Читать книгу Zwanzig Fässer westwärts - Thomas Staack - Страница 4

Erstes Kapitel
Ostwall

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Lucas Weinberger erwachte am frühen Morgen. Er rieb sich die Augen und gähnte, dann drehte er sich auf die Seite, stütze sich auf den Ellenbogen und betrachtete fasziniert die junge Frau, die neben ihm im Bett lag. Ein wundervoller Abend lag hinter ihm und eine leidenschaftliche Nacht. Er bewunderte ihren entkleideten Körper, hob die Decke mit den Fingerspitzen an und spähte auf die eben noch dadurch verborgenen Körperteile. Er fragte sich, was er an Juliana am meisten mochte. Waren es Äußerlichkeiten wie die lockigen braunen Haare, die großen braunen Augen oder die schlanke Figur? Oder war es ihr Verhalten, die Art, wie sie lachte, schmunzelte, zwinkerte oder sich bewegte? Oder war es die Tatsache, dass sie sich gut verstanden, sich nächtelang unterhalten konnten über Wünsche, Pläne und Lebensträume? Er wusste es nicht, er wusste nicht, was von alldem ihn am meisten begeisterte - er mochte einfach alles an ihr. Wieder einmal fragte er sich, ob das Liebe war, und zog die Stirn in Falten. Viele Mädchen kannte er in Ostwall, der größten Stadt im Herzogtum Eberbach, und hatte mit manchen eine schöne Nacht verbracht, aber keine hatte sein Herz so berührt wie Juliana. Schon beim ersten Lächeln war er ihr verfallen. Leider galt es nicht ihm, sondern dem Gemischtwarenhändler Engelhart, den sie vor ein paar Monaten gebeten hatte, ihr einen guten Preis für ihre Einkäufe zu machen. Und wenn Engelhart in Ostwall für eines bekannt war, dann für seine nicht so guten Preise. Lucas hatte sie damals durch ein Loch in Engelharts Dachboden beobachtet, in den er durch eine Luke eingestiegen war. Der Händler verwahrte einige wertvolle Schätze in Truhen auf seinem Dachboden, um die ihn Lucas mit gewissen Schwierigkeiten erleichtert hatte. Es war einer seiner erfolgreichsten und einträglichsten Einbrüche gewesen, zumal ihm dabei Juliana begegnet war. Kennengelernt hatte er sie in den Wochen danach, nachdem er sie überall gesucht und schließlich beim Einkaufen auf dem Markt gefunden hatte. Mit ihr ins Gespräch zu kommen, war leichter gewesen als erwartet. Überraschenderweise fand sie ihn nicht weniger interessant als er sie.

Er streichelte ihr Haar. Sie brummte missbilligend und rekelte sich unter der Decke. Tief sog er die Luft ein, spürte ein Glücksgefühl in seiner Brust und musste grinsen. Julianas Zuneigung hatte ihn sogar dazu bewegt, über eine gemeinsame Zukunft mit ihr nachzudenken, obwohl ihm ein nahezu unüberwindliches Hindernis im Weg stand.

Krachend wurde im Hausflur eine Tür ins Schloss geworfen, und eine grollende Stimme rief: „Weib! Ich bin zu Hause!“

Eine Gänsehaut lief quer über Lucas' Rücken, und er setzte sich im Bett auf. Von unten waren Schritte zu hören und die Stimme schrie erneut: „Weib! Wo bist du? Willst du deinen Mann nicht begrüßen?“

„Süße“, flüsterte Lucas in Julianas Ohr und strich ihr zärtlich über den Nacken. „Ich glaube, dein Mann ist gerade nach Hause gekommen.“

Juliana riss die Augen weit auf und sprang wie ein Pfeil aus dem Bett. „Himmel und Hölle!“, rief sie. „Was macht der denn hier?“

„Ich denke, er wohnt hier“, meinte Lucas und schmunzelte. „Vermutlich will er zwischen den vielen Geschäften zu Hause nachsehen, ob alles in Ordnung ist und es seiner Frau gut geht.“

Amüsiert beobachtete er, wie Juliana sich hektisch das Unterkleid überwarf und auf der Suche nach weiteren Kleidungsstücken von einer Ecke des Schlafzimmers in die andere huschte.

„Wo ist es?“, schrie sie hysterisch. „Wo hast du mein Kleid hingeworfen, als du mich gestern Abend ausgezogen hast?“

„Ich weiß nicht, ich bin mir nicht sicher.“

Lucas strich sich seinen roten Haarschopf zurecht und kontrollierte das Ergebnis mit einem kleinen Spiegel, den er vom Boden aufgehoben hatte. Rasch schien er zufrieden zu sein, obwohl der mit dem Messer schlecht geschnittene Wildwuchs auf seinem Kopf nicht viel anders aussah als zuvor. Verärgert riss ihm Juliana den Spiegel aus der Hand und funkelte ihn an. Dann begann sie, ihre Locken sorgsam mit einem Kamm zu ordnen, was wesentlich länger dauerte.

„Bist du oben, Weib? Was machst du denn da?“, dröhnte es von unten.

Lucas verschränkte die Arme vor der Brust. „Treib nicht so viel Aufwand. Wir können deinem Mann auch in Unterkleidern gegenübertreten. Das macht wohl keinen Unterschied.“

„Gegenübertreten?“ Augenblicklich unterbrach Juliana ihre Haarpflege und starrte ihn an. „Wer tritt hier wem gegenüber? Bist du völlig verrückt geworden?“

„Warum nicht?“, erwiderte er ein wenig beleidigt. „Du wirst ihm ohnehin von uns erzählen müssen, bevor er es selbst herausfindet. Schließlich geht das mit uns schon vier Monate.“

„Fünf Monate und zwei Wochen!“, korrigierte sie ihn wütend, „Aber erfahren wird er davon gar nichts. Er würde uns umbringen, erst mich, dann dich. Egal, ob ich es ihm erzähle oder er es auf anderem Weg herausfindet. Du kannst dir nicht vorstellen, wie jähzornig und brutal er sein kann. Du musst sofort gehen!“

„Weib!“ Die Stimme klang nun schwer verärgert und kam näher. „Bist du im Schlafzimmer? Schläfst du etwa noch? Das darf doch nicht wahr sein! Ich arbeite tagein, tagaus und du liegst hier im Bett herum! Dir werde ich es zeigen!“

„Verschwinde, verschwinde!“, flüsterte Juliana, so laut sie sich traute. Sie rannte quer durch den Raum und verriegelte die Tür. Lucas sah die Angst in ihren Augen.

