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Fünftes Kapitel
Im Regen

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Tag für Tag stand die warme Frühlingssonne am wolkenlosen Himmel, und die Große Straße des Westens war trocken und staubig. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Tagsüber reisten sie, nachts schliefen sie auf Decken im hohen Gras oder auf weichem Waldboden. Und in dieser Zeit lernten Martin und Lucas den Runenmeister besser kennen. Sokrates erzählte von seinem Heimatland Salakis, weit jenseits der Schwarzen Berge, von seinem Vater, einem Kaufmann, der ihn in der Sprache Falkensteins unterrichtet hatte, von seinen braungebrannten, schwarzbärtigen Landsleuten und vor allem vom Wein.

„Das Wetter erinnert mich an meine Heimat“, sagte er eines Abends und starrte wehmütig ins Lagerfeuer.“ In meinem Land scheint immer die Sonne, und der Himmel ist blau. Hier ist es meistens bewölkt, windig und feucht. In Salakis ist es so warm, dass man fast das ganze Jahr bis spät in die Nacht draußen sitzen kann. Und der Wein, müsst ihr wissen, der Wein ist süß und gut und lange in der Sonne gereift, ein wahrer Genuss.“

„Warum bist du nicht zu Hause geblieben, wenn es dir bei uns nicht gefällt?“, stichelte Martin.

Sokrates sah verlegen zu Boden. „Ich...nun...ich hatte keine Wahl. Freiwillig bin ich nicht gegangen, aber es ist so üblich. Nach der Meisterprüfung muss ein Runenmeister mindestens ein Jahr auf Wanderschaft durch fremde Länder gehen, bevor er nach Salakis zurückkehren darf. Seine Erlebnisse und Erfahrungen soll der Runenmeister in seine Arbeit einbringen und seine Kunst weiterentwickeln. Die anderen jungen Meister sind in wärmere Gefilde aufgebrochen, aber mein Vater hat mich überredet, nach Falkenstein zu reisen.“

„Aber du wolltest nicht fortgehen“, vermutete Lucas.

Sokrates presste die Lippen zusammen. „Nein, ich wollte nicht. Ich hänge sehr an meiner Familie und meiner Heimat. Aber die Gemeinschaft der Runenmeister duldet keine Ausnahme. Außerdem hofft mein Vater, dass mein Reisebericht ihm neue Handelsverbindungen nach Falkenstein aufzeigt.“

Mitfühlend legte Lucas eine Hand auf Sokrates' Schulter. „So schlimm ist es in Falkenstein nicht. Gelegentlich scheint sogar die Sonne. Mit der Zeit wirst du dich an Land, Leute und Wetter gewöhnen. Wie bist du eigentlich Runenmeister geworden?“

„Das war ein großes Glück für mich.“ Die Frage schien Sokrates aufzumuntern. „Mein Vater hat mir dazu geraten, als er erkannte, dass ich über handwerkliches Geschick und eine gewisse Begabung verfüge. Runenmeister haben in Salakis eine angesehen Stellung. Er fand einen Ausbilder für mich, der bereit war, mich gegen hohe Gebühren zu unterrichten. Es waren sehr anstrengende Lehrjahre, aber es hat sich gelohnt.“

Lucas nickte verständnisvoll. „Die Lehre ist also abgeschlossen? Du bist ein fertiger Zauberer?“

„Runenmeister“, verbesserte ihn Sokrates mit erhobenem Zeigefinger. „Das ist ein gewaltiger Unterschied. Ihr müsst wissen, dass Magie oder Zauberei oder Hokuspokus, wie manche Leute es hierzulande nennen, auf verschiedene Weise angewendet werden kann. Magier schöpfen Kraft aus ihrem Inneren und lenken sie mit oder ohne Hilfsmittel nach ihren Wünschen. Ein Runenmeister dagegen hat keine eigenen Kräfte. Wir sind nur Zauberhandwerker. Unsere Fähigkeit besteht hauptsächlich darin, aus Rohmaterialien Runen herzustellen, die magische Fähigkeiten besitzen. Versteht ihr?“

