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Kapitel 7

D

etective Chief Inspector Blake drehte sich langsam herum. Eine Weile hatte er nachdenklich aus dem Fenster im sechzehnten Stock auf die Straße hinuntergesehen. Es hatte wie schon die Tage zuvor wieder leicht zu schneien angefangen. Zarte Schneeflocken sanken in die Tiefe hinab. Sein Blick hatte auch die einladende Bar gestreift, die sich an der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Der große und einflussreiche Zeitungsmagnat Colin Oliver Louis Gardener würde sie nicht mehr aufsuchen.

»Möchten Sie vielleicht einen Whisky, Miss Thompson?«, fragte er die junge Frau.

Sie schüttelte ablehnend den Kopf. Fröstelnd rieb sie sich über die Arme.

»Nein, danke, Chief Inspector«, erwiderte sie bedrückt. Ihre Stimme war sanft, mit einem warmen Unterton. Sie gehörte zu denen, die bei anderen Menschen direkt Wohlbehagen und Gefühle auslösten. »Lieber ein Wasser.«

Sergeant McGinnis, ein Hüne von einem Mann, der sich beim Durchschreiten jeder Tür automatisch etwas duckte, hatte sich bislang diskret im Hintergrund gehalten. Jetzt ging er zur kleinen Bar hinüber, öffnete eine Flasche Tonic-Water, füllte den Inhalt in ein Glas und reichte es ihr. Mit zitternder Hand nahm sie es dankend entgegen.

Sie hatte erst vor wenigen Tagen ihren achtundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Sie war hoch gewachsen und hatte eine aufregende, makellose Figur. Dass sie sich zu pflegen verstand, sah man auf den ersten Blick und auch, dass sie wusste, was ihr steht. Es wirkte schick, jugendlich und sportiv, und dennoch blieb es dezent. Nicht nur Blake bemerkte, dass bei ihr alles am richtigen Platz war.

»Ich möchte Sie bitten, mir genau zu erzählen, was passiert ist«, sprach Blake die junge Frau an. »Sollte Sie das im Augenblick überfordern, dann sagen Sie es mir bitte.«

Gardners Sekretärin nippte am Glas. Sie zuckte nichtssagend mit den Achseln und machte dabei mit ihren Händen eine hilflose Geste. Offen sah sie Blake aus ihren meergrünen und ausdrucksstarken Augen an.

»Ich hoffe, dass ich das kann. Ich bin völlig durcheinander«, sagte sie mit einem verkrampften Lächeln. »Aber ich will es versuchen, Chief Inspector.«

»Ich könnte Ihnen eine Beruhigungstablette ...« McGinnis begann in seiner Jackentasche zu kramen.

Verneinend schüttelte sie den Kopf.

»Nein. Danke. Es ist sehr nett gemeint, aber ich hasse Tabletten«, erwiderte sie ablehnend.

Blake wies auf einen der Ledersessel, der zur großzügigen Konferenzgruppe des Büros gehörte.

Sie nahm das Angebot an, setzte sich auf den vorderen Teil der Sitzfläche und legte ihre langen, wohlgeformten Beine elegant und damenhaft leicht schräg übereinander. Dabei nahm sie ihre Schulter leicht zurück, straffte ihren Körper und legte ihre Hände auf die Beine. Blake und McGinnis, die ihr gegenüber Platznahmen, bot sie auf diese Weise eine aufregende Silhouette.

Blake, der ein ausgezeichneter Beobachter war, signalisierte ihre Körpersprache, dass sie sich unbewusst klein machte, freiwillig auf Raum und Macht verzichtete und Unterlegenheit zeigte.

Nachdenklich blickte die junge Frau eine Weile in ihr Glas. Schließlich hob sie den Kopf und sah die beiden Kriminalbeamten an.