„Bitte, bitte geh!“, flehte sie.

„Wohin denn? Er steht vor der Tür.“

Die Schlafzimmertür bewegte sich, es polterte und rüttelte, doch der Riegel hielt stand. „Wach auf, Weib! Mach die Tür auf! Dein Mann befiehlt es dir!“

„Durch das Fenster natürlich, du Dummkopf!“ Juliana öffnete die Fensterläden und schob ihn dort hin. Dann lächelte sie spitz. „Das kannst du doch besonders gut.“

Lucas seufzte laut, hielt sich aber rasch die Hand vor den Mund, um das Geräusch zu unterdrücken. „Wann sehe ich dich wieder?“

„Bald, sehr bald. Morgen Abend vielleicht?“

„Na gut“, schmollte er, „wenn es denn sein muss.“

Er schwang sich auf den Fenstersims und schaute hinab. Die Kletterrosen an der Wand waren für seine Zwecke wie geschaffen. Vorsichtig stieg er in die Tiefe.

Juliana wollte gerade das Fenster schließen, als Lucas' Gesicht noch einmal vor ihr auftauchte. „Versprochen?“

Sie unterdrückte ein Lachen und küsste ihn, wodurch er beinahe den Halt verlor. „Versprochen.“

„Gut“, meinte er zufrieden und grinste. „Übrigens, dein Kleid liegt unter dem Bett.“

„Du Blödmann!“, entfuhr es ihr, und sie drückte seinen Kopf nach unten.

Die Blätter der Kletterrose raschelten, dann war er verschwunden.


Pfeifend stieß Lucas die Eingangstür auf und wurde von einem säuerlichen Geruch in Empfang genommen. Die Taverne Zum schwarzen Eber lag in einem der schäbigen Viertel von Ostwall. Davon gab es in der Stadt immer mehr, denn Ostwall entwickelte sich nach und nach in eine Richtung, die weder Lucas noch den vielen Kaufleuten gefiel. Einst eine blühende Handelsstadt am Fuße der Schwarzen Berge, die über die Gebirgspässe mit den Barbarenhorden der Dürren Steppe und den Ländern jenseits der Berge Handel trieb, hatte das Stadtbild begonnen, sich nachhaltig zu verändern. Die Händler aus fernen Ländern blieben fern, die Handelsrouten über die Berge waren nicht mehr sicher. Oft hörte Lucas Gerüchte über rätselhafte Überfälle und verschwundene Wagen und Waren. Von Räubern und bösartigen Geschöpfen war die Rede, von Trollen, Riesen, Kobolden und Schattenwesen, welche die Schwarzen Berge angeblich heimsuchten oder zu ihrer neuen Heimat gemacht hatten. Meist blieben es Gerüchte. Gelegentlich jedoch kam ein einzelner Söldner oder Händler mit zerrissener Kleidung in die Stadt und erzählte, wie er gerade noch mit heiler Haut davongekommen war. Wie die meisten Menschen in Ostwall schenkte Lucas den Geschichten und Gerüchten keinen Glauben, aber es entstand genug Unruhe, um Händler ihre Geschäfte aufgeben und wohlhabende Bürger wegziehen zu lassen. Die meisten zog es gen Westen in Richtung der Hauptstadt Falkenberg. Statt ihrer kamen zwielichtige Gestalten nach Ostwall, die als Söldner für Handelskarawanen, Gold- und Edelsteinjäger oder Handelsvertreter von zweifelhaftem Ruf ihr Glück suchten. Die schleichende Veränderung hatte schließlich nicht nur die Bürger, sondern auch den Herzog von Eberbach, des östlichsten Herzogtums von Falkenstein beunruhigt. Er hatte die Zahl seiner Soldaten verdoppelt, Kasernen am Stadtrand errichten und die Stadt- und Burgmauern verstärken lassen. Bewaffnete ritten die Gebirgspfade ab und begleiteten Handelswagen einen Teil ihres Weges. Der Nutzen war freilich umstritten, denn die Handelsrouten schienen kaum sicherer zu werden und es gab Gerüchte von verschwundenen Soldatenpatrouillen. Obwohl der Herzog stets durch Aushänge und Marktschreier hatte versichern lassen, dass sie nicht der Wahrheit entsprachen, hielten sich die Gerüchte hartnäckig in den Gassen von Ostwall und verunsicherten Händler und Bürger noch mehr. Zugleich hatte der Sold der Truppen ein tiefes Loch in die Kasse geschnitten, bis dem Herzog nichts anderes übrig geblieben war, als die Steuern zu erhöhen. Das Fluchen der Bürger von Eberbach war beinahe bis nach Falkenberg zu hören gewesen. Lucas hingegen war es gleichgültig, denn er zahlte keine Steuern.


„Herzlich willkommen“, begrüßte ihn der Wirt des Schwarzen Ebers, und schob ihm einen Metkrug über die Theke, „aber mach mir keinen Ärger.“

Lucas grinste breit. „Ich doch nicht! Du kennst mich, Josef.“

„Eben.“ Der Wirt rümpfte die Nase, während Lucas einen Schluck Met trank, sich mit dem Rücken zum Tresen stellte und umsah. Das Gasthaus war ungewöhnlich voll, fast jeder Tisch schien besetzt und mindestens ein Viertel der Anwesenden war Lucas unbekannt. Dabei war er Stammgast.