„Kein Wort“, gab Lucas kopfschüttelnd zu, „aber es klingt gefährlich.“

„Manchmal ist es das auch“, fuhr Sokrates fort. „Die Macht des Runensteins ist davon abhängig, welche Runen in ihm verewigt sind. Man muss die Runen sehr sorgfältig in den Stein schreiben. Ein Fehler kann ungeahnte Wirkungen haben.“

Martins Nackenhaare stellten sich auf. „Nämlich?“

Der Runenmeister zuckte mit den Achseln. „Ich habe mir einmal die Augenbrauen angesengt, die Zehen eingefroren und so manche schöne Vase im Haus meines Ausbilders zu Bruch gehen lassen. Ein Kollege von mir hat sich durch ein dummes Versehen selbst in Brand gesteckt. Das war natürlich unangenehm, aber er konnte noch rasch in den Fischteich seines Meisters springen.“

Hastig stand Martin auf. „Danke, das reicht mir zu diesem Thema! Ich gehe schlafen!“, brummte er. „Wehe, du probierst den Zauberkram aus, während ich in der Nähe bin! Dann...dann...gibt es Ärger...mit mir..., also lass es!“

Mürrisch verschwand er in der Dunkelheit.

Betrübt blickte Sokrates ihm nach und murmelte leise: „Er kann mich nicht leiden.“

Lucas hatte es dennoch verstanden. „Martin ist immer sehr vorsichtig. Das er dich für gefährlich hält und dir nicht über den Weg traut, kann ich ihm nicht verübeln. Du musst verstehen, dass uns Zauberei vollkommen fremd ist. In Falkenstein gibt es keine Zauberer mehr. Wir kennen sie nur aus alten Erzählungen und durch das Verbot des Hohen Fürsten, das Zauberei mit hohen Strafen belegt - bis hin zum Tod. Gib Martin etwas Zeit, wenn er dich besser kennt und du ihn von deinen redlichen Absichten überzeugst, ändert er vielleicht seine Meinung.“

Sokrates sah ihn an und nickte traurig. Er schien das Problem zu verstehen, ohne dass es seine Stimmung hob. „Vertraust du mir?“

„Nein, wenn ich ehrlich sein soll.“ Lucas lächelte verschlagen. „Aber mich interessieren deine Runen. Das muss fürs Erste reichen. Also verrate mir: Kannst du auch Dolche verzaubern?“


Nach einigen Reisetagen änderte sich das Wetter. Sehr zum Leidwesen des Runenmeisters, der seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt fand, bewölkte sich der Himmel. Wind kam auf, der schneidend kalt über die Straße fegte und Lucas frösteln ließ. Stärker und stärker wurden die Windböen, zerrten an der Kleidung und verlangsamten den Trab der schwarzen Hengste, die sich gegen die Kraft der Luftmassen stemmen mussten. Umhergewirbelte Blätter, Zweige und Staub erschwerten die Sicht. Nach einigen Stunden färbten sich die Wolken grau, dann dunkelgrau, letztlich gar schwarz wie die Nacht. Zwischen ihnen zuckten Blitze und schossen in weiter Ferne bis zur Erde hinab. Grollender Donner folgte jedem Blitz in immer kürzerem Abstand und ansteigender Lautstärke.

Fritz heulte auf, bis Lucas seinen Kopf tätschelte. „Das Gewitter scheint ihm Angst zu machen“, sagte er zu Martin. „Kein Wunder, es sieht nach einem schweren Unwetter aus.“

„Immerhin regnet es nicht“, meinte Martin gelassen.

Kurz darauf setzte ein feiner Nieselregen ein.

