pflegern mitgenommen – zur Therapie. Sam wusste nicht, was dieses Wort bedeutete, aber danach waren die Kinder meist für ein paar Stunden etwas aufgeweckter, etwa bis zu der Zeit, wenn es Abendessen gab. Danach wurden sie wieder ruhiger und verkrochen sich wieder in ihrem Inneren.
Aber er fand es nicht ungewöhnlich, dass die Kinder hier etwas anders waren. Schließlich war er das selbst ja auch. Sie sagten es ihm zwar nicht direkt, ließen es ihn aber immer wieder spüren. Vor einigen Jahren war er in einem anderen Heim gewesen, wo die Kinder immer miteinander gespielt hatten. Da war gelacht worden, manchmal auch geweint oder geschrien, aber das war ein ziemlicher Spaß gewesen. Dort hatten sie ihn weggeholt, nachdem er bei zwei anderen Familien gewesen war und die ihn wieder zurück gebracht hatten. Die Ärzte, bei denen er dann immer häufiger gewesen war, hatte ihm gesagt, es wäre besser für ihn, wenn er da wohnen würde, wo man ihm ständig helfen konnte, um sein spezielles Wesen besser verstehen zu können. Also hatten sie ihn hier her gebracht – und hier war es nicht mehr so, wie in dem anderen Heim. Die Kinder lachten selten, hier weinten oder schrien sie häufiger. Manche sogar die ganze Nacht hindurch.
„Hey, Walter!“
Sam drehte sich um und blickte auf. In der Tür stand ein junges Mädchen, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als er selbst. Sie hatte ihm schon öfter seinen Namen gesagt, aber den hatte er wieder vergessen. Maya vielleicht, aber es hätte genauso gut Mariella sein können. Sie hatte lange, braune Haare, die sie zu zwei Zöpfen gebunden hatte, die ihr jetzt über die Schultern herab hingen. Sie war vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und hatte im ganzen Gesicht Sommersprossen. Ihre Augen glitzerten aufgeregt und Sam hätte sie wirklich hübsch gefunden, wenn in ihrem Mund nicht so viele Zähne gefehlt hätten, dass ihr Lächeln mehr an einen Totenkopf auf einer Piratenflagge erinnerte als an das Lächeln eines hübschen Kindes.
„Was ist?“, rief er. Jemand, der neben ihm saß, legte den Zeigefinger auf die Lippen und wollte ihm damit zeigen, leise zu sein. Sam verstand nicht, warum, schließlich war der Fernseher tonlos, also beachtete er ihn nicht weiter.
Sie winkte ihn zu sich und wirkte aufgeregt. Sam schaute noch einmal zum Fernseher, wo ein langohriger Hase gerade eine rote Rübe knabberte, während hinter ihm eine schwarze Ente eine riesige Beule auf dem Kopf bekam und in den Augen zwei große Fragezeichen stehen hatte.
Er stand auf und gab dabei dem Kerl, der ihn gerade ermahnt hatte, ruhig zu sein, einen unauffälligen Stoß gegen den Kopf mit. Der Kerl fing sofort zu weinen an, aber der einzige Pfleger, der mit ihnen im Raum war, schaute nur kurz von seiner Zeitung auf und blieb sitzen.
„Was ist los?“, fragte Sam, als er das Mädchen erreichte. Die kicherte und packte ihn an der Hand.
„Komm mit.“
Sie zog ihn auf den Gang hinaus. An den Wänden hingen Bilder, alle von den Kindern selbst gemalt. Sie hatten nur die schönsten und buntesten aufgehängt, um dem tristen, grauen Gang zumindest ein bisschen Leben einzuhauchen. Das kalte Licht der Neonröhren an der Decke war gleißend hell und ließ keinen einzigen Schatten zu. Bis auf die Bilder war der Gang komplett leer – kein Teppich, keine Stühle, keine Regale. An einem Ende waren, wenn man um die Ecke bog, weitere Türen. Die führten ins Treppenhaus oder in das Büro des Direktors, der an einem großen, schweren Eichentisch saß. Der Direktor war ein Mann Ende fünfzig mit langen, grauen Haaren und einem schmalen Gesicht. Seine Finger glichen den Beinen von Spinnen und waren unheimlich. Sam hatte den Direktor schon öfter besuchen müssen, meistens, wenn er wieder Streit angefangen hatte. Der Typ war ihm unheimlich, auch wenn er Sam nie etwas Böses getan hatte. Ein bisschen glaubte Sam auch, dass der Direktor Angst vor ihm hatte, schließlich war Sam sehr groß und breit für sein Alter und hatte kräftige Arme. Er wusste nicht, was passieren würde, wenn der Direktor es wirklich einmal darauf anlegen sollte, aber zu diesem Zeitpunkt war Sam sich seiner Kraft auch noch nicht so bewusst, wie er es in den nächsten Jahren sein würde.
Aber das Mädchen (es musste Maya gewesen sein, er war sich fast sicher) führte ihn nicht in diese Richtung, sondern in die andere. Dort waren, wenn man um die Ecke bog, die Toiletten für die Angestellten und, wenn man noch ein paar Meter weiter ging, die Toiletten der Kinder.
Sie stieß die Tür zur Mädchentoilette auf und ging hinein. Sam blieb im Türrahmen stehen und riss sich aus dem Griff los.
„Ich darf da nicht hinein, Maya“, sagte er.
„Natürlich darfst du. Ich muss dir etwas zeigen.“
Sam schüttelte den Kopf. „Der Direktor hat gesagt, wenn ich jemals in die Mädchentoilette gehe, dann gibt es Ärger. Ich will keinen Ärger.“
Maya verdrehte die Augen. „Jetzt stell dich nicht so an. Ich dachte, du bist cool.“
„Ich bin cool.“
„Dann beweis es mir.“
Sam dachte an den Tag zurück, als der Direktor ihnen die Regeln erklärt hatte. Viel hatte er sich nicht merken können und jetzt, da er sich umschaute und den leeren Gang vorfand, wo keine Menschenseele war und, da war er sich fast sicher, in den nächsten Minuten auch keine auftauchen würde, war es ihm auch wieder ziemlich egal. Diese Einstellung würde ihm in Zukunft noch einige Probleme machen, aber das wusste er da natürlich noch nicht.
Er ging durch die Tür an Maya vorbei. Das Mädchen lächelte zufrieden und schloss die Tür hinter ihnen.
Die Toilette der Mädchen war fast genauso wie die Toilette der Jungs. Sam betrachtete die zwei Waschbecken an der Wand. Die Wasserhähne hatten auch hier nur kaltes Wasser zu bieten, aber hier waren sie besser in Schuss. Vor einigen Wochen hatte er einen kleineren Jungen dabei beobachtet, wie er sich an einem der Wasserhähne in ihren Räumlichkeiten zu schaffen gemacht hatte. Er wusste nicht genau, was er eigentlich gemacht hatte, aber seit dem spritzte das Wasser immer in alle möglichen Richtungen und der Hahn selbst war ziemlich verbogen.
Zwei Seifenspender hingen unter den beiden Spiegeln, die über den Waschbecken angebracht waren. Auf einem war ein alter, verbleichter Aufkleber von Schneewittchen geklebt, der auf einen Film von Walt Disney hinwies. Auf dem anderen war mit einem Kugelschreiber ein Herz gemalt worden, das von einem Pfeil durchstoßen wurde. Darin waren die Buchstaben B und F abgebildet, beides so geschrieben, dass es nur von einem Mädchen stammen konnte. Jungs hatten nicht so eine schöne Schrift, zumindest die meisten nicht.