„Warum ist es heute so voll? Wer sind die ganzen Leute?“

Josef grunzte und ließ dadurch erahnen, wer dem Gasthaus seinen Namen gegeben hatte. „Neues Gesocks aus allen Himmelsrichtungen. Händler, Glücksritter, Abenteurer, Goldsucher. Noch nicht gehört? Es soll Gold und Edelsteine in den oberen Schichten der Schwarzen Berge geben. Jetzt kommen Leute her und wollen es finden. Und reich werden über Nacht.“

„Das Gerücht habe ich schon gehört, als ich noch zehn Jahre alt war und als Fischer gearbeitet habe“, meinte Lucas. „Von damals bis heute ist mir niemand begegnet, der beim Goldschürfen in den Bergen irgendein Vermögen gemacht hat. Dass sich beim Fischen ein Goldklumpen in meinem Netz verfangen hätte, wäre wahrscheinlicher gewesen.“

Überrascht hob Josef eine Augenbraue. „Du hast früher gearbeitet und dein Geld auf ehrliche Weise verdient? Kaum zu glauben!“

„Reden wir lieber nicht darüber“, seufzte Lucas. „Ist heute sonst etwas passiert?“

„Nein“, sagte der Wirt und bohrte gelangweilt mit einem Stück Holz in seinen Zähnen herum. „Nicht wirklich. Abgesehen von dem Kerl, der nach dir gefragt hat.“

„Wer hat nach mir gefragt?“

„Der seltsame Vogel da hinten am Tresen.“ Mit dem Holzstück deutete Josef in die entsprechende Richtung. „Er wollte wissen, wo du bist, ob du noch oft hierher kommst, ob es sich lohnt, auf dich zu warten. Er war mir ein bisschen zu neugierig, deshalb habe ich behauptet, dass ich dich lange nicht mehr gesehen habe. Eine glatte Lüge.“

Besorgt reckte Lucas den Hals. Am Ende des Tresens stand eine hochgewachsene Gestalt mit einem langen braunen Umhang, der den gesamten Körper bedeckte. Die Ausbeulungen am Rücken und an der Seite ließen Lucas vermuten, dass der Fremde nicht unbewaffnet war. Das Gesicht war hinter einer großen Kapuze verborgen. Vor der Gestalt auf der Theke stand ein leerer Metkrug.

„Das könnte interessant werden.“ Lucas wollte auf den Fremden zugehen, doch Josef ergriff seinen Arm und hielt ihn zurück.

„Überleg es dir gut. Vielleicht haust du lieber ab.“

Sanft lächelnd löste Lucas seinen Arm aus der Umklammerung. „Dafür bin ich viel zu neugierig.“

Vorsichtig schritt er die Theke entlang und legte eine Hand um den Griff des Dolchs an seinem Gürtel. Der Unbekannte schien ihn nicht wahrzunehmen.

„Fremder“, sagte Lucas und bemühte sich um eine sichere Aussprache. „Ich hörte, du suchst jemanden?“

Die Gestalt wandte ihm den Kopf zu und nickte stumm. Lucas versuchte, in der Schwärze der Kapuze etwas auszumachen, aber er konnte nichts erkennen. Plötzlich riss sich der Fremde die Kapuze vom Kopf und rief: „Und ich habe ihn gefunden!“

Die kantigen Gesichtszüge eines jungen Mannes mit blondem Haar und leicht eingefallenen Wangenknochen strahlten Lucas an, dem es vor Überraschung kurzzeitig die Sprache verschlug.

„Martin!“, schrie er schließlich. „Ich fasse es nicht!“

Lachend fielen sich die beiden Männer in die Arme und klopften sich auf den Rücken. Josef erschien neben ihnen an der Theke und reichte ihnen zwei gefüllte Metkrüge, während Lucas dem Wirt den Zeigefinger in die Brust bohrte.

„Wehe, du machst das noch einmal, Josef! Mich so zu erschrecken!“

Dann wandte er sich wieder dem Blondschopf zu. „Martin Sailer! Was um alles in der Welt machst du hier?“

„Was wohl? Ich wollte sehen, wie es dir geht“, meinte Martin. „Wir haben uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.“

„Stimmt, vor vier Jahren zuletzt, kurz bevor es dir hier zu langweilig geworden ist. Und etwa zwei Jahre nachdem wir unser Heimatdorf verlassen hatten. Man könnte es auch als Flucht bezeichnen.“

„Fünf Jahre habe ich nichts von dir gehört“, verbesserte ihn Martin. „Warst du seit dem mal wieder in Wasserfall?“

Nachdrücklich schüttelte Lucas den Kopf. „Bei allen Heiligen, nein! Natürlich nicht, womöglich würde mich jemand wiedererkennen und an den Galgen bringen.“

Martin musste lachen, und Lucas wurde bewusst, wie sehr er dieses Lachen vermisst hatte. „Weißt du noch damals, wie wir…“

„Keine alten Geschichten, bitte.“ Lucas winkte ab. „Es war schön, mit dir zusammen aufzuwachsen, und ich kann mich noch an jeden einzelnen Lausbubenstreich erinnern. Am Ende haben sie uns alle gehasst: der Bürgermeister, die Fischer, die Händler und am meisten die Priesterinnen in der ehrwürdigen Abtei.“

„Mich vielleicht“, bemerkte Martin spitz. „Dich haben die Frauen immer gemocht. Das hat sich doch nicht geändert?“

„Ein wenig. Heute mag ich sie auch. Vor allem eine, wenn sie nur nicht verheiratet wäre.“

Martin pfiff durch die Zähne. „Schlecht, sehr schlecht. Das bringt nur Ärger.“

„Nicht mehr als alles andere. Und es lohnt sich, sie ist unglaublich süß und eine echte Schönheit.“ Verzückt verdrehte Lucas die Augen und nahm einen großen Schluck Met.