Sokrates jammerte: „Was für ein schreckliches Unglück! Womit haben wir es verdient, dass die Götter uns hart bestrafen?“

„Das ist ganz normal. Du wirst sehen, man gewöhnt sich daran.“ Martin schlug den Mantelkragen hoch, sah zum Himmel hinauf und streckte prüfend die offene Handfläche aus. „Es gibt nichts zu beklagen, der Regen fällt fast lotrecht.“

Es dauerte nicht lange, da setzte ein Platzregen ein. Es war, als würde der Himmel seine Schleusen öffnen und Sturzbäche zur Erde senden. Der Wind peitsche ihnen das Wasser ins Gesicht, und innerhalb weniger Minuten waren die Reisenden nass bis auf die Haut. Vor ihnen verwandelte sich die Große Straße des Westens in einen schlammigen Pfad, bald in eine Moorlandschaft und schließlich in ein Flussbett, in dem sich dünne Rinnsale schlängelten. Die Pferde kamen nur noch mühsam voran, mehrfach musste Martin sie grob antreiben, um ein Versinken des Wagens im Morast zu verhindern.

„Es ist sinnlos!“, schrie er durch den Sturm. „Wir müssen anhalten, bevor wir steckenbleiben oder die Pferde durchgehen!“

„Du hast recht!“ Lucas wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. „Aber wir brauchen einen Unterschlupf!“

Er blickte mit verkniffenen Augen die Straße entlang. „Hier gibt es nichts, dass uns ausreichend Schutz bietet! Haltet nach einem Haus Ausschau!“

Es dauerte noch eine unangenehme Stunde, bis in der Ferne tatsächlich ein Gebäude auftauchte. Das Glück war auf ihrer Seite, denn zu ihrer Überraschung handelte es sich um ein einzelnes Gasthaus am Wegesrand, das sogar über einen Pferdestall verfügte.

„Großartig!“, meinte Martin erfreut. „Dort können wir dich absetzen, Sokrates.“

Und Lucas flüsterte er ins Ohr: „Endlich werden wir den Schwarzmagier los.“

Sie öffneten das Tor zum Stall und fuhren direkt hinein, spannten die Pferde aus, rieben sie trocken und fütterten sie mit Heu. Der Stall war groß und beherbergte bereits einen Planwagen und zwei weitere Pferde, eine alte weiße Stute und einen stattlichen unruhigen Hengst, der nervös auf der Stelle trat. Rasch rannten sie durch den Regen und betraten das Gasthaus. Lucas stieß einen erleichterten Seufzer aus, als sie endlich ein Dach über dem Kopf hatten.

In der großen Gaststube war es nicht nur trocken, sondern auch behaglich warm. Kerzen brannten auf den Tischen und im Kamin prasselte und knisterte ein Feuer. Der Gastraum war beinahe leer, bis auf einen runden Tisch, an dem drei Männer saßen. Beim Eintreffen der Reisenden drehten sich sie sich um und nickten ihnen zur Begrüßung zu. Lucas nickte zurück, doch sogleich wurde sein Blick von der jungen Frau angezogen, die sich ihnen aus dem hinteren Bereich der Schänke näherte. Er konnte gar nicht anders, denn sie war von so auffallender Schönheit, dass sie seine Augen vollkommen in ihren Bann zog. Langes schwarzes Haar umfloss die feinen, scharf geschnittenen Gesichtszüge. Eine einzelne Haarsträhne fiel ihr keck in die Stirn und betonte ihre großen grünen Augen. Sie trug eine Lederschürze und darunter ein schlichtes graues Kleid. Durch den dünnen Stoff konnte Lucas das Korsett erkennen, das ihre Taille formte und die üppigen Brüste noch mehr hervorhob.