Maya schob sich an ihm vorbei und sie gingen durch den kleinen Türstock, wo aber keine Tür mehr eingehängt war. Dahinter befanden sich die eigentlichen Toiletten. Hier bemerkte Sam sehr wohl einen Unterschied. Während bei ihnen auf der rechten Seite eine Rinne am Boden war, wo sie hinein pinkeln konnten, waren bei den Mädchen nur noch einmal drei Kabinen. Außerdem waren die Türen nicht blau, sondern in einem hellen Gelb gehalten, das aber auch schon an vielen Stellen abblätterte und den weißen Untergrund freilegte. Die Fließen waren ebenso grau wie der Fensterrahmen, in dem das Milchglas eingelassen war. Das Fenster war gekippt und von draußen drangen die Geräusche der nahe gelegenen Straße zu ihnen. Hupende Autos, quietschende Bremsen und das Geräusch von lauten Motorrädern. Von den Schlafräumen konnte man die Straße nicht so gut hören, weil die auf der anderen Seite des Gebäudes waren. Sam fand das schade, denn wenn er in der Nacht oft noch wach lag, hörte er gerne vertraute Geräusche, die ihn ablenkten. Bei ihnen konnte man nur ab und an das Zirpen von Grillen im Sommer und das Wehen des Windes durch die schmale Gasse zwischen der Sporthalle und Mr. Hankey’s Geräteschuppen hören.
„Was soll ich hier?“, fragte er Maya.
„Schau mal“, sagte sie mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. Sie drückte eine der Türen zu den Toiletten auf der linken Seite auf. Dahinter befand sich neben dem WC eine kleine Schachtel, auf der ein dickes Buch lag. Sam glaubte, dass es die Bibel war, aber er konnte das nicht genau erkennen.
„Was ist in der Schachtel?“
„Eine Überraschung.“
„Darf ich sie sehen?“
„Nein, du musst noch kurz warten, bis die anderen hier sind.“
„Die anderen?“
Sie gab ihm mit der Hand zu verstehen, dass er jetzt ruhig sein sollte. Er gehorchte und lehnte sich gespielt lässig an eine der anderen Kabinentüren. Den Blick konnte er aber nicht von der Schachtel nehmen. Es war eine alte Verpackung für Schuhe, zumindest waren auf einer Seite ein schwarzes Paar Herrenschuhe abgebildet. Ein relativ gut lesbarer Lieferschein hing auch noch daran, darunter eine Ansammlung von unterschiedlich dicken Strichen, die Sam schon öfter auf Verpackungen gesehen hatte. Er wusste noch nicht, was ein Barcode war und sollte auch zwanzig Jahre später noch nicht verstehen, für was man ihn eigentlich brauchte.
Insgesamt mussten sie so etwa fünf Minuten schweigend nebeneinander verbracht haben, als die Tür ein weiteres Mal aufging. Sam rutschte das Herz in die Hose, weil er dachte, dass jetzt einer der Erzieher herein kommen und ihn dann beim Direktor vorbei schicken würde. Aber es kamen nur zwei weitere Kinder herein, ein Mädchen und, Gott sei Dank, ein weiterer Junge. Sam kannte das Mädchen nur vom sehen, aber der Kerl war Brian. Er hatte einige Zeit mit ihm letztes Frühjahr gespielt, aber irgendwann hatten sie einen Streit gehabt und Brian hat sich nicht mehr in seiner Nähe blicken lassen.
„Hi, Walter“, grüßte ihn Brian.
„Hi, Brian.“
Der Junge stellte sich neben ihn. Er war ungefähr im selben Alter wie Sam, aber einen ganzen Kopf kleiner. Auf seiner Nase waren einige Sommersprossen, aber nicht wirklich viele. Er hatte rötliches Haar, das er jetzt unter einer coolen Kappe verbarg, die ganz schwarz war und an der Seite ein goldenes Logo hatte. Er trug sie richtig herum, aber Sam hatte auch schon gesehen, wie er sie falsch herum auf dem Kopf getragen hatte und nur eine Strähne seiner Haare durch die Öffnung für den Verschluss hinten gefallen war.
Die beiden Mädchen umarmten sich zur Begrüßung und Sam verdrehte die Augen. Brian machte es genauso, aber unter dem Schirm seiner Kappe konnte Sam das nicht sehen. Dann ging Maya zu der Schachtel und hob sie vorsichtig hoch. Das Buch rutschte kurz an den Rand und drohte, herunter zu fallen, aber Maya fing es im letzten Moment geschickt auf und hielt es vorsichtig fest. Die Kiste schien nicht besonders schwer zu sein, denn sie trug sie mit nur einer Hand heraus und stellte sie dann vorsichtig in die Mitte des Raumes. Das andere Mädchen kicherte nervös und wand die Finger ununterbrochen ineinander.
„Ihr müsst versprechen, nichts zu erzählen, okay?“
„Was sollen wir nicht erzählen?“, fragte Brian und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was ist in der Kiste?“
„Erst müsst ihr Schwören!“
Brian schaute zu Sam auf, aber der zuckte nur mit den Schultern. Er hielt nicht viel vom Versprechen und Schwören, weil er nicht verstand, was es damit auf sich hatte. Aber er hatte schon bemerkt, dass manchen Kindern und auch Erwachsenen hier sehr viel daran lag, also spielte er mit und hob, wie man es ihm gezeigt hatte, die rechte Hand.
„Ich schwöre“, sagte er monoton. Brian nickte und machte es ihm nach.
„Gut“, antwortete Maya. Dann nahm sie das Buch (es war wirklich die Bibel gewesen, aber eine ziemlich alte Fassung) und legte es neben den Karton. Dann öffnete sie vorsichtig die Ränder und gab den näher aufgerückten Jungs die Chance, einen Blick zu erhaschen.
In dem Karton saß eine kleine Katze. Sie konnte noch nicht so alt sein, höchstens fünf oder sechs Wochen, denn sie war so klein, dass sie ohne Probleme auf Sams Handflächen hätte stehen können, ohne auch nur in die Nähe des Randes zu kommen. Sie hatte große, blaue Augen und ein weißes Fell, das mit schwarzen Punkten durchsetzt war. Die kleinen Krallen waren ausgefahren, aber Sam wusste, dass es noch einige Wochen dauern würde, bis die Kleine in der Lage sein würde, die selbständig einzuziehen. Das hatte er in der Schule gelernt. Als das Licht die Schatten aus der engen Kiste getrieben hatte, schaute sie mit großen Augen nach oben und gab einen kläglichen Laut von sich, der sehr viel mehr von dem Krächzen eines kleinen Kükens an sich hatte als von einem Miau.
„Was ist das?“
„Eine Katze, du Dummkopf“, fuhr Maya ihn an. Das andere Mädchen kicherte. „Hast du noch nie eine Katze gesehen?“
„Noch nie so eine kleine. Was macht sie in dem Karton?“
„Da haben wir sie rein gepackt, um sie unbemerkt hier her bringen zu können.“
„Warum?“
Maya schaute ihm tief in die Augen. Sam erschrak etwas und merkte, dass er rot wurde. Seine Ohren fingen schon an zu glühen und seine Wangen brannten ein wenig.
„Wir wollen etwas versuchen.“
„Was?“, fragte Brian. Er hatte sich ein wenig über den Karton gebeugt und streichelte mit seiner Hand sanft den Kopf des kleinen Kätzchens. Sie spähte über den Rand des Kartons, aber als sie heraus springen wollte, hielt das andere Mädchen sie mit dem Arm zurück.