»Das war so ... «, begann sie mit leiser, belegter Stimme. »Ich saß im Vorzimmer an meinem Schreibtisch und war mit Korrespondenz beschäftigt. Plötzlich hörte ich Mister Gardner ganz entsetzlich schreien. Ich eilte sofort zur Tür und hastete hinein.« Sie strich eine imaginäre Staubfluse vom Knie. »Mister Gardner war wie von Sinnen. Ich hatte den Eindruck, dass er mich gar nicht wahrgenommen hat. Sein Anblick war einfach schrecklich. Er war nicht normal. Er ... er starrte immerzu auf den Aktenschrank.« Sie deutete mit einer Hand auf das Möbelstück. »Sein Gesicht war leichenblass und auf seiner Stirn standen dicke Schweißtropfen. Schaum stand in seinen Mundwinkeln.« Hilflos sah sie Blake und McGinnis an. »Ich habe noch nie zuvor einen Menschen gesehen, der so eine panische Angst hatte wie Mister Gardner.«

»Haben Sie eine Ahnung, wovor sich Ihr Chef so gefürchtet hat?«, erkundigte sich Blake interessiert.

Sie nippte kurz an ihrem Glas. »Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen, Chief Inspector«, erwiderte sie. »Ich weiß es nicht.«

»Mich verwundert ein wenig, dass er die ganze Zeit auf den Aktenschrank gestarrt hat.« Blake hatte sich erhoben und besah sich den Schrank. »Ich kann da nichts Auffälliges entdecken.«

»Vielleicht hat er in seinem Wahn an der Stelle etwas ganz Anderes gesehen«, mutmaßte die attraktive Sekretärin. »Was weiß ich? Vielleicht hat sich der Schrank für ihn in ein höllisches Monster verwandelt, Chief Inspector.« Sie sah ihn bedauernd an. »Ich weiß es einfach nicht.« In ihren großen Augen zeigte sich noch immer der Schrecken, den sie beim Anblick ihres Chefs empfunden hatte. »Jedenfalls hatte er eine panische Angst. Er schrie die ganze Zeit über: ›Diese Qualen! Sie sind so entsetzlich. Ich halte es nicht mehr aus!‹. Dann ist er auf die Fensterbank geklettert. Und dann ...« Sie schüttelte sich ein wenig. »... lachte er plötzlich lauthals los und fing an zu singen. Sie kennen doch sicher den Gospel-Song ›Oh Happy Day‹? Dabei ist er dann in die Tiefe gesprungen.«

Blake und McGinnis nickten nahezu gleichzeitig.

»Das ist ja schon mehr als surreal«, bemerkte McGinnis und kommentierte: »Völlig abgedreht!«

Sie nickte. Möglicherweise war es einfach das typische Nicken, mit welchem Frauen in Gesprächen signalisieren, dass sie aufmerksam zuhören, was aber keineswegs eine Zustimmung bedeuten musste.

»Ich habe noch versucht Mister Gardner am Sprung zu hindern, kam aber zu spät.« Ihre Lippen fingen an leicht zu zittern. Sie versuchte aufkommende Tränen zu unterdrücken. »Ich habe noch seinen Namen gerufen. Er hat nicht reagiert. Und dann dieser Schrei ... ich werde ihn meinen Lebtag nicht mehr vergessen.«

McGinnis hatte ein Päckchen Einmaltaschentücher aus der Jackentasche gezaubert und reichte es ihr. Sie sah ihn dankbar an und tupfte sich die Tränen fort.

Blake warf McGinnis einen ratlosen Blick zu. Sie kannten diese Berichte nur zu gut. In irgendeiner Form hatten sie all das bereits dreiundzwanzig Mal gehört. Und dies war nun das vierundzwanzigste Mal.

»Miss Thompson ... «, begann er gedehnt. »Ich weiß nicht, ob Ihnen bereits bekannt ist, dass es vor Ihrem Chef schon dreiundzwanzig weitere unerklärliche Todesfälle gegeben hat.«

»Ich habe darüber gelesen. Die Presse ist ja voll davon«, erwiderte sie niedergeschlagen und wippte, mit zusammengepressten Lippen, wissend leicht ihren Kopf, während sie mit unruhigen Bewegungen mit ihrem Glas feuchte Kringel auf die Tischplatte zeichnete.