„Willkommen im Weißen Hirsch, meinem bescheidenen Wirtshaus“, sagte sie mit süßer und fröhlicher Stimme. „Ich bin Martha, eure Gastwirtin. Ich werde dafür sorgen, dass es euch an nichts fehlt.“

„Das...das glaube ich euch...aufs Wort“, stammelte Lucas mit trockenem Mund. Er räusperte sich und rieb sich die Schläfen. Die anmutige Schönheit der Frau verwirrte ihn und berührte sein Herz auf eine eigenartige Weise, die er sich nicht erklären konnte. Sein Herz gehörte Juliana, rief er sich ins Gedächtnis. Er sah ihr Bild vor Augen, spürte ihre Wärme und ihre Zuneigung. Doch der Anblick der Wirtin bezauberte ihn und ließ Julianas Abbild in einem nebelhaften Schleier seiner Gedankenwelt verschwinden. Er bemerkte, dass es den anderen nicht anders erging. Martins Mund stand weit offen und Sokrates machte ein beglücktes Gesicht. Allen hatte es die Sprache verschlagen, es war an ihm, etwas zu sagen.

„Es ist...hier...ganz nett...äh,...denke ich...“

Lucas schwirrte der Kopf, und er kniff die Augen zusammen. War das seine Stimme? Hatte er das etwa gesagt? Er hätte sich ohrfeigen können für so viel Dummheit! Die schönste Frau von Falkenstein stand vor ihm und er brachte nur zusammenhanglose Wortfetzen heraus.

Martha kicherte. „Schön, dass es euch gefällt. Ich lege viel Wert darauf, meinen Gästen alles recht zu machen. Sie sollen sich bei mir wohlfühlen. Aber bitte, ihr seid vollkommen durchnässt, kommt zum Feuer und hängt eure Kleidung zum Trocknen auf. Ich hole euch warme Wolldecken.“

Während sie im Hinterzimmer verschwand, zog Lucas sein Leinenhemd aus, das ihm wie ein nasser Lappen auf der Brust klebte, und legte es über einen Stuhl beim Kamin. Sokrates folgte seinem Beispiel, nur Martin stand noch immer reglos an der Eingangstür und starrte der Wirtin nach.

Sie bemerkte es bei ihrer Rückkehr und musste lachen. „Eurem Freund ist das Unwetter wohl nicht bekommen.“

Sie ergriff Martins Hand und führte ihn zum offenen Kamin. Lucas ertappte sich dabei, wie die Berührung einen Anflug von Eifersucht in ihm auslöste. Rasch kämpfte er das Gefühl nieder und hüllte sich in eine der von Martha bereit gelegten Wolldecken. Nun entledigte sich auch Martin seiner feuchten Kleidung.

Als sie alle nahe beim Feuer standen, erhob einer der drei anderen Gäste die Stimme.

„Setzt euch ruhig zu uns, meine Herren“, lud er sie ein. „An unserem Tisch ist noch Platz, und er steht dicht am Feuer.“

„Gern“, erwiderte Lucas und ergriff einen Stuhl. Martin und Sokrates nahmen ebenfalls Platz, Fritz setzte sich an Lucas' Seite und hechelte zufrieden. Die Wärme des Kamins schien auch dem Hund zu behagen. Der Mann lächelte erfreut. Er war bereits in die Jahre gekommen, seine Haut war faltig und vernarbt. Die wenigen kurz geschorenen Haare waren grau und ließen den Blick auf die wettergegerbte Kopfhaut frei. Eine große Nase und ein grauer Vollbart zierten sein Gesicht und wie alle Gäste war er in eine Decke gehüllt. Seine eingefallenen Wangen und die magere Statur ließen auf ein Leben voller Entbehrungen schließen. Neugierig funkelten seine Augen, als er sich den Neuankömmlingen vorstellte.

„Mein Name ist Heinz Jakobus. Das hier ist Hartmut, mein Lehrling.“

Dabei deutete er auf den jungen Mann zu seiner Rechten, der noch recht jung wirkte und unter einem krausen Haarschopf verlegen in die Runde schaute.

„Es freut mich, euch kennenzulernen, Herr Jakobus.“ Höflich schüttelte Lucas dessen Hand.

Jakobus lächelte noch breiter. „Ganz meinerseits. Ein Mann mit Manieren, das ist nicht immer üblich in diesen Tagen.“

Er hatte einen festen Händedruck und ließ ihn allen zuteil werden, während Lucas seine Reisegefährten vorstellte.