„Ob es stimmt, das Katzen sieben Leben haben.“
„Wie wollt ihr das herausfinden?“, fragte Sam. Er wollte die kleine Katze auch streicheln, aber er hatte Angst, sie würde unter seinen Händen einfach auseinanderbrechen. Ihr kurzes Fell schaute so weich aus wie ihr Körper zierlich war.
„Wir spülen sie die Toilette runter“, rief das andere Mädchen freudig erregt. Sie hatte wieder die Finger ineinander geknotet und spielte mit ihnen herum.
„Was?“, fragte Sam erschrocken.
„Das könnt ihr nicht machen!“, rief Brian und stand wieder auf. Vielleicht schob er seinen Körper unbewusst etwas zwischen die Katze und die Mädchen, aber Sam war trotzdem dankbar dafür.
„Aber natürlich können wir das machen!“, rief Maya und klatschte in die Hände. „Das ist ja das Schöne daran. Wir üben hier am lebenden Objekt, nicht nur Theorie wie in der Schule. Das hier ist echte Wissenschaft!“
„Das ist Mord!“, stammelte Brian aufgebracht. „Dafür kommt ihr in die Hölle!“
„Mord ist es nur dann, wenn die Katze nicht überlebt. Sollte sie überleben, hat sie noch sechs Leben übrig. Das reicht für so ein kurzes Katzenleben auch noch aus.“
„Und wenn sie stirbt?“
Maya und das andere Mädchen tauschten einen kurzen Blick miteinander. Sam konnte nicht deuten, was sie sich damit sagen wollte, aber später würde er diesen Blick noch häufiger sehen und irgendwann auch das Wort für das lernen, was in diesen Augen lag: Gleichgültigkeit.
„Dann ist sie schneller im Himmel.“
„Tiere kommen nicht in den Himmel!“
Maya stöhnte genervt. „Dann eben in den Tierhimmel. Wollt ihr jetzt mitmachen oder nicht?“
Brian schüttelte entschieden den Kopf. „Ich verpetze euch wenn ihr die Katze auch nur anrührt.“
„Du hast geschworen!“, keifte Maya böse und trat einen Schritt auf Brian zu, der ihr nur bis zur Nase reichte und ziemlich schmächtig war. „Dafür kommst du in die Hölle!“
Brian biss sich auf die Lippen und wandte sich an Sam. „Sam, sag du auch etwas.“
Aber Sam zuckte nur mit den Schultern. „Vielleicht haben sie recht“, sagte er. „Wenn die Kleine hier sieben Leben hat wird ihr das eine, das ihr dann fehlt, nicht besonders weh tun.“
Dafür erntete er einen bitterbösen Blick und ein Lächeln von Mayas Freundin.
„Ihre Mutter wird sie bestimmt suchen!“
„Da waren noch vier andere Katzen – die merkt überhaupt nicht, dass eine fehlt.“
„Natürlich merkt sie das!“, rief Brian wütend. Er hatte jetzt Tränen in den Augen. Seine Worte hallten von den kahlen Fließen wieder und überschlugen sich in dem kleinen Raum. Draußen fuhr ein schwerer LKW auf der Hauptstraße entlang und sein Motor dröhnte laut durch den schmalen Spalt am Fenster herein.
„Du merkst doch auch, wenn dir jemand einen Stift weggenommen hat, auch wenn du noch zehn andere in deiner Tasche hast!“
„Ich bin aber auch ein Mensch und das hier ist nur eine Katze. Mein Gehirn ist viel größer und weiter entwickelt.“ Maya zeigte auf ihren Kopf. „Da drinnen hat auch viel mehr Platz als in den kleinen Katzen-Köpfen.“
„Wollen wir jetzt dann anfangen oder wollt ihr noch länger nur hier herum stehen und miteinander streiten?“
„Moment noch, Kathy.“ Maya ging auf Brian zu und legte ihm sanft die Hände auf die Schultern. Brian wollte zurückweichen, aber dann stieß er zuerst an Sam und dann an eine der kleinen gelben Türen zu den Toiletten. Die kleine Katze im Karton gab wieder ein trauriges Krächzen von sich. Sam konnte sehen, wie sie wieder versuchte, aus der Kiste zu entkommen, aber wieder war das andere Mädchen (Kathy) schneller und schob sie mit ihrem Fuß unsanft zurück.
„Du kannst gehen, Brian“, sagte sie sanft. „Aber wenn du uns verpetzt, dann sag ich dem Direktor, dass du mich angefasst hast. Kathy kann das bezeugen, stimmt’s, Kathy?“
„Von hinten zwischen die Beine, Maya. Hab’s genau gesehen.“
„Aber …“, stammelte Brian. Sein Unterkiefer war heruntergefallen und Sam beobachtete staunend, wie sich etwas Spucke vor seiner Unterlippe sammelte, wie in einem kleinen Stausee.
„Der Direktor ist ein netter Mann, wenn man ihn nicht reizt und freundlich zu ihm ist. Er geht gerne spazieren und liest Bücher. Aber was er überhaupt nicht mag, sind kleine Jungs in deinem Alter, die ihre Finger nicht bei sich behalten können. Das schadet dem Ansehen des Heims und vor allem seinen Verständnis von einer heilen Welt. Wenn du also auch nur ein Wort sagst, dann werde ich dem Direktor so lange ins Gewissen reden, bis du zu ihm ins Büro musst und dort windelweich geprügelt wirst. Und wenn er dann mit dir fertig ist, ruft er seine Freunde aus Little Rock an und die kommen dann mit ihrem großen, alten Lieferwagen, schmeißen dich hinten rein und nehmen dich mit ins Camp. Und dort stecken sie dich dann in einen großen Saal mit zwanzig anderen Kindern, die nur darauf warten, den Neuen zu verprügeln und ihm so lange in sein Ding zu schlagen, bis das Blut von alleine herausläuft.“
„Aber …“
Sie beugte sich zu ihm und gab ihm, ohne das er auch nur den Hauch einer Chance gehabt hatte, einen dicken, langen Kuss auf den Mund. Sam konnte sehen, wie sie dabei ihren Mund öffnete und mit ihrer Zunge versuchte, Brians Lippen auch auseinander zu drücken, aber der Junge war viel zu perplex und sein ganzer Körper verkrampft.
Mit einem lauten Schmatzen drückte sie sich wieder von ihm weg und leckte sich gespielt lasziv über die Lippen. „Und das ist der Beweis dafür. Die von der Polizei können noch nach Wochen herausfinden, ob du mich jemals geküsst hast oder nicht. Und wenn sie mich fragen, ob ich das gewollt habe, sage ich Nein und jeder wird mir glauben.“
„Du bist so fies“, kicherte Kathy. Sie behielt mit einem Auge die Katze im Blick, mit dem anderen verfolgte sie gebannt und auch ein bisschen neidisch, wie ihre beste Freundin dem Kerl so richtig zeigte, wo es lang ging.
„Walter“, stotterte Brian und drehte sich zu seinem großen Freund um. Doch Sam schaute ihn nur mit leerem Blick an. Er bemerkte schnell, das er hier keine Hilfe erwarten konnte und lies den Kopf hängen. „In Ordnung.“
Maya nickte zufrieden und bückte sich zu dem kleinen Kätzchen. Sie hob es vorsichtig am Nacken heraus und die Kleine wurde sofort ganz ruhig und bewegte sich nicht mehr. Nur ihre Augen wanderten stetig hin und her, von einer Person zu anderen, und musterten sie aufmerksam. Ihr kleines Herz schlug so schnell in der Brust wie das eines Kolibris.