»Mister Gardner muss davon auch gewusst haben«, bemerkte McGinnis. »Immerhin ist er Verleger und seine eigenen Zeitungen haben natürlich auch darüber berichtet.«

»Ja. Stimmt«, antwortete Felicity Thompson direkt. »Er hat es einmal, wie beiläufig erwähnt, als er morgens ins Büro kam.«

»Hat er sich weitergehend mit Ihnen über diese seltsamen Vorfälle unterhalten?«, erkundigte sich Blake.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Und private Dinge vertraute er mir auch kaum an. In aller Regel war Mister Gardner ein sehr schweigsamer Mensch. Wenn wir miteinander gesprochen haben, dann war es geschäftlich. Ich kann nicht sagen warum, aber ich hatte immer das Gefühl er sei mir gegenüber recht kühl und reserviert.«

Blake musterte die junge Frau aufmerksam.

»Hat er Sie vielleicht nicht gemocht?«, wollte er wissen. »Immerhin waren Sie seine persönliche Sekretärin. Ich nehme an, er wird Sie selbst eingestellt haben.«

»Ja, er hat mich persönlich eingestellt«, gab sie lächelnd zurück, »und, ja, er hat mich durchaus gemocht.«

»Dann war er wohl verheiratet, oder?«, schmunzelte McGinnis.

»Nein. Er war ein eingefleischter Junggeselle«, erwiderte sie. »Ich würde sagen, er war einer von jenen, die die Frauen beinahe hassen.«

»Als Zeitungsmogul war er sicher recht vermögend, nicht wahr?«, wechselte Blake das Thema.

»Vermögend trifft es nicht ganz«, entgegnete Felicity Thompson. »Er war steinreich. Und da Sie sicher danach fragen werden: Er hatte sehr einflussreiche Freunde, ... Geschäftsleute, Politiker und so.«

»Es gibt also keinerlei Erklärung dazu, warum er das getan hat«, sinnierte Blake halblaut, während er sich mit zwei Fingern über seine Augenbrauen strich.

»Ich verstehe das einfach nicht«, sagte sie. Wieder zuckte sie leicht mit ihren Achseln und brachte damit ihre Ratlosigkeit zum Ausdruck. »Heute Morgen war er anders, ja, beinahe freundlich.« Sie sah wieder von ihrem Glas auf. »Das fiel natürlich sofort auf, weil es nur sehr selten vorkam. Zumeist grüßte er mich nur knapp und verschwand dann direkt in seinem Büro, und das habe ich auch nur dann betreten, wenn er mich ausdrücklich zu sich bat.« Ihr Blick wirkte nachdenklich. »Aber heute blieb er vor meinem Schreitisch stehen und sprach mit mir ein paar Worte über die kalte Wetterlage, und wie ihm die einhergehende Feuchtigkeit auf seine alten Tage zu schaffen machte.«

»Haben Sie Ihren Chef gemocht?«, erkundigte sich Sergeant McGinnis.

Schon seit er ihr gegenüber Platz genommen hatte, beobachtete er die junge Frau recht aufmerksam. Felicity Thompson gefiel ihm, und er gestand sich ein, dass er sie gern unter anderen Voraussetzungen kennengelernt hätte.

Gardners Sekretärin lächelte ein wenig verlegen und senkte ihren Blick. Eigentlich brauchte sie gar nichts mehr zu sagen, denn ihre Körpersprache war eindeutig.

»Es klingt wahrscheinlich verrückt, Sergeant, aber ich muss Ihre Frage mit einem glatten Ja beantworten«, sagte sie leise. »Irgendwie hat mir Mister Gardner leidgetan. Ich kann nicht einmal genau sagen warum, aber ... manchmal, da war er so ... so schrecklich unbeholfen.«

Sie leerte ihr Glas und stellte es mit einer endgültigen Geste auf dem Tisch ab.

Blake und McGinnis richteten noch einige Fragen an sie, aber auch auf diese wusste sie keine wirklichen Antworten zu geben.

»Ich nehme an, Sie werden für heute Feierabend machen und nach Hause wollen«, sagte Blake am Ende der Unterredung. »Wenn Sie möchten, dann können wir Sie gern Heim fahren.«

»Sehr gern, Chief Inspector«, erwiderte sie lächelnd. »Das Angebot nehme ich wirklich gern an.«

»Na, dann kommen Sie, Miss Thompson.« Mit diesen Worten legte ihr McGinnis seine rechte Hand leicht an die Schulter und geleitete sie fürsorglich aus dem Büro.

