Читать книгу Zwanzig Fässer westwärts - Thomas Staack - Страница 6

Drittes Kapitel
Geräusche

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Tagelang folgten sie der Großen Straße des Westens. Die Gehöfte am Straßenrand wurden spärlicher und die Dörfer, die Lucas in der Ferne erblicken konnte, immer weniger. Er und Martin wollten schnell vorankommen, daher waren sie sich einig, wegen Sokrates keinen Umweg in Kauf zu nehmen. Vielmehr fassten sie den Entschluss, ihn an einem der Gasthäuser an der Straße abzusetzen. Tag für Tag hielten sie danach Ausschau, aber in dieser Gegend schien es nicht eine einzige Gaststube entlang der Straße zu geben. Statt dessen tröstete Lucas der Umstand, dass sie gut vorankamen. Die Straße war trocken und ebenerdig, zu Anfang sogar gepflastert, die schwarzen Hengste waren kräftig, lebhaft und ausgeruht und schlugen ein hohes Tempo an. Abends wärmten sie sich am Lagerfeuer und schliefen nachts auf Wolldecken am Wegesrand oder bei leichtem Regen unter dem Wagen. Zu Anfang ihrer Reise kamen ihnen häufig andere Fuhrleute entgegen, die sie fröhlich grüßten und ein Schwätzchen über die Zustände in Ostwall mit ihnen hielten. Je weiter sie fuhren, desto weniger Wagen begegneten ihnen, bis Lucas schließlich das Gefühl hatte, allein unterwegs zu sein. Langsam verschlechterte sich der Zustand der Straße. Der Boden wurde steinig, wies Kuhlen und eingetrocknete Fahrrillen auf. Gelegentlich mussten sie einen Findling umfahren, der sich über Jahre aus dem Sand gegraben hatte.


Eines Morgens waren sie erst ein paar Stunden unterwegs, als Geräusche abseits der Straße ihre Aufmerksamkeit erregten.

„Hörst du das?“, fragte Lucas, an Martin gewandt.

„Natürlich“, brummte Martin. „Was soll die Frage? Jedem tauben Ochsen im Umkreis von fünfhundert Schritten würden das nicht entgegen. Was mag das sein?“

Sie lauschten angestrengt. Es klang wie Geschrei, wie ein wildes Rauschen, Knirschen und Knacken. Und es kam aus dem Waldstück am Rande der Straße.

„Das gefällt mir nicht.“ Martin warf Lucas einen verunsicherten Blick zu. „Wir sollten lieber nicht anhalten.“

Lucas runzelte die Stirn. „Ich glaube, ich bin viel zu neugierig, um einfach weiterzufahren. Und manchmal ist es besser zu wissen, was hier draußen lauert, bevor es uns womöglich in den Rücken fällt. Außerdem habe ich Lust auf eine Pause.“

„Wenn es sich als dumme Idee herausstellt, werde ich dir die Schuld geben“, scherzte Martin.

Lucas grinste. „Das machst du doch immer. Lenk den Wagen dort unter die Bäume. Wir verstecken ihn, so gut es geht.“

„Müssen wir uns das wirklich ansehen?“, beschwerte sich Sokrates, während Martin das Gespann zur Seite steuerte. „Wer weiß, was das ist? Solcher Lärm kann nichts Gutes bedeuten. Ich beschwöre euch, lasst uns weiterreisen!“

„Hey Schwarzmagier!“, entgegnete Martin barsch. „Du hast hier gar nichts zu bestimmen! Die Sache ist entschieden, also mach gefälligst, was dir gesagt wird. Du kannst froh sein, dass wir dich überhaupt mitnehmen.“

Widerwillig schwieg der Runenmeister. Sie banden die beiden Zugtiere fest und deckten den Wagen mit Zweigen und Gestrüpp ab. Es war eine schlechte Tarnung, doch Lucas wollte ihr Gefährt nicht lange allein lassen.

„Ich bleibe besser beim Wagen und bewache ihn“, verkündete Sokrates und stellte sich breitbeinig und mit verschränkten Armen vor das Gespann.