Maya nahm sie zuerst in die rechte Hand, öffnete dann die linke und legte sie darin ab. Verängstigt und zitternd blieb sie darauf sitzen und drehte nur ihren Kopf immer wieder von einer Seite zur anderen. Ihre großen Augen glänzten wie unter Tränen, aber Sam wusste, dass das Quatsch war. Die einzigen Wesen auf der Welt, die weinen konnten, waren Menschen. Zwar hatten auch schon einige Tiere in den Filmen geweint, die er so gerne anschaute, aber er wusste, dass das nur deshalb so war, weil sie Schauspielen mussten. Das war ihr Job, genauso wie der Job des Hausmeisters der war, dass er die Toiletten sauber machen musste, wenn sie wieder verstopft waren. Er wusste noch nicht, welchen Job er später einmal machen wollen würde, aber er glaubte nicht, dass er Hausmeister sein könnte. Lieber etwas mit Tieren, auf einer Farm oder einer Ranch im Süden.
„Walter, mach mal deine Hände auf. Form am besten eine Schale und mach sie wieder zusammen, damit sie nicht raus kann.“
„Warum ich?
„Weil du die größten Hände hast du Dummkopf!“
Sam öffnete die Hände und Maya legte das zitternde Bündel hinein. Es war ganz warm und fühlte sich gut an.
„Und jetzt?“
„Jetzt spülst du es runter.“
„In welcher Toilette?“
Kathy kicherte wieder und machte ihn nach. „In welcher Toilette! Warum bin ich so groß und blöd?“
Maya warf ihr einen warnenden Blick zu, aber hinter ihrer Fassade musste sie auch grinsen. „Ruhig jetzt!“
Kathy tat so, als würde sie sich den Mund mit einem Schlüssel abschließen und zupfte dann ein wenig an ihrem T-Shirt herum.
„Nimm die hier.“ Maya deutete auf die Toilette hinter sich, da wo sie den Karton gelagert hatte. „Da ist der Ausfluss größer und sie ist schneller weg.“
„Die sind doch alle gleich groß“, murmelte Brian, dem anzumerken war, dass er sich nicht mehr wohl fühlte. Er hatte kleine Schweißperlen über der Oberlippe und seine Augen waren ganz glasig. Gute zehn Jahre später würde er noch einmal genauso ausschauen, wenn er im Krankenhaus von Bangor liegen würde – einen Arm und ein Bein abgerissen bei einem Autounfall, den er betrunken verursacht hatte, kurz vor seinem Tod durch den hohen Blutverlust und die schweren inneren Verletzungen, denen unter anderem seine Milz, seine Leber und ein Großteil seiner Lunge zum Opfer gefallen waren. Die Ärzte würden ihm sagen, dass er es nicht schaffen werde, und ob sie jemanden für ihn anrufen sollte. Seine Antwort würde Nein sein, denn er hatte niemanden. Er sollte alleine sterben – so, wie er gelebt hat.
Maya beachtete ihn nicht weiter, sondern hielt die Tür mit einer Hand auf und gab Sam mit der anderen Hand zu verstehen, hinein zu gehen. Sam ging ohne zu zögern an ihr vorbei und klappte den Klodeckel hoch. Die Toilette an sich war, so stellte er überrascht fest, sauber. In den Räumen der Jungs war das nur dann der Fall, wenn die Putzfrau einmal in der Woche dagewesen war und alles mit einem Schlauch saubergemacht hatte. Kathy drängte sich neben ihn, dahinter stellte sich Maya auf die Zehenspitzen, um über seine Schultern schauen zu können. Brian blieb ein wenig zurück und warf immer wieder nervöse Blicke zur Tür. Aber weder auf dem Gang noch irgendwo sonst suchte jemand nach ihnen.
Sam öffnete die Hände vorsichtig. Die kleine Katze zitterte jetzt nicht mehr ganz so stark wie vorher. Scheinbar hatte ihr die Wärme von Sams Hand gut getan.
„Wir sehen dich auf der anderen Seite, meine Kleine!“, flüsterte Maya und warf ihr einen Handkuss zu. Kathy winkte ihr mit drei Fingern zu und strahlte über das ganze Gesicht.
„Weißt du, wo die Leitung wieder rauskommt?“
„Natürlich weiß sie das nicht“, rief Brian aus dem Hintergrund. Seine Stimme bebte, so als würde er gleich weinen. „Keiner weiß, wo diese verdammte Leitung wieder rauskommt. Das ist ja der Witz an der Sache! Die Katze wird ertrinken und dann, irgendwann, wird ihr Kadaver in einer von diesen großen Klärbecken landen. Oder von den Ratten in der Kanalisation gefressen. Walter: du kennst doch die Ratten, die ab und zu draußen bei den Mülltonnen sind!“
Maya und Kathy warfen sich einen vielsagenden Blick zu, den Sam zwar registrierte, aber nicht einordnen konnte. Kurz gesagt: dieser Blick war der Anfang von Brians Ende. Nur eine Woche später würde er in Little Rock sein, das Gesicht grün und blau geprügelt und geschwollen, eine schmerzhafte, starke Prellung der Hoden und einer Aktennotiz, die ihn auf Jahre von Pflegefamilien fernhalten sollte.
„Walter!“, rief Brian, als er sah, dass sein Freund nicht reagierte. „Du kannst noch aufhören! Lass dir von den beiden Weibern doch nichts sagen. So bist du doch gar nicht.“
Sam wusste nicht, wie er war. „Was meinst du?“
„Wirf sie jetzt hinein!“
Brian war mit zwei, drei Schritten bei Walter und drückte Maya mit all seiner Kraft zur Seite. Sie fiel gegen Kathy, die ein wenig an der Wand entlang rutschte, ehe sie sich mit der Hand am Spülkasten festhalten konnte. Sie quiekte erschrocken auf und Maya hatte einen erstaunten Gesichtsausdruck, den Sam wirklich lustig fand.
„Hör nicht auf sie“, flehte er und packte Sam an der Schulter, um ihn aus der Toilette zu ziehen. Sam, der zwar wesentlich größer und stärker war als Brian, verlor das Gleichgewicht und musste einen Ausfallschritt machen, um nicht auf Brian zu stürzen. Seine Hände schlossen sich blitzartig um die Katze und drückten zu. Sam stieß Brian mit seiner Schulter zur Seite und lockerte den Griff sofort wieder.
„Spinnst du?“, schrie er und setzte Brian nach. Doch noch bevor er ihn erreicht hatte, stürzte dieser durch eine weitere, offene Tür hinein und landete unsanft auf dem Boden vor der Schüssel. Sein Kopf fiel zurück und schlug hart gegen den Sitz. Er gab ein ersticktes Keuchen von sich, dann war es ruhig.
Maya stellte sich neben Sam und warf einen verachtenden Blick auf Brian, der geschockt auf dem Boden sitzen blieb und mit großen Augen zu ihnen hoch starrte. „Ich dachte, er wäre cool“, sagte sie mit tonloser Stimme. „Da habe ich mich wohl getäuscht. Schade.“ Das letzte Wort sprach sie mit ehrlichem Bedauern.
„Ist der Katze war passiert?“
Sam öffnete die Hände. Die Kleine war unversehrt, aber sie hatte wohl vor lauter Angst ihre Krallen ausgefahren. Sam hatte drei oberflächliche Kratzer zwischen Mittelfinger und der Mitte der Handfläche, in denen sich langsam Blut sammelte. Es tat nicht einmal weh.