Im Vorzimmer nahm sie sich ihre Handtasche, packte noch ein paar persönliche Utensilien ein und wollte schon allein in ihren Mantel schlüpfen, als McGinnis ihr gentlemanlike zur Hilfe kam. Sie sah ihn kurz an und bedankte sich mit einem Lächeln.


Zu Dritt verließen sie den großen Gebäudekomplex, in dem Blakes und McGinnis‘ Kollegen vom Yard noch damit beschäftigt waren, eine Menge anderer Angestellter in derselben Angelegenheit zu befragen.

Der völlig zerschmetterte Körper des Zeitungsverlegers war von den Männern der ›Fatal Accident Inquiry‹ bereits fortgeschafft worden. Blut und ausgetretene Hirnmasse hatte man vom Gehsteig mit einem Wasserschlauch in den Gully gespritzt. Infolge des zunehmend stärker werden Schneefalls hatte man den Bürgersteig weitgehend freigekehrt und Streusalz aufgebracht. Schon nach kurzer Zeit deutete nichts mehr auf den tragischen Vorfall hin. Nur in den blassen Gesichtern der Menschen, die den Zeitungsverleger in die Tiefe stürzen und tot auf dem Gehsteig hatten liegen sehen, spiegelte sich noch das nackte Entsetzen.

Sergeant McGinnis gab sich als Kavalier. Er war der attraktiven Sekretärin beim Einsteigen behilflich und schloss anschließend die Wagentür. Dann klemmte er sich hinter das Steuer des weißen Range Rovers.

»Wohin dürfen wir Sie bringen, Miss Thompson?«, erkundigte er sich.

Sie nannte ihm die Adresse. Er startete den Motor, fädelte sich in den laufenden Straßenverkehr ein und fuhr los.

Während der Fahrt, die nicht länger als zwanzig Minuten dauerte, sprach niemand. Alle hingen ihren Gedanken nach. Das änderte sich erst, als McGinnis den Geländewagen direkt vor der angegebenen Adresse stoppte.

»So, da wären wir«, bemerkte er freundlich lächelnd.

»Sehr liebenswürdig, Sergeant«, bedankte sich die junge Frau für die Hilfsbereitschaft. »Von Ihnen natürlich auch, Chief Inspector«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.

McGinnis kletterte aus dem Wagen, lief um ihn herum und kam gerade noch rechtzeitig dazu die Tür zu öffnen. Felicity Thompson hatte schon von allein aussteigen wollen. Sie schmunzelte.

»Sehr aufmerksam«, kommentierte sie seine Geste. »Echte Kavaliere sind heutzutage selten geworden.«

McGinnis‘ schon von Natur aus leicht rosiges Gesicht zeigte eine leichte Röte. Er sagte nichts.

»Miss Thompson!«, hielt Blake die Sekretärin zurück, als diese bereits mit einem Bein aus dem Wagen gestiegen war.

Sie hielt in der Drehung inne.

»Ja?«

»Wenn Ihnen in dieser ... Sache noch irgendetwas einfallen sollte, rufen Sie mich bitte an.«

Er reichte ihr eine Visitenkarte, auf der mehrere Rufnummern standen: die Durchwahlen im Yard und seine Handynummer. Die Nummer seines privaten Festnetzanschlusses gab er in der Regel nicht heraus.

»Sie können mich Tag und Nacht anrufen«, ergänzte er noch.

»Danke, Chief Inspector«, antwortete sie lächelnd. »Ich werde daran denken.«

Jetzt schwang sie auch das zweite Bein aus dem Wagen. McGinnis warf die Tür zu und wartete noch bis die junge Frau im Haus verschwunden war. Dann setzte er sich wieder hinter das Steuer und fuhr los.

Wirklich ein sehr nettes Mädchen, ging es ihm durch den Kopf. Immer noch hatte er ihre außergewöhnliche sanfte Stimme im Kopf, mit diesem warmen besonderen Timbre, die ihn jedes Mal aufs Neue erschauern ließ, wenn er sie vernahm. Auf irgendeine Weise erinnerte ihn ihre Stimme an einen warmen Sommerregen. Er lächelte in sich hinein. Doch dann dachte er an die Umstände, die sie zusammengebracht hatte und über seine Nasenwurzel kerbte sich eine tiefe Sorgenfalte in die Stirn.


Das Lächeln der Medusa

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