„Und dort sitzt der Herr Wohlscheid“, fuhr Jakobus fort und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: „Ein ganz besonderer Mann“.

„Macht es nicht spannender, als es ist, Jakobus“, entgegnete der dritte Mann kühl und hustete kurz. Seine Stimme klang tief und rau, als habe er sich im Regenwetter eine Erkältung geholt. Er hielt sich eine Hand vor den Mund, um den Husten zu unterdrücken, wobei seine Decke kurzzeitig zur Seite rutschte und Lucas darunter eine Uniform und eine Schwertscheide erblicken konnte.

„Ich bin Magnus Wohlscheid von den Fürstlichen Boten.“

„Wirklich?“, entglitt es Lucas überrascht. Eingehend betrachtete er den Mann in mittleren Jahren mit gezwirbeltem Schnurrbart, dessen nasses braunes Haar am Kopf klebte. Er konnte noch nicht lange vor ihnen im Gasthof eingetroffen sein.

„Darf ich fragen, was einen Boten des Hohen Fürsten in diese Gegend verschlägt?“

„Ihr dürft nicht“, antwortete Wohlscheid scharf.

Er musterte die Reisenden aus schmalen Augen. „Die Fürstlichen Boten geben niemandem Auskunft außer dem Hohen Fürsten selbst und seinen engsten Vertrauten.“

Eine unangenehme Stille war die Folge, in der Lucas und Wohlscheid missbilligende Blicke tauschten.

„Verstehe.“ Entnervt zuckte Lucas mit den Achseln. Er mochte keine hochnäsigen Menschen, die sich für besonders wichtig hielten und ihren höhere Stellung gern zur Schau stellten. Und Wohlscheid schien zweifellos, zu ihnen zu gehören.

Er wandte er sich wieder Jakobus zu. „Darf ich denn euch fragen, wie ihr hierher gekommen seid und warum? Oder ist das auch ein streng gehütetes Geheimnis?“

Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Natürlich nicht!“, antwortete Jakobus belustigt. „Ich bin ein offenes Buch! Mit Büchern handle ich übrigens auch, mit allem eigentlich, was ich in die Finger bekommen und zu Geld machen kann. Ich bin ein Fahrender Händler, reise von Dorf zu Dorf, verkaufe, was die Leute brauchen, und kaufe, was sie nicht mehr brauchen oder wovon sie sich trennen wollen.“

„Ein Krämer also?“

Unzufrieden schnalzte Jakobus mit der Zunge. „Händler ist mir lieber, aber Krämer könnt ihr mich auch nennen. Ich bin in vielen Dörfern bekannt und mein Werbelied, das ich mir selbst ausgedacht habe, wird von manchem Kind gesungen. Vielleicht kennt ihr es sogar?“

Er räusperte sich und trällerte:


Töpfe, Pfannen, Haferbrei – alles habe ich dabei, Schüsseln, Messer, Mantelkragen – findet ihr in meinem Wagen, Schuhe, Hose, Hut und Hemd – sind in Jakobus' Sortiment, Ankauf? Verkauf? Nicht verzage' – Hauptsache ist: gute Ware, Kommt vorbei, ihr lieben Leut' – feine Preise mach' ich heut'.“ Lucas musste schmunzeln. „Ist das euer Ernst? Findet ihr das Lied nicht ein wenig albern?“ „Albern?“ Der alte Mann bellte ein kurzes Lachen. „Ha! Natürlich ist es das! Genau darum geht es, mein Junge. Wenn ihr wie ich von Ort zu Ort zieht und etwas verkaufen wollt, müssen die Leute zu euch vertrauen haben. Sie müssen euch mögen und sich an euch erinnern. Das erreiche ich durch Albernheit. Ich spiele den Spaßvogel, reiße ab und zu einen Witz oder singe mein Werbelied. Am besten können sich die Leute an das erinnern, was sie lustig finden.“ „Und damit habt ihr Erfolg?“ „Nun...mehr oder weniger. Reich werde ich dadurch nicht, aber es reicht zum Leben.“ „Eher weniger als mehr“, murmelte Hartmut kaum hörbar und schielte genervt in Richtung Decke. Der Händler schien es dennoch wahrgenommen zu haben. „Mein Lehrling ist ein guter Junge, aber oftmals etwas lustlos. Für mein Geschäft braucht man Leidenschaft, Lebhaftigkeit, Feuereifer und nicht zuletzt Spaß, sonst könnt ihr nichts verdienen. Nur wer Ideen hat und mit Freude bei der Sache ist, macht in diesem Land gute Geschäfte. Ihr werdet nicht glauben, wie viele Leute sich durch mein Werbelied anlocken lassen.“ „Ihr habt recht, das glaube ich wirklich nicht.“ Lucas grinste. „Aber macht euch nichts daraus, ich verstehe trotzdem, was ihr meint. Wir haben selbst ein einträgliches Geschäft.“ „Und das wäre?“, schaltete sich Wohlscheid in das Gespräch ein. Die Neugier des Fürstlichen Boten, der bisher nur gelangweilt gegähnt und in seinen leeren Becher gestarrt hatte, war scheinbar erwacht. „Wir sind Fuhrleute“, erklärte Martin. „Unser Wagen steht nebenan im Stall.“ „Tatsächlich? Fuhrleute also“, wiederholte der Bote, ohne überzeugt zu klingen. „Ihr seht gar nicht wie Fuhrmänner aus. Sind drei Männer nicht ein bisschen viele für einen einzelnen Wagen? Das muss wertvolle Ware sein, wenn sie solcher Bewachung bedarf. Und der verlauste Hund, den ihr bei euch habt, sieht...na, sagen wir mal ungewöhnlich aus.“ Angewidert verzog er das Gesicht. „So ein Tier ist mir noch nie begegnet. Ich hoffe, er hat keine ansteckende Krankheit.“ Fritz streckte den Kopf vor und knurrte Wohlscheid bedrohlich an, als könne er dessen Abneigung spüren. Der Fürstliche Bote schreckte kurz zurück, während Lucas den Hund beschwichtigend am Hals kraulte. „Es ist ein großer Wagen und eine große Lieferung.“ „So, so.“ Wohlscheid schien verunsichert und ließ Fritz nicht mehr aus den Augen. „Woraus besteht die Lieferung? Wo geht sie hin?“ Martin war im Begriff zu antworten, doch Lucas brachte ihn mit einem Fingerzeig zum Schweigen. „Bedaure“, erwiderte er kühl, „Geschäftsgeheimnis. Wir Fuhrleute geben nur unserem Auftraggeber Auskunft und sind im Übrigen zur Verschwiegenheit verpflichtet.“ Wohlscheids Gesichtszüge entgleisten. Er lief rot an, seine Halsschlagader schwoll sichtbar und er hatte Mühe, die Wut unter Kontrolle zu halten. „Das wird sich zeigen!“, stieß er hervor und knirschte mit den Zähnen. „Eure Frechheiten werden noch Folgen haben! Aber nicht mehr heute. Es ist spät und ich reise morgen früh ab. Ich werde mich lieber zurückziehen. Gute Nacht, meine Herren!