Maya tätschelte ihr sanft den Kopf. „Das war knapp, meine Kleine, oder? Fast hätte der böse Junge dir weh getan.“
Brian begann zu weinen. Er tat es leise und nicht, weil er Schmerzen hatte, sondern weil er sich so hilflos fühlte und registrierte, dass er hier nichts mehr ausrichten konnte. Die Tränen liefen an seinen Wangen über die Sommersprossen und tropften an seinem Kinn herunter auf seinen Pullover, wo sie dunkle Flecken hinterließen.
„Sei ruhig, du Baby“, rief Kathy, die immer noch bei der Toilette stand. Sie warf Brian einen bösen Blick zu. „Wenn du nur einen einzigen Laut von dir gibst renn‘ ich zum Direktor und dann ist es aus mit dir, klar?“
Brian legte das Gesicht in seine Hände und schluchzte still weiter.
„Komm, bring es jetzt endlich zu Ende“, forderte Maya Sam auf. Sie drückte ihn sanft aber nachdrücklich an der Schulter und schob ihn zurück in die Toilette. Sam lies es über sich ergehen weil er keine Einsprüche hatte. Er wollte auch sehen, wie die kleine Katze morgen wieder hier vor ihnen stand. Er fragte sich, ob sie wohl anders ausschauen würde, wenn sie ein Leben weniger hätte. Vielleicht noch ein bisschen kleiner, oder eine andere Farbe im Fell.
„Leg sie hinein!“, forderte Maya ihn auf.
Er gehorchte und legte die Katze vorsichtig hinein. Sie sträubte sich ein wenig, als ihre Pfoten das Wasser berührten, aber davon lies Sam sich genauso wenig beeindrucken wie von den zwei Kratzern, die er bei der Aktion davon trug. Sie plumpste mit einem leisen Knall hinein, tauchte für einen kurzen Moment unter und strampelte sich dann wieder an die Oberfläche. Jetzt quiekte sie noch lauter als vorher. Ihr nasses Fell ließ sie jetzt mehr wie eine Ratte wirken, die versuchte, aus ihrem nassen Verlies zu kriechen.
Kathy und Maya beugten sich neugierig über die Schüssel und beobachteten gebannt, wie ihr Opfer versuchte, auf dem glatten Keramik Fuß zu fassen, aber immer wieder abrutschte und kurz untertauchte. Sam konnte ein Zittern nicht unterdrücken. In seiner Hose bemerkte er, wie er eine Erektion bekam und hoffte, dass die beiden Mädchen es nicht ebenfalls bemerken würden.
„Und jetzt? Spülen wir sie runter oder sollen wir warte, bis sie von alleine unter geht?“
„Wir spülen sie gleich!“ Maya drehte sich zu Sam. „Du drückst die Spülung.“
„Ich?“
„Ja. Die Ehre gebührt dir.“
Sam warf wieder einen Blick auf die Katze. Jetzt blieb sie etwas länger unter Wasser und als sie dann wieder auftauchte, waren ihre Bewegungen nicht mehr ganz so stark. Vielleicht bildete er sich das nur ein, aber er glaubte nicht. Sie gab immer noch ein leises Pfeifen von sich, aber es hatte irgendwie an Nachdrücklichkeit verloren. Es klang jetzt mehr wie das Fiepen einer Maus, die man am Schwanz hoch hielt.
„Und sie kommt sicher wieder?“
Maya verdrehte die Augen und lächelte. „Natürlich, du Dummkopf. Katzen haben sieben Leben – jetzt sag nicht, davon hättest du noch nichts gehört.“
Draußen, irgendwo an der Hauptstraße, hupte ein LKW. Das Geräusch lies die Scheiben zittern und Sam zuckte zusammen. Er warf einen nervösen Blick zum Fenster und war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob er das wirklich tun wollte. Seine innere Stimme meldete sich zu Wort, die manchmal zu ihm sprach, wenn er in der Nacht nicht schlafen konnte. Da sang sie ihm ab und zu etwas vor oder erzählte ihm eine Geschichte. Dieses Mal klang sie mehr so wie seine Mutter – zumindest vermutete er, dass sie so geklungen hatte. Er konnte sich nicht mehr gut an sie erinnern, schließlich war es schon einige Jahre her, dass sie ihn weg gegeben hatte. Damals, nach dem Unfall.
Du musst das nicht tun, wenn du es nicht willst.
„Hm?“
„Was?“, fragte Maya. „Hast du etwas gesagt?“
Du weißt, das es nicht gut ist, was du machst, oder?
Lass es sein.
„Ich kann nicht.“
Maya warf Kathy einen fragenden Blick zu. „Walter? Alles in Ordnung mit dir?“
„Was?“ Sam schüttelte sich.
„Ist alles klar bei dir? Mit wem hast du gesprochen?“
„Mit niemandem.“
„Walter spricht mit Gespenstern“, lachte Kathy. Maya lächelte, aber sie behielt diesen fragenden Ausdruck in den Augen.
„Stimmt doch gar nicht!“, knurrte Sam und drängte sich an Maya vorbei zum Spülkasten. Die kleine Katze schwamm noch, aber ihre Bewegungen wurden langsamer und das Fiepen hatte aufgehört. Sam hatte so eine Ahnung, dass es sowieso nicht mehr lange dauern würde, bis die Kleine von sich aus untergehen würde.
Warum also nicht dem Schicksal ein wenig auf die Sprünge helfen?
Samuel!
„Nein!“, rief Sam entschlossen und drückte auf den Schalter.
Es ertönte ein lautes Rauschen. Der größte Teil des Wassers kam wie aus einer Fontäne geschossen vom vorderen Rand der Schüssel und traf direkt auf die kleine Katze in der Mitte. Von den Seiten lief weniger Wasser nach, aber dafür spritzte es umso mehr. Unzählige Tropfen landeten auf Sams Hose, seinem Shirt und seinen Unterarmen. Die Mädchen zogen sich angeekelt ein Stück zurück, blieben aber in Reichweiter, um auch ja nichts zu verpassen.
Viel zu sehen gab es allerdings nicht. Es dauerte etwa fünf Sekunden, dann hörte der Schwall langsam auf und die Tropfen wurden weniger. Sam warf einen Blick in die Toilette.
Sie war leer.
Nicht einmal ein einzelnes Haar deutete noch darauf hin, dass hier jemals etwas gewesen war. Jetzt war die Katze in der Kanalisation.
„Weg!“, flüsterte Kathy erstaunt. „Es hat funktioniert.“
„Natürlich hat es das!“, antwortete Maya, aber ihre Stimme verriet, dass sie fast genauso überrascht war. „Sie war ja noch ganz schön klein.“
„Trotzdem.“
„Ob das so ist wie diese Wasserrutsche im Schwimmbad? Ich meine, wenn die Katze aus dem Haus geschwemmt wird.“
„Vielleicht. Wahrscheinlich.“
„Cool!“
„Richtig cool!“
Sie blieben noch einige Sekunden sitzen, dann erhob sich Maya und klopfte Sam auf die Schultern. „Gut gemacht, Großer. Und jetzt sieh zu, dass du von hier verschwindest, bevor man dich hier findet. Und nimm deinen kleinen weinerlichen Freund gleich mit!“
Sie drehte sich um und wollte auf Brian zeigen, aber die Stelle, wo er gerade noch gesessen hatte, war leer. Sie beugte sich aus der Kabine heraus und schaute zum Waschbecken hin, aber dort war er auch nicht mehr.