Martin lachte und stieß ihn an. „Lucas! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, du bist verliebt!“

Der Schubser war zu viel. Lucas verschluckte sich und musste husten, was ihm sehr gelegen kam. Er nutze die Pause, um das Thema zu wechseln und sich um eine Antwort zu drücken.

„Äh...wie gehen die Geschäfte?“

„Schlecht. Das ist auch ein Grund, warum ich mit dir sprechen wollte. Aber sag mir erst, wie es bei dir läuft.“

„Mäßig. Du weißt noch, was ich mache?“

„Nicht genau“, gab Martin zu. „Bist du noch im Lederbeutelgeschäft?“

„Lederbeutel?“ Lucas wischte sich mit dem Ärmel seines Hemds den Mund ab. „Du machst Witze! Nur die Anfänger verdingen sich als Beutelschneider. Hohes Risiko, geringer Ertrag. Wer länger dabei ist, ohne am Galgen zu enden, sucht sich gewinnbringendere Tätigkeiten. Ich besorge Gegenstände, die bestimmte Leute unbedingt haben wollen und von anderen vermeintlich sicher in ihren Häusern aufbewahrt werden.“

„Aber offenbar nicht sicher genug. Sonst würdest du als Einbrecher nicht an sie herankommen.“

Lucas grinste. „Das ist meine Spezialität. Leider läuft das Geschäft zurzeit eher schleppend. Käufer für solche Ware gibt es noch, aber die Zahl der Leute, die interessante Sachen besitzen, hat in den letzten Jahren abgenommen. Ich habe den Eindruck, Ostwall wird für mich zu klein. Vielleicht sollte ich in eine andere Stadt ziehen.“

Martin nickte. „Vielleicht. Dann könntest du deine verheiratete Schönheit gleich mitnehmen. Aber dafür wirst du Geld brauchen, vor allem wenn ihr vor dem Ehemann fliehen und euch verstecken müsst. Zufällig weiß ich, wie du rasch zu Vermögen kommen kannst. Ich habe ein Angebot für dich.“

„Nämlich?“ Lucas wurde hellhörig.

„Begleite mich bei meinem nächsten Auftrag. Eine Fuhre, die sich wirklich lohnt.“

Lucas runzelte die Stirn. „Eine Handelsreise? Du arbeitest als Fuhrmann?“

„Ja“, bestätigte Martin, „seit etwa einem Jahr. Bisher habe ich mich so durchgeschlagen, aber diesmal wird es ein sehr gutes Geschäft. Wir teilen den Lohn sechzig zu vierzig.“

„Ich bekomme also die sechzig?“

„Nein.“

„Das klingt nicht ganz nach meinem Bereich. Aber ich bin bereit, es mir anzuhören - bei fünfzig zu fünfzig. Anderenfalls reden wir lieber über die alten Zeiten.“

Martin schien einen Augenblick zu überlegen. Schließlich nickte er. „Gut, komm mit.“

„Eine Frage noch: Warum kommst du damit ausgerechnet zu mir?“, wollte Lucas wissen.

Martins Antwort kam prompt. „Ich brauche einen zweiten Mann. Mein Auftraggeber besteht darauf. Ich kenne dich. Ich kann dir vertrauen, wenn es darauf ankommt. Und du kannst einen Wagen lenken.“


Martin führte Lucas zu einem Tisch in der hinteren Ecke des Schankraums. Dort saß ein einzelner Mann mittleren Alters, dessen schwarzes Haar nach neuester Mode frisiert und dessen schwarzer Bart gut gepflegt war.

Auf Lucas wirkte der Mann wie jemand, der keine Geldsorgen kannte, denn nur wenige konnten sich das Hemd aus Seide leisten, welches er am Leib trug.

„Übrigens wäre es mir lieb, wenn du die Verhandlungen führen würdest“, raunte ihm Martin zu. „Du kannst das besser als ich.“

Ein Hut mit breiter Krempe lag auf dem Tisch, auch dieser entsprach dem aktuellen Geschmack. Daneben stand ein Holzteller mit Hammelbraten und Erdäpfeln, eigentlich ein Festmahl, das dem Mann aber nicht geschmeckt zu haben schien. Nur wenige Bissen hatte er zu sich genommen und nippte an einem Glas Rotwein, als sich Martin und Lucas zu ihm gesellten.

„Das wäre mein Partner“, stellte Martin Lucas vor, „wenn wir uns einigen können.“

„Ah“, bemerkte der Mann und stellte den Wein angewidert beiseite. Er musterte Lucas von Kopf bis Fuß. „Der zweite Fuhrmann. Ich hoffe, ihr versteht euer Handwerk. Ich überlasse mein Gespann nur Männern, die gut mit einem Wagen umgehen können.“

Bevor Lucas widersprechen konnte, ergriff Martin hastig das Wort.

„Selbstverständlich, mein Herr. Euer Gespann ist in besten Händen.“

Der Mann in dem Hemd aus Seide beäugte beide misstrauisch, dann reichte er Lucas die Hand. „Nun, euer Wort soll mir genügen. Erasmus ist mein Name. Ich bin ein Händler aus der Grafschaft Bärental, weit im Norden. Ihr lernt mich in einer Notlage kennen. Meine beste Ware habe ich mitgebracht, weil ich mir viel davon verspreche. Doch jetzt hat mich ein Unglück ereilt, dem ich meine ganze Aufmerksamkeit widmen muss. Deswegen benötige ich eure Hilfe.“

„Ich bin ganz Ohr“, sagte Lucas Hände schüttelnd, „und sehr gespannt, wie wir euch helfen können.“

„Meine Ware muss schnell überbracht werden. Der Käufer hat sie bereits bezahlt, aber ich kann nicht weiterfahren, ich muss nach Hause. Eine schreckliche Nachricht hat mich erreicht. Eines meiner Lagerhäuser soll abgebrannt sein. Das könnte mich ruinieren, ich muss umgehend aufbrechen.“

„Wir sollen doch nicht über die Schwarzen Berge?“, fragte Lucas zögerlich. „Das könnt ihr gleich vergessen, ich bin nicht lebensmüde. Ich gebe zwar nicht viel auf die Gerüchte, aber ich will mein Glück nicht herausfordern.“

„Nein, nein!“ Abwehrend hob Erasmus die Hände. „Nach Falkenberg geht die Ware. Das ist gefährlich genug, die Straßen sind unsicher geworden und der Weg ist weit.“

„Was befördert ihr?“

„Rum. Zwanzig Fässer vom besten Rum, den mein Haus zu bieten hat. Wintertraum, aus eigener Herstellung mit dem unvergleichlich samtenen Geschmack, eine milde Würze, die ihr nirgends sonst finden werdet, zu einem einmaligen Preis, ein...

