Читать книгу Das Lächeln der Medusa - Thomas Riedel - Страница 7
ОглавлениеKapitel 4
B
ald stieg die Zahl der Selbsttötungen so unerklärlich an, dass sich auch der ›Metropolitan Police Service‹, und damit New Scotland Yard, mit dem Thema zu befassen begann. Natürlich riefen die beängstigenden Dimensionen auch Journalisten auf den Plan, die sich wie Aasgeier auf die Vorfälle stürzten. Sensationsheischende, reißerisch aufgemachte Schlagzeilen zierten die Titelseiten der Regenbogenpresse. Auch die Nachrichtensender der Fernsehanstalten standen in nichts zurück. Zu jedem neu bekannt gewordenen Fall gab es eine ausführliche Berichterstattung, zu der Fachleute aus den Bereichen Psychiatrie, Psychologie, Soziologie, Philosophie, Theologie und sogar der Rechtswissenschaft ihr Fachwissen beizusteuern suchten. Und da es eigentlich keine wirklichen Erkenntnisse darüber gab, warum sich die Einzelnen das Leben genommen hatten, gab man sich philosophischen Diskursen darüber hin, ob nun Freitod oder Selbstmord die richtige Bezeichnung sei. So folgte einer der eingeladenen Fachleute dem Philosophen Fritz Mauthner, der, so erklärte er den Zuschauern, den so genannten Selbstmord nicht als unnatürlichen Tod angesehen habe, weil dieser immer natürlicher Art war. Dies, weil Leben und Sterben zum Menschsein gehöre, und er den Ausdruck Freitod dem an die Sprache des Strafrechts erinnernden Wort Selbstmord vorziehe. Ein anderer konterte und erklärte, dass er diese Ansicht schlicht ablehnen müsse, da für ihn im Begriff Freitod eine Beurteilung der Tat enthalten sei, die es zu vermeiden gelte. Sein Gegenüber entgegnete ihm, dass ein Selbstmord kein Mord im eigentlichen Sinne sei und damit kein Verbrechen. Nietzsche wurde erwähnt und auch Sokrates und Seneca wurden bemüht. Letztlich lief es darauf hinaus, wie es zumeist war: wenn es schon nichts weiter zu berichten gab, dann blähte man das Thema eben bis zum Erbrechen künstlich auf.
Der Chef persönlich, Detective Commissioner Sir Lawrence Hogarth, hatte sich in die Angelegenheit eingeschaltet. Und so bekamen am Ende Chief Inspector Isaac Blake und Sergeant Cyril McGinnis den hochoffiziellen Auftrag, sich dieser heiklen Sache anzunehmen. Im Gegensatz zu sonstigen Fällen, wurden sie diesmal mit zahlreichen Vollmachten ausgestattet. Diese erlaubten es den beiden weitaus selbständiger und nach eigenem Gutdünken zu agieren, als es ihnen normalerweise erlaubt war. Der Commissioner hielt viel von dem jungen, aufstrebenden Chief Inspector. Hogarth wusste aus Blakes Personalakte, dass er mit ihm einen absolut fähigen Kriminalbeamten in seinen Reihen hatte, der über eine außergewöhnlich klare und logische Urteilskraft verfügte. Von ihm versprach er sich die baldige Lösung dieser geheimnisvollen Vorfälle.
Inzwischen stapelten sich die Aktendeckel im Büro und auch die Magnetboards und Flipcharts waren mit Notizen und Fotos gefüllt. Immer wieder hatten sich Blake und McGinnis in die ihnen vorliegenden Unterlagen gestürzt, doch so sehr sie auch gruben – nichts!
»Nichts«, knurrte Sergeant McGinnis unzufrieden und legte einen pathologischen Bericht zur Seite. »Es findet sich aber nicht der kleinste Hinweis, und der auf ein Fremdverschulden schon mal gar nicht.«
Blake drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, während er nach dem Bericht griff, um selbst hineinzuschauen.
Der Chief Inspector dreiundvierzig Jahre alt, mittelgroß und von schlanker Statur. Er hatte ein energisches, aber attraktives Gesicht. Seine dunkelbraunen Haare waren kurz geschnitten. Über seinen kühlen, grauen Augen prangten zwei dunkle buschige Augenbrauen und die kleinen Grübchen in den Wangen hatten ihren Charme, wenn er lächelte. Er spielte leidenschaftlich gern Minigolf und Kricket, doch widmete er die meiste Zeit seinem Beruf, also seiner Arbeit beim New Scotland Yard. Obwohl sich dies, wenn auch kaum spürbar, ein wenig geändert hatte, seit Kimberly Kincaid in sein Leben getreten war. Auch seine leidenschaftliche Bastelei an seinem Oldtimer, einem Austin Healey 3000, Baujahr 1967, hatte nachgelassen. Möglichst viel Zeit mit seiner äußerst attraktiven Verlobten zu verbringen stand führ ihn augenblicklich im Vordergrund.
»Gar keine Hinweise stimmt nicht«, korrigierte er seinen Sergeant. »Immerhin haben die Suizide etwas Gemeinsames. Alle Selbstmörder waren sehr vermögend und alle verfielen von der einen auf die andere Sekunde dem Wahnsinn.«
»Dreiundzwanzig Selbstmorde«, murmelte McGinnis mit seiner Tenorstimme, der sämtliche Fallakten auf der rechten Seite seines Schreibtisches aufgehäuft hatte, während er über die Mappen strich. »Dreiundzwanzig!«
Blake strich sich nachdenklich über seine Augenbrauen. Es war eine Angewohnheit. Er tat es immer, wenn er sich intensiv über etwas den Kopf zerbrach.
»Ich frage mich, wie das möglich ist … im einen Augenblick reagieren diejenigen noch völlig normal ... und dann, gerade, als wenn man einen Schalter umlegt ... drehen sie völlig durch und bringen sich um.« Blake stützte seinen Kopf auf die Handfläche seiner Rechten und seufzte. Gleich darauf rieb er sich über die müden Augen. »Wovor hatten die bloß eine solche Angst?«, fragte er sich halblaut.
Er sah McGinnis an, doch sein Sergeant wusste, dass er in diesem Augenblick eher durch ihn hindurch sah.
Dennoch fühlte sich McGinnis angesprochen.
»Keine Ahnung«, erwiderte er achselzuckend und klappte die Akte zu, in der gerade gelesen hatte.
»Das ist mir ein absolutes Mysterium«, gab Blake unumwunden zu.
Er erhob sich von seinem Schreibtischstuhl und trat ans Fenster. Nachdenklich sah er hinüber zur Themse.
»Ganz ehrlich?« Er wandte sich dabei wieder McGinnis zu. »So langsam beginne ich daran zu zweifeln, ob wir dieses Rätsel jemals lösen werden.«