„Der Feigling ist weg.“
„Mhm.“ Kathy drehte sich erschrocken zu Maya. „Was, wenn er uns verpetzt.“
„Das wird er nicht tun. Du weißt doch, was ich ihm gesagt habe.“
„Und wenn er es trotzdem macht?“
Maya überlegte kurz, dann zuckte sie mit den Schultern. „Und wenn schon. Wer wird ihm denn glauben? Wir müssen nur die Wahrheit erzählen. Und die lautet: Walter hat eine Katze in der Toilette herunter gespült um uns zu beeindrucken.“
„Was?“
Maya drehte sich wieder zu Sam um und setzte ihr freundlichstes Lächeln auf. Nur ihre Augen verrieten sie wieder – eine Tatsache, die sie bald lernen würde, abzustellen.
„Walter, hast du verstanden, was ich gerade gesagt habe?“
Sam nickte, obwohl er nicht ganz verstand, was das Mädchen jetzt noch von ihm wollte. Draußen hörte er den Lärm der Straße fast unnatürlich laut durch das geöffnete Fenster dringen. Er hatte ein ungutes Gefühl und war sich fast sicher, dass Brian zu einem der Erzieher gelaufen war. Und wenn der hier rein schauen sollte, dann wusste Sam ganz genau, dass er überall sein mochte, nur nicht hier.
„Gut. Dann verschwinde jetzt besser und erzähl keinem ein Sterbenswörtchen, klar?“
„Klar. Sagst du mir, wenn die Katze wieder da ist?“
„Warum?“
„Ich … möchte etwas nachschauen.“
„Was denn?“
Sam zuckte mit den Schultern. So genau wusste er das auch nicht und er fand das zu kompliziert, um es jetzt zu erklären. Hätte wahrscheinlich sowieso nichts gebracht.
„Wir sagen dir Bescheid“, warf Kathy ein und drängte sich an ihnen vorbei. Sie packte Maya an der Hand und zog sie von Sam weg. „Und jetzt entschuldige uns bitte: wir haben noch andere Dinge zu erledigen.“
„Was denn für Dinge?“
„Geheimnis“, rief sie frech. Maya warf ihm noch eine Kusshand zu, dann verschwanden sie beide aus der Tür. Es gab einen kurzen, kräftigen Luftzug, aber der riss in dem Moment wieder ab, als die Tür mit einem lauten Krachen zurück ins Schloss fiel.
Dann war es plötzlich ruhig.
Sam stand für eine ziemlich lange Zeit einfach nur wie angewurzelt da, ehe er sich aufraffen konnte, zu gehen. Er war schon an der Tür, als er ein unangenehmes Drücken im Unterleib spürte. Also machte er noch einmal kehrt und benutzte eine der Toiletten, um seine Blase zu entleeren.
Er nahm absichtlich nicht die selbe, in der sie die Katze hinuntergespült hatten.
Schließlich sollte sein Pipi die Kleine nicht einholen.
Er wachte auf, als das leise Surren der Fahrbahn unter ihnen aufhörte und der Motor keinen Mucks mehr von sich gab. Noch immer prasselte der Regen auf das Wagendach, aber er schien etwas schwächer geworden zu sein. Der Wind blies zwar noch kräftig, aber von einem Sturm war er abgeklungen zu einer starken Brise.
Sam schlug die Augen auf und musste einen Moment überlegen, wo er sich überhaupt befand. Er war hinter dem Beifahrersitz zusammengesunken und hatte sich ein wenig auf die Seite gedreht. Sein Kopf hing an der Scheibe, die stark beschlagen war. Seine Wange war eiskalt, aber im Taxi selbst war es ziemlich warm. Aus dem Radio kam eine Mischung aus statischem Rauschen und altem Country-Rock. Charlie saß auf dem Fahrersitz und hatte sich eine Zigarette angesteckt. Er blies den Rauch aus und drehte sich zu Sam um.
„Ah, gut, Sie sind wach. Hören se: da vorne is ne Brücke die über den Fluss führt. Is eigentlich nur n kleiner Bach, aber bei dem Regen wird der ganz schnell zu `nem richtigen Strom, klar?“
„Mhm“, murrte Sam und drückte sich von der Scheibe weg. Seine ganze rechte Gesichtshälfte fühlte sich taub an und er rieb sich mit der Hand über die Bartstoppeln, die sich mittlerweile zu einem kleinen Drei-Tage-Bart gemausert hatten.
„Die Bullen sagen zwar, dass man da einfach so drüber fahren kann, aber ich glaub‘ denen kein Wort, okay? Die wissen genau, was in solchen Nächten da passieren kann, nur wolln se das nicht sagen. Das ganze verdammte Ding kann abrutschen, hat mir mein Nachbar gesagt. Der arbeitet bei der Stadt. Bauaufsicht oder sowas. Ich sag’s Ihnen: wenn jemand weiß, was hier nicht stimmt, dann er!“
Sam gähnte und streckte sich. „Und was willst du mir damit jetzt sagen, Kumpel?“
„Das hier Endstation ist. Sie steigen hier aus, oder ich fahr Sie zurück in den letzten Ort. Da finden se vielleicht ein Zimmer für die Nacht. Haben Sie genug Kohle am Mann?“
Sam glaubte, dass er nicht einmal mehr zehn Dollar in der Tasche hatte, sagte aber nichts dazu.
„Wie weit ist es nach der Brücke bis in die nächste Stadt?“
„Zehn Meilen. Vielleicht zwölf – fahr‘ die Strecke nich so oft. Sie wissen schon.“ Er machte eine unmissverständliche Geste, die ihn beim Heben einer Flasche zeigte. „Hab da drüben schon bisschen Ärger gehabt. Neuer Bezirk, neuer Cherif. Sie kennen das sicher.“
„Charlie“, begann Sam ruhig und beugte sich ein wenig nach vorne. Langsam kehrte das Gefühl in sein Gesicht zurück, aber mittlerweile machten sich auch seine Beine bemerkbar, die ihm ebenfalls eingeschlafen waren. Er hasste es, wenn sie so kribbelten und sich anfühlten, als würde er in einem Berg aus Ameisen stehen. „Was sagst du dazu, wenn ich dir einhundert Dollar gebe und du mich dafür in die nächste Ortschaft fährst? Um die Uhrzeit geht dir da bestimmt keiner mehr auf den Keks, oder?“
„Einhundert Dollar?“ Charlie pfiff durch die Zähne, schüttelte aber zeitgleich den Kopf. „Charlie Upson ist nicht käuflich.“
„So?“
„Mir bringen einhundert Dollar nichts, wenn ich im Grab liege, Sportsfreund“, gab Charlie lächelnd zu Bedenken. „Und wenn die verdammte Brücke unter meinem kleinen, sexy Arsch einfach weggespült wird, können se sich die einhundert sonst wo hinstecken. Ich bin doch nicht Lebensmüde.“
„Du schlägst vor, dass ich laufe? Bei dem Wetter?“
„Nein, Sir, nein!“ Er hörte sich ehrlich empört an. „Ich fahr Sie einfach zurück, sie warten, bis das Wetter wieder besser wird und dann …“ – er schnippte mit den Fingern –„ rufen Sie den guten, alten Charlie einfach an und ich fahr Sie wohin Sie wollen, klar?“
„Das Wetter könnte noch ein, zwei Tage so bleiben.“
„Vielleicht sogar länger. Und bis der Fluss sich wieder beruhigt hat kann es auch noch ne ganze Woche dauern. Zu der Jahreszeit weiß man nie.“
„Ich kann nicht so lange warten.“
Charlie nickte. „Dann müssen Sie hier aussteigen.“
Sam betrachtete ihn einige Sekunden lang. Charlie hielt seinem Blick stand, dann senkte er den Kopf doch und tat so, als würde er etwas auf dem Beifahrersitz suchen, auf dem sich bestimmt zwanzig Kilo Müll befanden. Alte Zeitschriften, leere Dosen und Flaschen, Verpackungen und Tüten aller Art und ein kleiner Aschenbecher, der so voll war, dass er schon überlief.