Mit einem Klopfen auf den Tisch riss Lucas den Händler aus seiner Schwärmerei. „Guter Mann, das hier ist kein Verkaufsgespräch. Ich will euren Schnaps nicht kaufen, ich überlege, ob ich ihn fahre.“

Mit einem Spitzentuch wischte sich Erasmus den Mund ab.

„Rum“, entgegnete er schnippisch. Offenbar wurde er ungern unterbrochen. „Rum ist es, kein Schnaps. Der beste weit und breit. Deshalb brauche ich zuverlässige Leute, welche die Ware für mich ausliefern. Ich zahle gut, sehr gut sogar, schließlich habe ich einen Ruf zu verlieren.“

„Verstehe.“ Nachdenklich knetete Lucas sein Kinn. „Welchen Lohn nennt ihr denn sehr gut?“

„400 Dukaten“, sagte der Händler unwirsch, „und kein bisschen mehr.“

Er schien beleidigt zu sein, weil er seine Ware nicht angemessen hatte anpreisen dürfen. Martins Augen leuchteten sichtbar, als der Händler die Summe nannte, doch Lucas erhob sich umgehend.

„Dann wird nichts aus unserem Geschäft. Ihr werdet euch andere Leute suchen müssen.“

„Aber…aber…wartet doch!“, rief Erasmus entsetzt, während Martin Lucas mit großen Augen anstarrte. „Geht nicht! Einen Moment! Setzt euch bitte!“

Lucas verzog den Mund, schüttelte den Kopf und nahm wieder Platz. „Schön. Lasst hören, ob ihr noch mehr zu bieten habt. Ich bin kein geduldiger Mensch.“

„Das merkt man“, murrte der Händler. „400 Dukaten für zwei Leute ist ein gutes Angebot.“

Martin nickte hektisch, doch Lucas übersah es. „Das mag sein, aber es ist mir nicht gut genug. Die Fahrt nach Falkenberg ist gefahrvoll, wie ihr selbst zugegeben habt. Und gute Fuhrleute sind schwer zu bekommen.“

„Das ist leider wahr“, brummte Erasmus. „Wie wäre es mit 500 Dukaten?“

Bedächtig knete Lucas seine Oberlippe. „Ihr wollt, dass wir euren besten Rum den weiten Weg nach Falkenberg bringen? Für 500 Dukaten? Die Fässer sollen doch unversehrt ankommen, nehme ich an?“

Der Händler rieb sich die feuchten Hände. Mit verkniffenem Gesicht blickte er von Martin, der inzwischen bleich geworden war, zu Lucas und zurück.

„Wie viel verlangt ihr?“

Lächelnd reichte Lucas dem Händler seine Hand. „700 Dukaten und kein bisschen weniger.“

Erasmus schluckte und zögerte eine Weile. Die angespannte Stille zwischen den Männern legte sich erst, als der Händler einschlug und Lucas' Hand kräftig schüttelte.

„Das ist viel Geld“, knurrte er. „Seid ihr wirklich so gut, wie ihr behauptet?“

Lucas grinste breit. „Verlasst euch darauf. Gebt uns die Hälfte als Anzahlung und…“

„Oh nein“, unterbrach ihn Erasmus. „Einhundert als Anzahlung. Mehr habe ich nicht bei mir. Ihr erhaltet sie, wenn ihr mit dem Wagen aufbrecht. Den Rest bekommt ihr in Falkenberg von meinem Unterhändler Sewolt. Ich führe ein kleines Geschäft in der Hauptstadt, das er für mich verwaltet. Ihr findet es im Kaufmannsviertel.“

Erasmus kramte in einer Ledertasche an seinem Stuhl, zog eine Pergamentrolle, Feder und Tintenfässchen hervor. Er tunkte die Feder in die Tinte und kritzelte auf das Pergament. Dann beträufelte er es mit Kerzenwachs und drückte ein Siegel hinein.

„Ich gebe euch ein Schreiben mit und setze die Anzahlung und die restliche Summe hier ein. 600 Dukaten, nicht wahr?“

„700 Dukaten“, widersprach Lucas. „Wir mögen einfache Fuhrmänner sein, aber wir können zählen.“

Erasmus verzog das Gesicht. „Gut, 700 Dukaten“, brummte er missgelaunt und schrieb erneut auf das Pergament. „Außerdem weist euch das Schreiben als meine Fuhrleute aus. Das könnte euch nützlich sein.“

„Wir sehen uns morgen früh im Stall“, ergänzte Erasmus. „Dann übergebe ich euch meinen Wagen und die Anzahlung. Jetzt entschuldigt mich, ich will mich zurückziehen und von den Verhandlungen erholen.“

„Selbstverständlich“, sagte Lucas. Er und Martin erhoben sich mit dem Händler und verbeugten sich zum Abschied.

Martin wartete, bis der Händler das Gasthaus verlassen hatte, dann packte er Lucas am Kragen und schüttelte ihn. „Bei allen Geistern! Bist du wahnsinnig geworden!“

Anschließend umarmte er seinen Jugendfreund und rief: „Wir sind reich!“

„Übertreib nicht.“ Lucas lächelte milde. „Das ist gutes, wenngleich nicht leicht verdientes Geld. Die meisten Fuhrmänner, die ich kenne, hätten die Fuhre vermutlich für 400 Dukaten gemacht.“

Er deutete mit dem Finger auf das Pergament. „Steht da die richtige Summe? Wirklich 700 Dukaten?“

Martins Augen weiteten sich. „Lucas, kannst du immer noch nicht lesen?“

„Nein, ich hatte keine Zeit, es zu lernen. Stimmt die Summe? Und ist das Schreiben in Ordnung?“

„Äh, ich denke doch.“ Martins Wangen nahmen eine leichte Röte an.