“ Schnaubend und militärisch zackig stand er auf, verbeugte sich steif und stieg die Holztreppe in den ersten Stock hinauf. Dort verschwand er hinter einer der Türen. Der alte Jakobus sah ihm nach und schüttelte den Kopf. „Von wegen spät. Der Abend hat gerade erst begonnen.“ Er wandte sich wieder an Lucas. „Ich weiß allerdings nicht, ob es klug war, einen Fürstlichen Boten gegen euch aufzubringen. Solche Leute können uns Kaufleuten viele Unannehmlichkeiten bereiten. Glaubt mir, das kann Ärger geben, ich weiß, wovon ich spreche.“ Lucas seufzte. „Ich widerspreche euch nicht, aber was hätte ich machen sollen?“ „Deine vorlaute Klappe halten!“, grummelte Martin. „Nur ein einziges Mal in deinem Leben!“ „Das geht nicht.“ Schuldbewusst lächelte Lucas. „Ich kann nicht anders. Wenn ich einen eitlen Pfau sehe, muss ich ihm ein paar Federn ausrupfen. Auch wenn ich mir dabei die Finger verbrenne. Das gehört zu meinen großen Schwächen.“ „Von denen hast du einige“, meinte Martin schnippisch. „Und frei von Eitelkeiten bist du auch nicht.“ Entschuldigend hob Lucas die Schultern. „Zugegeben. Ich werde versuchen, mich beim nächsten Mal zurückzuhalten. Aber versprechen kann ich nichts.“ „Trinken wir auf unsere Schwächen!“ Jakobus nahm einen großen Krug vom Tisch, goss eine dampfende, goldgelbe Flüssigkeit in einen Becher und reichte ihn Lucas. „Warmer Honigmet. Probiert nur, mein Junge, das beste Getränk bei diesem abscheulichen Wetter.“ Lucas kostete und lächelte verzückt. „Es schmeckt großartig.“ „Nicht wahr? Glaubt mir, ich bin viel herumgekommen, aber ich kann mich nicht entsinnen, irgendwo besseren Honigmet getrunken zu haben. Und wenn er noch dazu mit solcher Anmut serviert wird...“ Martha, die junge Gastwirtin, kehrte an ihren Tisch zurück. „Ich habe euer Zimmer für die Nacht vorbereitet. Es tut mir sehr leid, ich führe ein kleines Gasthaus und habe nur drei Zimmer zu vergeben. Da zwei bereits belegt sind, habe ich euch drei Betten in das verbliebene gestellt.“ „Das macht nichts“, sagte Lucas überhastet. Er konnte den Blick nicht von der Wirtin abwenden, wiederum zog Marthas Antlitz ihn in ihren Bann. Wirr starrte er in ihre großen grünen Augen und fragte sich, warum seine Zunge taub war und sich wie Watte anfühlte. Sein Geist war vernebelt, er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Martha schenkte ihm ein sanftes Lächeln. „Was wollt ihr essen?“ Die Frage riss ihn aus seinen Träumen, und er hörte, wie Sokrates sich nach der Auswahl erkundigte. „Nun“, überlegte Martha, „es ist spät und viel habe ich nicht mehr. Ein bisschen Hammelfleisch könnte ich euch aufwärmen. Für drei Portionen müsste es noch reichen. Dazu ein paar Erdäpfel und vielleicht etwas Grünkohl, wenn ihr den mögt.“ Sokrates wollte Einwände erheben, sprach über die Vorzüge einer leichten Küche und die schwere Verdaulichkeit von Kohlgemüse am Abend, doch Martin schnitt ihm das Wort ab. „Mögen wir. Wir haben großen Hunger. Bringt uns dazu bitte den Honigmet. Er scheint gut zu sein, auch wenn ich ihn bisher nicht kosten durfte.“ Genervt rollte Lucas mit den Augen und reichte ihm den Becher. Martin nahm einen tiefen Zug und schmatzte zufrieden. „Oh ja! Viel von dem Honigmet, bitte!