„Alles klar, Partner!“, sagte Sam schließlich. Er zog den vergammelten Türgriff zu sich und öffnete die Tür. Ein eisiger Luftschwall blies ihm entgegen und er war froh, dass seine Jacke einigermaßen Wind- und Wetterfest war. Seine Augen mussten sich erst an die vollkommene Dunkelheit hier draußen gewöhnen, ehe er die Umrisse seiner Umgebung genauer sehen konnte. Der Mond war, wenn er überhaupt jemals aufgegangen war, hinter dichten Wolken verschwunden und auch die Sterne waren nicht zu sehen. Das einzige, was er sehen konnte, waren die dunklen Umrisse einer Brücke. Außerdem hörte er das Geräusch von Wasser, das in großen Mengen einen Wasserfall hinunterfiel.
Er ging um den Wagen herum auf die Fahrerseite. Charlie hatte das Fenster herunter gekurbelt. In seinem Mundwinkel waren noch die Reste seiner Zigarette zu sehen. Er kaufte gelangweilt auf dem Filter herum. Sam wunderte sich, wie hässlich ein Mensch eigentlich werden konnte, ohne vorher zu sterben.
„Das macht dann siebenundsiebzig Dollar, Kumpel.“
Sam zog die Augenbrauen in die Höhe. „Siebenundsiebzig Dollar und du lässt mich einfach hier draußen stehen? Findest du das nicht ein bisschen viel?“ Er sagte es ohne jeglichen Ausdruck in der Stimme, wie ein Roboter.
Charlie bemerkte das nicht. „Das ist ein Freundschaftspreis weil Sie so ein ruhiger Fahrgast waren. Bis auf die anfänglichen Schwierigkeiten sind wir doch ganz gut miteinander ausgekommen.“
„Dann sollten wir das jetzt nicht kaputt machen.“ Er beugte sich zu Charlie herunter und lehnte sich auf das Fenstersims. Charlie wich ein wenig zurück, aber Sam konnte immer noch den Geruch des alten Kerles wahrnehmen, der wie eine dunkle Wolke aus dem Auto heraus drängte.
„Ich mach dir einen Vorschlag, okay? Du drehst jetzt hier um und fährst nach Hause, machst eine Flasche Bier auf und holst dir gemütliche einen runter. Dafür vergesse ich, dass du mich hier in der Dunkelheit im Regen alleine gelassen hast, wo ich doch nur in den nächsten beschissenen Ort wollte. Ist das ein Deal?“
In Charlies Gesicht spiegelten sich eine Menge Reaktionen wider. Von Verwunderung über Angst, dann von Verständnislosigkeit zu Wut. Der Filter seiner Zigarette fiel ihm aus dem Mundwinkel und landete irgendwo auf seiner schmutzigen Hose. Wäre es nicht so dunkel gewesen hätte Sam auch gesehen, wie ihm fast die komplette Farbe aus dem Gesicht wich.
„Sie verscheißern mich, oder?“
„Nein.“
„Sie schulden mir siebenundsiebzig Dollar! Gegen Sie mir mein Geld und ich verspreche, dass ich Sie nicht bei den Cops dranhänge. Wer weiß, was Sie ausgefressen ham, wenn Sie um die Uhrzeit alleine hier unterwegs sind. Vielleicht sind se ja n verkappter Kinderschänder oder einer, der gerne spielt und dann kein Geld hat, um die großen Casino-Bosse zu bedienen.“
„Vielleicht, ja“, antwortet Sam lächelnd. Dann packte er mit der rechten Hand Charlies Genick und zog ihn ruckartig ein Stück zu ihm heran. Charlies Stirn knallte an den Türrahmen und sofort riss die Haut an der Stelle auf. Ein dünnes Rinnsal aus Blut lief ihm über die Stirn, den Nasenrücken und tropfte dann von seiner Nasenspitze herunter auf sein Kinn. Seine Augen glänzten feucht.
„Finger weg!“, kreischte er und Sam tat ihm den Gefallen. Charlie fiel zurück auf seinen Sitz und tastete sich mit den Fingerspitzen an die Stirn. Als er im Schein der Innenbeleuchtung das Blut auf seinen Fingern sah, zuckte er zusammen und warf Sam einen Blick zu, mit dem er ihn hätte töten können.
„Verpiss dich, du beschissener Bastard!“ Spucke tropfte aus seinem Mund während er schrie. „Sieh zu, dass de Land gewinnst. Morgen früh ruf ich die Bullen und dann kannst du nur hoffen, dass du schon weit genug weg bist.“
Sam musste lachen.
„Was lachst du da so blöd?“, rief Charlie und wischte sich mit der flachen Hand über die Stirn. Er verschmierte das Blut und schaute jetzt so aus, als wäre er gerade von einem Indianer skalpiert worden.
„Du willst die Bullen rufen? Morgen früh?“
„Die beschissene Army wenn es nötig ist! Und wenn sie dich haben dann sollen sie dich in Stücke schießen. Und wenn du dann in deinem Grab liegst komm ich vorbei und scheiß dir den größten, erbärmlichen Haufen drauf den du dir auch nur vorstellen kannst. Und dazu sing ich dann die Nationalhymne. Nein: ich furze die verdammte Hymne!“
„Mhm. Nur weiter.“ Sam fand die Unterhaltung irgendwie lustig, aber langsam wurde ihm auch kalt und der Regen schlug ihm gegen das Gesicht. Vielleicht täuschte es, aber der Wind schien wieder etwas aufzufrischen und er hatte jetzt von Sekunde zu Sekunde weniger Lust, noch hier draußen spazieren zu gehen. Geschweige denn, ab morgen auch noch vor der Polizei auf der Flucht zu sein, obwohl er glaubte, dass diese Bande schon jetzt hinter ihm her war. Der Doc hatte ihm das gesagt, schon öfter. Darum sollte er sich so ruhig wie möglich verhalten und keine Aufmerksamkeit erregen. Ja, die Bullen waren hinter ihm her, aber er glaubte nicht, dass sie überhaupt wussten, wo er war. Nicht einmal a-n-s-a-t-z-w-e-i-s-e.
„Leck mich!“
Charlie kurbelte sein Fenster, wo an der beschlagenen Innenseite jetzt auch einige Tropfen Blut und Spucke klebten, wieder hoch und lies den Motor an.
Die guten Ideen, das wusste Sam, kamen manchmal ganz plötzlich. Damals, als er die Idee gehabt hat, der hübschen Frau einfach mit dem Messer in die Hand zu stechen, damit sie die Klappe hielt, war es wie ein Lichtblitz gewesen, der in seinem Kopf entstanden war und durch seine Augen den Weg nach draußen gefunden hatte. Ein anderes Mal, als er mit diesem alten Wagen, einem grauen Dodge mit hässlichen, dicken Rostflecken auf der Motorhaube und der Fahrertüre, auf dem Highway liegen geblieben war und dieser Trucker ihn nicht mitnehmen wollte, als er die schöne Sache nicht mit ihm machen wollte, war es ein Kribbeln hinter seiner Stirn gewesen, das ihn ohne sein Zutun dazu bewegt hatte, dem Trucker die Nase zu brechen und ihn zu seiner Ladung zu werfen. Dieses Mal waren es seine Ohren, die plötzlich zu kribbeln anfingen und ganz heiß wurden. Es fühlte sich so an, als hätte er einen ziemlich festen Schlag darauf bekommen, nur dass der Schmerz nicht da war und auch nicht dieses Summen im Kopf, das manchmal die halbe Nacht zu hören war und einem den Schlaf raubte.
