Читать книгу Augmented Intelligence. Wie wir mit Daten und KI besser entscheiden - Thomas Ramge - Страница 9
Zukünfte simulieren
ОглавлениеEntscheidungsfindung ist eine Simulationsübung. Bei wichtigen Entscheidungen stellen wir uns vor, wie die Zukunft aussehen könnte. Wir projizieren uns – und im Unterschied zu Darwin hoffentlich auch andere von der Entscheidung Betroffene – in verschiedene Szenarien hinein. In der simulierten Zukunft versuchen wir dann, die voraussichtlichen Konsequenzen unserer Wahl abzuschätzen, um eine, wie wir umgangssprachlich dann sagen, »gute Entscheidung« zu treffen. Die Entscheidungsforschung sagt: Es gibt keine guten Entscheidungen. Es gibt nur gute und schlechte Entscheidungsprozesse. Das ist keine sprachliche Haarspalterei, sondern grundlegend wichtig zum Verständnis, was Entscheidungsfindung im Allgemeinen und Entscheidungen im Daten- und Informationszeitalter im Besonderen ausmachen.
Ob wir bei einer Entscheidung eine gute Wahl treffen, können wir, konsequent betrachtet, nie wirklich beurteilen. Schon gar nicht können wir das zum Zeitpunkt der Entscheidung, denn wir kennen ja die Zukunft nicht. Zudem gilt: Die spätere Erfahrung wird uns verändern. Kann ich vorher wissen, ob Kinder mein Leben bereichern werden – oder ob ich als Single besser gefahren wäre? Vielleicht bin ich am Ende jemand, der plötzlich Kinder liebt – was ich mir vor der Entscheidung, Kinder zu kriegen, so überhaupt nicht hatte vorstellen können. In der Philosophie nennt man das eine transformative Erfahrung: Die Erfahrung verändert uns, wir sind nicht mehr dieselben. Die Philosophin L. A. Paul empfiehlt: Wir sollten uns nicht die Frage stellen, ob wir Kinder haben wollen oder nicht, denn diese Frage können wir nicht begründet entscheiden –, sondern ob wir uns in eine Situation begeben wollen, in der wir uns völlig verändern können, etwa indem wir Kinder bekommen.
Unabhängig von der transformativen Qualität: Im Nachhinein erscheinen uns dann Entscheidungen mitunter als gut oder richtig, die durch die Brille eines Statistikers betrachtet zum Zeitpunkt der Entscheidung vollkommen irrational sind. Wer ein Lottoticket für zehn Euro kauft, trifft am Zeitungskiosk eine statistisch ausgesprochen dämliche Kaufentscheidung, denn die Gewinnchance ist deutlich geringer, als es der Kaufpreis rechtfertigt. Wer mit diesem Zehn-Euro-Ticket dann den Zehn-Millionen-Euro-Jackpot knackt, wird den Kauf dann im Rückblick »zur besten Entscheidung seines Lebens« erklären.
Vielleicht ist dem Lottogewinner klar, dass er mit einer irrationalen Entscheidung das Glück herausgefordert und im Unterschied zu den Millionen Verlierern der Ziehung auch erzwungen hat. Dann war sein Entscheidungsprozess zumindest eine bewusste Abwägung. Und doch können wir konsequent betrachtet nicht einmal im Nachhinein beurteilen, auch nicht im Fall eines Lottogewinns, ob wir eine gute oder schlechte Entscheidung getroffen haben. Denn Entscheidungsbewertung im Rückblick ist ebenfalls nur eine Simulationsübung.
Wenn wir uns an einer bestimmten Wegkreuzung im Leben für eine Option A entscheiden, wissen wir auch später nicht, ob Option B nicht die bessere Wahl gewesen wäre. Die Lehrerin weiß nicht, ob sie als Ärztin nicht glücklicher geworden wäre oder umgekehrt; es fühlt sich im Nachhinein, bei erneuter Simulation mit neuen Informationen, nur offenkundig oft so an. Eine Umfrage der Jobbörse Monster hat ergeben, dass rund die Hälfte aller Berufstätigen einen vollkommen anderen Beruf ergriffen, wenn sie nur nochmals die Chance dazu bekämen. Nur sieben Prozent der Befragten sagen, sie würden sich wieder für den gleichen Karrierepfad entscheiden. Diese Zahlen liefern gewiss ein bedrückendes Stimmungsbild der modernen Arbeitsgesellschaft, aber eben nur ein Stimmungsbild. Wir können nicht in eine Parallelwelt switchen, in der wir verschiedene Entscheidungsoptionen ausprobieren könnten. Entsprechend können wir auf den Zwischenstationen im Leben auch nicht sicher beurteilen, dass wir Optionen gewählt haben, mit denen wir glücklicher geworden sind, als mit denen, die wir nicht gewählt haben.