“ Während die Gastwirtin in die Küche zurückkehrte, versuchte Sokrates, ebenfalls einen Schluck Met zu ergattern. Enttäuscht musste er feststellen, dass Martin den Becher bis auf den letzten Tropfen geleert hatte. Leise murmelte er Verwünschungen in seinen Bart, bis Martha mit zwei großen dampfenden Krügen und drei Bechern an den Tisch zurückkehrte und auch er in den Genuss des süßen Trunks kam. Lucas Stimmung verbesserte sich zusehends, der Met wärmte seinen Bauch und rötete seine Wangen, soweit dies nicht bereits dem prasselnden Kaminfeuer gelang. Er fühlte sich behaglich, vergaß das schlechte Wetter und die anstrengende Reise. Verträumt lauschte er den Reise- und Trödelgeschichten des Fahrenden Händlers, die ihn und die anderen immer wieder zum Lachen brachten. Jakobus wiederum schien dankbar, interessierte Zuhörer gefunden zu haben. Selbst dem verstockten, mürrischen Lehrling Hartmut entlockte die eine oder andere Geschichte das eine oder andere Schmunzeln. Das Essen ließ nicht lange auf sich warten und gierig machten sie sich darüber her. Lucas fand es köstlich, fettig und gut gewürzt. Während sie für Fritz einen Teller mit den Hammelknochen hinstellte, nutzte er die Gelegenheit, Martha für ihre Kochkunst zu loben. Verlegen lächelte ihm die junge Wirtin zu, bevor sie wieder in die Küche ging. „Ist sie nicht ein Prachtweib?“, lallte der alte Jakobus, nachdem er zwei weitere Becher Met getrunken hatte. „Sie sieht nicht nur gut aus, Kochen kann sie obendrein! Ich würde sie auf der Stelle heiraten, hier und jetzt! Wenn ich nur ein paar Jahre jünger wäre,... Ist vielleicht ein Priester in der Nähe?“ Lucas musste lachen, auch Martin und Sokrates kicherten vor sich hin. Fritz hingegen streckte sich vor dem Kamin aus und machte sich über die Essensreste her, die nicht mehr in die Bäuche der gesättigten Zweibeiner hineingepasst hatten und achtlos auf dem Boden gelandet waren. Jakobus musste gähnen. „Das nenne ich einen gelungen Abend. Schade, dass er schon vorüber ist. Ich bin völlig erschöpft. Komm, Hartmut!“ Er schüttelte allen die Hand und wünschte ihnen eine gute Nacht. Dann gingen er und Hartmut auf ihr Zimmer. Während Martha das Geschirr abräumte, zupfte Lucas an ihrem Ärmel. „Wo habt ihr so gut Kochen gelernt?“ Sie hielt kurz inne und schien zu überlegen. „Das werde ich oft gefragt. Ein bisschen hier, ein bisschen dort, etwas Talent und etwas Erfahrung. Die Hauptsache ist, es hat euch geschmeckt.“ „Das ist weit untertrieben: Es war ein Hochgenuss. Kocht eure Mutter auch so gut wie ihr?“ „Ja, sogar noch besser.“ „Ist sie in der Küche? Vielleicht sollten wir uns auch bei ihr bedanken.“ „Nein, sie ist nicht da“, antwortete Martha und lächelte schief. „Mein Eltern sind heute morgen ins nächste Dorf gefahren, um Vorräte einzukaufen. Es ist ein weiter Weg und ich erwarte sie nicht vor Morgen zurück.“ „Ah“, sagte Lucas geistesabwesend. Seine Augen klebten an ihren vollen Lippen und er musste sich zwingen, seinen Blick nicht weiter nach unten schweifen zu lassen. „Was schulden wir euch?“ Sie winkte ab. „Es ist spät geworden und auch ich brauche meinen Schlaf. Ihr könnt morgen zahlen.“ Lucas und die anderen verabschiedeten sich nur ungern von der schönen Wirtsfrau, doch letztlich trieb sie die Müdigkeit in ihr Zimmer. Fritz rollte sich am Fuße von Lucas' Bett zusammen. „Ein sehr schöner Abend.“ Martin verriegelte die Tür. „Was für ein Glück, dass das Unwetter uns hier zur Pause gezwungen hat.“ Lucas warf sich auf das Bett, legte die Hände in den Nacken und starrte in gedankenverloren zur Decke. „Du hast recht, Martin. Das Schicksal meint es gut mit uns.“

Zwanzig Fässer westwärts

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