Er öffnete die Fahrertür und zog den schmächtigen Charlie heraus. Sam war mindestens fünfzehn Zentimeter größer und bestimmt fünfzig Pfund schwerer. Charlie zuckte nur kurz, als ihn die starken Hände an den Schultern packten, dann war seine Gegenwehr auch schon gebrochen. Er quiekte wie ein kleines Schwein, das man von den Zitzen seiner Mutter trennte, bewegte sich aber fast überhaupt nicht. Vielleicht hoffte er, dass ihm das das Leben retten würde, aber davon lies Sam sich überhaupt nicht beeinflussen. Es war nicht das erste Mal, dass sein Gegenüber die Gegenwehr einstellte, und es würde nicht das erste Mal sein, dass Sam keine Gnade zeigen würde. Gerade deswegen war er ja schließlich, nach unzähligen Jugendheimen, Pflegefamilien und Gefängnisaufenthalten in die Anstalt eingewiesen worden, in der er bis zuletzt sein Leben verbracht hatte. Es war jene Art von Grausamkeit und Skrupellosigkeit, die auch dem letzten behandelnden Arzt keine andere Möglichkeit mehr gelassen hatte, als ihn dort hin zu tun, wo die ganz harten Jungs saßen. Und bei denen war Sam einer unter vielen gewesen.
Wie einen Mehlsack warf er sich Charlie über die Schultern und ging auf die Brücke zu. Als dieser nach einigen Metern doch anfing, erste Gegenwehr zu leisten, ließ er ihn kurz herunter und schlug ihm zweimal mit der Faust ins Gesicht. Sein Gesicht fühlte sich komisch an, irgendwie brüchig und zerfallen und ihn überkam ein leichtes Gefühl von Ekel. Aber danach wurde Charlie wieder ruhig und Sam konnte ihn ohne weitere Zwischenstopps bis zur Brücke tragen.
Die Brücke war zwar wirklich in keinem guten Zustand, aber auch nicht so baufällig und verrottet, wie sein Fahrer es behauptet hatte. Der Straßenbelag war schon aus Teer, aber die Schicht musste ziemlich dünn sein, denn als Sam sie betrat, rutschte er an einigen Stellen weg. Er vermutete, dass es Holz war, den eigentlichen Untergrund darstellte. Der Teer war vielleicht nur deshalb aufgetragen worden, um das Holz vor der Witterung zu schützen, aber so genau wollte er sich damit auch gar nicht auseinandersetzen. Die Brücke war schmal, breit genug für zwei schmale Autos oder einen großen Truck, sofern dieser nicht zu schwer geladen hatte. An einer Seite war, leicht erhöht, ein schmaler Gehsteig. Sam konnte es nicht erkennen, aber nicht weit von der Stelle, wo der Wagen stand, kam ein alter Wanderweg aus den Büschen hervor. Die Brücke war in den meisten Tagen im Jahr, bis auf einige, wenige Wochen im Sommer, wenn das Wasser des Flusses sehr niedrig stand, die einzige Möglichkeit, das Gewässer zu überqueren. Er führte einige Meter auf der Straße entlang, ehe er über die Brücke führte und keine zwanzig Meter dahinter wieder zum Flussufer hinab.
Sam stellte Charlie neben sich auf den Gehsteig, hielt ihn aber mit der rechten Hand an der Schulter fest. Er konnte fühlen, wie seine kleinen Knochen unter seinem Griff knirschten. Charlie wimmerte, sagte aber nichts weiter.
„Charlie“, begann Sam fast feierlich und atmete tief durch. „Heute ist dein Tag, alter Junge! Der Tag, an dem du lernst, wie man sich verhalten sollte, wenn jemand bei einem im Taxi sitzt, der einen Schlag hat.“ Er grinste und zeigte seine großen, hellen Zähne. Charlie konnte sie in der Dunkelheit nicht sehen, was sein Glück war, denn dieses wahnsinnige Lächeln hätte ihn noch ängstlicher gemacht, als er ohnehin schon war.
„Nehmen Sie sich, was Sie wollen, Sir“, erwiderte er kleinlaut. Er zuckte zusammen, als Sam seinen Griff verstärkte.
„Der Doc sagt immer, ich soll mir nehmen, was mit zusteht. Verstehst du das, Charlie? Ich glaube nämlich, dass mir dieses Taxi hier zusteht. Verstehst du?“
„Es gehört Ihnen.“
„Er sagt auch, ich soll aufpassen, dass ich nicht von den Cops erwischt werde. Die würden mich wieder einsperren, sagt er, mich vielleicht dieses Mal sogar umbringen. Weißt du, Charlie, ich hab ziemlichen Ärger am Hals.“
Im Regen auf der Brücke begann Charlie leise zu weinen.
Sam ließ sich davon nicht stören. „Wenn jetzt also du, Charlie, mir sagst, dass du morgen früh die Bullen rufen willst, ist das keine gute Situation für mich. Der Doc meint, dann könnte es ganz schnell passieren, dass sie meine Spur aufnehmen können.“
„Bitte …“ Seine Stimme war nicht mehr als ein leises, gebrochenes Flüstern im Wind.
Sam räusperte sich. „Was schlägst du also vor? Willst du den Cops immer noch sagen, dass du mich hier gesehen hast?“
„Nein.“
„Nein?“
„Ich werde einfach … einfach nach Hause fahren, mich in mein Bett leg’n und … und einfach bis Samstag oder Sonntag da nicht mehr weg gehen. Ein bisschen Urlaub mach’n, verstehen Sie? Einfach ein bisschen … Urlaub.“
„Ein bisschen Trinken?“
„Wenn Sie meinen, Sir, ja. Trinken werde ich auch. Aber nicht mehr so viel. Bringt mich in Schwierigkeiten … ja, verdammte Schwierigkeiten.“ Er lachte nervös, aber immer noch liefen Tränen über seine Wange.
„Vielleicht den alten Hank besuchen? Einen Kaffee trinken. Er macht guten Kaffee.“
„Den besten in der ganzen Gegend.“
„Und den Bullen kein Wort verraten?“
„Nein! Nicht ein … nicht ein Wort! Mein Wort darauf!“
„Mhm.“
Sie standen nebeneinander auf der Brücke und Sam lauschte dem Gesang des Sturmes. Er versuchte, den Mond am Himmel zu erblicken, aber die Wolken waren so dicht und tief, dass er keine Chance hatte. Irgendwo konnte er einen Vogel krächzen hören, ein ziemlich trauriges Geräusch.
„Dein Wort?“
Er lockerte den Griff an Charlies Schultern ein wenig, aber nicht genug, damit dieser einfach so abhauen konnte. Menschen, die Todesangst hatten, und waren sie noch so betrunken und körperlich zerbrochen, konnten einem ganz schön durch die Lappen gehen wenn man nicht aufpasste.
„Mein Ehrenwort!“
Sam neigte abwägen den Kopf zu einer Seite. Dann bleckte er wieder die Zähne und verstärkte seinen Griff.
„Kann dir leider nicht glauben, Mann. Mach’s gut.“
Sprach‘s – und warf Charlie über die Begrenzung der Brücke.
Er verschwand in den Fluten so wie einst die kleine Katze, die Sam in die Toilette gespült hatte.
Doch etwas sollte anders sein: während die Katze niemals gefunden wurde, so würde die Leiche des alten Charlie sehr wohl entdeckt werden. Und zwar von niemand anderem als …