Lucas verengte die Augen. „Du kannst auch nicht lesen, nicht wahr? Warte mal.“

„Josef!“, rief er und ging zum Wirt hinüber. Er legte das Pergament auf den Tresen und schien einige Fragen zu stellen, die Martin wegen des Lärms im Wirtshaus nicht verstehen konnte. Josef nickte und erwiderte etwas Unverständliches, anschließend kam Lucas zurück an den Tisch.

„Alles in Ordnung.“

Die beiden Männer mussten lachen. Martin lief zur Theke, ließ sich von Josef zwei neue Metkrüge geben und bestellte zwei üppige Abendessen.

„Wie hast du das nur gemacht?“, wollte er wissen, als er zurück war. „Ich könnte das nicht.“

„Das habe ich gemerkt.“ Lucas nahm einen kräftigen Schluck. Seine Kehle fühlte sich ungewöhnlich trocken an und wollte befeuchtet werden. „Du hast die ganze Zeit kein Wort gesagt. Wie früher, da musste ich auch alles machen.“

Martin winkte ab. „Solche Verhandlungen sind nichts für mich. Ich habe andere Talente. Du wirst schon sehen.“

„Hört, hört.“ Lucas legte die Stirn in Falten. „Ich hoffe nur, das Ganze ist kein Schwindel. Wenn Erasmus bereit ist, so viel Geld zu zahlen, ist er entweder wirklich in Nöten oder die Sache hat einen Haken.“

„Ich glaube nicht, dass es ein Schwindel ist“, war Martin überzeugt. „Außerdem kann es uns gleichgültig sein, solange wir gut dafür bezahlt werden. Vor allem bin ich froh, dich an meiner Seite zu haben. Es ist gut, wenn man sich beim Wagenlenken mit jemandem abwechseln kann.“

Lucas seufzte und sah Martin betrübt an. „Ich hoffe, ich komme mit dem Gespann zurecht. Ich habe seit Kindertagen nicht mehr auf einem Pferdewagen gesessen.“


An der Theke des Wirtshauses stand ein kleiner dicker Mann in einem weiten grauen Gewand und trank Josefs Hauswein von eher zweifelhafter Qualität. Vor ihm stapelte sich eine Vielzahl von Weinbechern. Angetrunken beobachtete er einen Tisch in seiner Nähe, an dem wie jeden Abend Ulf der Unbesiegbare seinem Tagewerk nachging. Es bestand darin, alle Menschen im Armdrücken zu schlagen, die bereit waren, es mit ihm aufzunehmen. Für einen Einsatz von zwei Dukaten erhielt man die Chance, Ulf den Unbesiegbaren seines Beinamens zu berauben und zwanzig Dukaten zu gewinnen. Dass es noch niemandem gelungen war, lag nicht nur an Ulfs Oberarmen, deren Muskelpakete kaum ein guter Zugochse aufbieten konnte, sondern auch an seiner Technik, die sich Ulf über Jahre angeeignet hatte und auf die er sehr stolz war. Inzwischen hatte der mäßige Wein dem kleinen dicken Mann an der Theke das Gesicht gerötet. Sein kurzes schwarzes Haar und der schwarze Bart wurden dadurch besonders hervorgehoben. Mit funkelnden Augen beobachtete er, wie Ulf der Unbesiegbare den Arm seines Gegners auf die Tischplatte knallte. Das Opfer schrie vor Schmerz, hielt sich den verletzten Arm und verließ das Gasthaus unter dem Jubel der Menge. Ulf erhob sich und wischte den Schweiß von seiner Glatze. Er reckte die muskulösen Arme und ließ sich von den Gästen feiern.

„Wer wagt es noch?“, rief er nach einem kräftigen Zug aus dem Metkrug. „Ulf der Unbesiegbare fordert euch alle heraus! Nur zwei Dukaten Einsatz!“

Der kleine dicke Mann ließ seine letzten beiden Dukaten durch die Finger gleiten. Zwanzig würden seine Sorgen lindern. Bis hierher hatte ihn sein Geldbeutel gebracht, jetzt musste ihm sein Talent weiterhelfen.

Er nahm allen Mut zusammen, ging zum Tisch hinüber und legte das Geld auf die Holzplatte.

„Hier ist der Einsatz“, sagte er mit bebender Stimme und deutlichem Akzent. „Zwei Dukaten für zwanzig.“

Verwundert beäugte Ulf den kleinen Mann von Kopf bis Fuß. Dann begann er zu lachen. Es klang wie der Donner am Himmel und hätte vielleicht von sich aus die Erde erbeben lassen, wären nicht ohnehin die umstehenden Gäste mit den Füßen auf den Boden stampfend in das Lachen eingefallen.

„Dickerchen, mach dich nicht lächerlich!“, brüllte Ulf der Unbesiegbare und hielt sich vor Lachen den Bauch. „Ich könnte deine Hand zerquetschen!“

Der kleine Mann bemühte sich, seine Angst zu verbergen, doch es gelang ihm nicht. Seine Hände zitterten, die Beine schlotterten und unbewusst klapperte er mit den Zähnen.

„Ich bleibe dabei“, erwiderte er heiser.

Die Augen des Unbesiegbaren verengten sich. „Mach dich auf Schmerzen gefasst!“, grölte er und legte die zwei Dukaten auf seinen Stapel. „Ich muss nur kurz ums Eck, gleich mach ich dich platt, du Wurm!“

Ulf schlenderte zum Ausgang. Unterdessen blickte der kleine dicke Mann beschwörend zur Decke und dankte innerlich den Göttern aus seiner Heimat. Darauf hatte er gehofft. Während seiner letzten drei Kämpfe hatte sich der Unbesiegbare mehrfach an unsittlichen Stellen gekratzt und war nervös auf dem Stuhl hin und her gerückt. Das hatte dem kleinen Mann zu der Erkenntnis verholfen, dass sich der Unbesiegbare dringend erleichtern musste. Rasch zog er ein Messer aus der Tasche und kratzte die Rune der Stärke in die Tischplatte. Er war beinahe fertig, nur zwei Striche fehlten noch, als hinter ihm eine bekannte Stimme ertönte.

„Dickerchen! Was machst du da?“

Augenblicklich erstarrte er und blickte sich um. Ulf stand hinter ihm und sah ihm verdutzt über die Schulter.

„Ich...nun...nichts…“, stammelte der kleine Mann. „Gar nichts, wirklich...“

Der Unbesiegbare kratzte sich auf der Glatze. „Was ist das da? Bist du etwa ein Schwarzmagier?“

Bei diesen Worten verebbte der Lärm im Gasthaus. Neugierig und hellhörig geworden hielten die meisten Gäste inne und wandten sich dem Tisch des Unbesiegbaren zu. Auch Martin und Lucas unterbrachen ihre Unterhaltung und sahen hinüber.

„Nein! Natürlich nicht!“, kreischte der kleine Mann. „Das ist nichts! Nur ein Zeichen aus meiner Heimat, das mir Mut machen soll! Es hat keine Bedeutung!“

„Dann steck dein Messer weg und lass uns anfangen“, grollte Ulf und nahm ihm gegenüber Platz. Der kleine dicke Mann schluckte und tat wie befohlen. Die Gäste verloren das Interesse und widmeten sich wieder ihren Gesprächen, nur Ulfs umstehende Bewunderer verfolgten weiterhin das Geschehen.

„Deine rechte Hand!“, bellte Ulf. „Her damit!“

Mit seiner Pranke packte er den Arm des kleinen Mannes und platzierte den Ellenbogen auf dem Tisch. „Bereit?“

„Ja…schon…aber…“, flüsterte der kleine Mann besorgt.

Da knallte Ulf der Unbesiegbare seinen Arm mit solcher Wucht auf den Tisch, dass er in der Mitte entzwei brach. Klimpernd fiel der Dukatenstapel zu Boden. Der kleine Mann schrie auf und hielt sich den rechten Arm. Zeitgleich kam Josef der Wirt auf ihn zu, packte ihn am Kragen und zog ihn dicht zu sich heran.

„So Bursche!“ Zornig spuckte ihm der Wirt die Worte ins Ohr. „Du zahlst jetzt besser deinen Wein und haust ab! Wir mögen hier keine Schwarzmagier!“

Vor Schmerzen tränten dem kleinen dicken Mann die Augen. „Ich bin wirklich kein Schwarzmagier. Leider habe ich kein Geld mehr. Vielleicht kann ich…“

„Das“, unterbrach ihn Josef und knirschte mit den Zähnen, „ist Pech für dich.“

Der Wirt drehte sich um. „Ulf!“, schrie er. „Der Schwarzmagier kann nicht zahlen!“

Die Glatze des Unbesiegbaren färbte sich rot vor Wut. Ohne ein Wort ergriff er den kleinen dicken Mann und warf ihn sich über die Schulter. Er trat zur Tür des Wirtshauses, riss sie auf und schleuderte sein hilflos zappelndes Opfer auf die Straße. Ein Schrei, ein dumpfer Aufprall und lautes Krachen verrieten, dass die Landung des kleinen Mannes nicht ohne Schmerzen und Blessuren bleiben würde.

„Der zahlt schon“, brummte Ulf der Unbesiegbare, während die Muskeln an seinem Hals anschwollen. „Nur anders.“

Dann ging er dem kleinen dicken Mann hinterher.


Sie lagen auf dem Dach eines verfallenen Turms und blickten zu den Sternen. Es war ein alter Getreideturm eines wohlhabenden Bauern, der ihm zu klein geworden war. Vor ein paar Jahren hatte der Bauer ein lang gestrecktes Lagerhaus in unmittelbarer Nähe errichten lassen, das seinen gestiegenen Bedürfnissen entsprach. Im unteren Bereich diente der Turm noch als Lagerraum und enthielt allerlei Gerümpel, für das der Bauer keine Verwendung mehr hatte. Aber der obere Teil war verwaist, das Dach teilweise undicht.

Wenn das Wetter es zuließ, schlief er oft hier oben. Strohsäcke waren sein Bett, der Mond seine Decke und die Sterne seine Unterhaltung. Und manchmal war er nicht allein.

„Beinahe hätte er mich geschlagen“, flüsterte Juliana in Lucas' Ohr. Es war niemand in der Nähe, niemand sonst hätte sie hören können, aber die Angst und die Erinnerung ließen Juliana dennoch mit gedämpfter Stimme sprechen.

„Er schäumte vor Wut. Ein zorniger Mensch, der zu Gewaltausbrüchen neigt, war er schon immer, aber so wie gestern morgen habe ich ihn bisher noch nie erlebt, jedenfalls nicht mir gegenüber. Ich habe einmal gesehen, wie er einen Knecht verprügelt hat. Ich glaube, er wollte eine besser bezahlte Stelle annehmen. Mit einem Stock hat er ihn windelweich geprügelt und ihn getreten, bis er sich nicht mehr bewegt hat. Der Knecht hat nie wieder arbeiten können, haben mir die Diener später erzählt. Zum Glück hat er mich noch nie geschlagen, aber er war wirklich kurz davor.“

Lucas streichelte sie am Kopf. „Warum hast du ihn geheiratet?“

„Hatte ich eine Wahl?“

Ihr Gesicht war dem Himmel zugewandt, doch sie schien die Sterne nicht wahrzunehmen. Ihr Blick war leer.

„Meine Mutter starb im Kindbett bei meiner Geburt. Ich habe sie nie gekannt. Vater war Weinbauer. Wir lebten zusammen auf einem großen Weingut am Südhang der Schwarzen Berge. Vaters Weine waren in Eberbach sehr beliebt und machten ihn zu einem reichen Mann. Der Ruf und der Reichtum meines Vaters zogen viele Männer an, die daran teilhaben wollten, und Gregor Drexler war einer von ihnen. Häufig kam er zum Essen und machte mir Geschenke. Ich fühlte mich ein bisschen geschmeichelt, schließlich war ich erst siebzehn Jahre alt und nie hatte sich ein Mann so sehr für mich interessiert. Er galt schon damals als junger hochtalentierter Kaufmann, der es rasch zu einem großen Vermögen gebracht hatte. Sein Werben war unnachgiebig und kostspielig. Doch Vater hatte mir versprochen, ich dürfte meinem Herzen folgen und den Mann heiraten, in den ich mich verliebte. Geliebt habe ich ihn nie. Deshalb lehnte er ab, als Gregor um seine Erlaubnis bat, um meine Hand anzuhalten. Gregor war außer sich vor Zorn und schwor meinem Vater, mich trotzdem zu bekommen. Verlieren konnte er noch nie.

Eines Tages kam Vater mit einem schlimmen Husten nach Hause, der einfach nicht besser werden wollte. Oft hatte er hohes Fieber und konnte sich nicht mehr um die Felder kümmern. Die Geschäfte gingen schlecht, und wir mussten viel Geld für Ärzte ausgeben, die meinem Vater letztlich nicht helfen konnten. Am Ende waren wir beinahe verarmt, und da tauchte Gregor erneut auf und hielt um meine Hand an. Mein Vater wusste keinen Ausweg mehr, er willigte ein. Gregor erhielt das Weingut als Mitgift, und Vater zog nach Ostwall in ein großes Kaufmannshaus. Er starb kurz nach unserer Hochzeit. Das ist drei Jahre her.“

Betroffen musste Lucas schlucken. „Es tut mir leid um deinen Vater. Ich hätte nicht fragen sollen.“

Juliana lächelte milde und fuhr ihm mit den Fingern durch den struppigen roten Haarschopf. „Schon gut. Das Schicksal gewährt nicht allen Menschen seine Güte. Hätte ich dich nur früher kennengelernt.“

„Klar“, scherzte Lucas, „dann wärst du mit mir weggelaufen und dein Vater hätte uns durch ganz Falkenstein jagen lassen.“

Sie lachte und ihre Wangen wurden rot. „Vielleicht. Was ist mit deiner Familie?“

„Nichts Besonderes. Meine Eltern leben beide noch in Wasserfall, einem kleinen Dorf an der Westküste.“

„Besuchst du sie ab und zu?“

„Nie, das ist weit weg“, meinte Lucas und sah versonnen zu den Sternen. „Ich höre kaum noch von ihnen.“

„Wissen sie nicht einmal, dass es dir gut geht und was du machst?“

„Sie haben nie gebilligt, was ich mache. Mein Vater ist Fischer, ein strenger Mann mit klaren Moralvorstellungen. Meine Mutter hat einen Krämerladen. Ein Dieb passt nicht ins Familienbild. Ihr Nachwuchs hat sie sehr enttäuscht, und ich habe keine Geschwister, die es besser machen könnten.“

Juliana streichelte seinen Rücken. „Das klingt traurig. Ist es dir peinlich? Haben sie dich verstoßen?“

„Du willst aber wirklich alles wissen“, grummelte er vor sich hin.

„Und du lässt dir jedes Wort aus der Nase ziehen. Ich habe dir auch von mir erzählt.“

Lucas seufzte. „Na schön. Ob es mir peinlich ist, dass ich Menschen bestehle? Nein, warum? Ich mache es gern und kann es gut. Jeder hat seine Talente, denke ich, und das ist meines. Ich zweige etwas von denen ab, die viel haben. Nicht weil ich sonst Hunger leiden würde oder um anderen zu helfen. Ich bin kein Wohltäter. Ich kann es einfach gut, und es kann ein sehr einträgliches Geschäft sein. Ich war schon immer gut darin. Die Anfänge waren dumme Jungenstreiche, mit denen wir die Einwohner von Wasserfall und die Schwestern im Kloster zur Verzweiflung getrieben haben. Wären wir nicht im Dorf geboren worden, hätten sie uns bestimmt schon mit zwölf Jahren gehängt.“

Er grinste. „Und als wir sechzehn waren, kamen Martin und ich auf die Idee, die Welt sehen zu wollen. Natürlich brauchten wir dafür Geld, das in Wasserfall nicht leicht aufzutreiben war. Also entwickelten wir einen großartigen Plan: Wir erleichterten einen fetten Händler, der regelmäßig ins Dorf kam, um seine Börse. Danach hat der Händler Wasserfall über Jahre gemieden, was uns unsere Verwandten sehr übel genommen haben.“

„Martin ist doch der Freund von dir, mit dem du jetzt auf Fahrt gehst, nicht wahr?“

Lucas nickte. „Wir haben uns damals getrennt. Er ging in Richtung Süden, ich gen Osten und landete schließlich hier. Ich habe ihn ewig nicht gesehen, aber ich vertraue ihm. Er war in meiner Jugend stets mein bester Freund.“

„Pass auf dich auf.“ Zärtlich küsste Juliana seinen Hals. „Es wäre schrecklich, wenn dir etwas zustoßen würde.“

Er zog sie noch dichter zu sich heran und streichelte ihre Schenkel. „Das mache ich. Wenn alles klappt, werde ich eine Menge Geld haben, und du bekommst vielleicht noch eine Gelegenheit, heimlich mit mir zu fliehen.“

Juliana lächelte und ihre Augen leuchteten.

„Vielleicht“, hauchte sie und küsste ihn auf den Mund.

Zwanzig Fässer westwärts

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