Martin verzog das Gesicht. „Das könnte dir so passen. Ich traue dir nicht weiter, als ich spucken kann. Du begleitest uns.“

Er packte den lautstark protestierenden Runenmeister im Nacken und schob ihn vor sich her. Sein Jammern und Wehklagen ließ Martins Griff nur noch fester werden. Lucas ging durch die Bäume voran, direkt in Richtung der geheimnisvollen Geräusche, die noch immer laut und unerklärlich durch den Wald hallten. Je näher sie kamen, desto gewaltiger wurde der Lärm. Lucas bedeutete ihnen, sich leise zu bewegen, woraufhin Martin Sokrates kurzerhand den Mund zuhielt. Sie schlichen auf eine kleine Lichtung zu, die sich inmitten des Waldes öffnete. Lucas legte sich auf den Bauch und kroch bis zum Ende der Baumreihe. Die anderen folgten seinem Beispiel. Gebannt beobachteten sie das Schauspiel, das sich dort ereignete. Im Gras der Lichtung lag ein seltsames Wesen. Es schien groß zu sein, vielleicht drei Meter Körperlänge nach unseren Maßstäben. Nackt war es und doch nicht, denn sein ganzer Körper war mit dickem braunen Fell bedeckt. Das lange lockige Kopfhaar wellte sich bis über die Schultern. Seine Erscheinung war menschenähnlich, Arme mit klobigen Händen und Beine mit breiten Füßen und wulstigen Zehen konnte man ebenso erkennen wie die zwei Wölbungen in Brusthöhe. Unterhalb der Stirn konnte Lucas ein kurzes Horn erkennen, und darunter saß ein riesiges, einsames Auge über der breiten Nase. Tränen flossen aus dem Auge und liefen den Nasenrücken hinab, während das Wesen vor Wut und Schmerz schrie. Ein großes Netz wickelte sich um seinen Körper und schnürte es ein.

Unterdessen umrundeten zwei großgewachsene Männer das Wesen. Einer schnürte die Enden des Netzes an Bäumen fest und schlug Holzpflöcke in den Waldboden. Der andere stach immer wieder mit einem Speer auf das Untier ein, um es am Boden zu halten. Am Rand des Netzes lief ein großer Hund auf und ab, bellte und verbiss sich im Fell des Untiers. Die Männer schrien sich Kommandos zu, das Wesen brüllte und bäumte sich auf, Bäume knirschten, Äste brachen.

„Bei allen sieben Höllen“, flüsterte Lucas in Martins Ohr. „Was ist das?“

Staunend schüttelte Martin den Kopf. „Keine Ahnung. Ich bin oft und weit durch Falkenstein gewandert, aber ein Wesen mit nur einem Auge habe ich nirgends gesehen. Verdammt gefährlich sieht es aus, wenn du mich fragst, als könnte es einen Mann mit einem einzigen Prankenhieb zermalmen. Es muss über die Berge gekommen sein. Hast du nicht die wilden Gerüchte gehört?“

„Von streunenden Monstern in Eberbach?“, gab Lucas zurück. „Sicher, aber geglaubt habe ich bis heute kein Wort davon. Du hast recht, es sieht wirklich beängstigend aus.“

Sokrates' Lippen bebten. „Bei allen Göttern!“, raunte er ihnen zu. „Gefährlich? Beängstigend? Mordlüstern sind diese Gesellen, rasend und todbringend! Das ist ein Zyklop.“

Verdutzt starrten Martin und Lucas ihn an.

„Ein was?“, hauchten sie gleichzeitig.

„Ich kenne sie nur aus den Legenden meines Volkes“, flüsterte der Runenmeister. „Es gibt viele Geschichten über die Zyklopen, die Riesen mit einem Auge und dem Horn eines Stiers auf der Stirn. Alle Erzählungen enden tödlich. Darum verstehe ich nicht, warum diese Männer dort sich freiwillig einem Zyklopen freiwillig zum Kampf stellen. Wenn sie nicht lebensmüde sind, sollten sie so schnell wie möglich fliehen.“

„Sie werden nicht fliehen“, war Lucas überzeugt. „Das sind Kopfgeldjäger, Männer ohne Gewissen, die für Geld alles erledigen. Gegen Belohnung machen sie Jagd auf gesuchte Verbrecher und gefährliche Tiere. In Scharen kommen sie nach Ostwall, seit die Gerüchte verbreitet worden sind, dass Bestien aus den Schwarzen Bergen in Eberbach einfallen. Es heißt sogar, der Herzog selbst würde sie in seine Dienste nehmen.“

Martins Augen weiteten sich und er schluckte hörbar. „Kopfgeldjäger? Wirklich?“

Lucas nickte, doch bevor er etwas erwidern konnte, ertönte hinter ihm ein ohrenbetäubendes Gebrüll. Erschrocken fuhren alle herum. Ein zweiter Zyklop brach durch das Unterholz. Sein wildes Tempo ließ Sträucher knirschen und Bäume bersten. Alles zu seinen Füßen trampelte er nieder. Ihnen blieb keine Zeit, sie kauerten sich ins Gras und zogen die Köpfe ein. Und das Glück war auf ihrer Seite. Der Zyklop stürmte über sie hinweg, ohne sie zu verletzten. Erst auf der Lichtung kam das Ungetüm zum Stehen und fauchte zornig. Überrascht wandten sich die Kopfgeldjäger der neuen Gefahr zu. Sie nahmen die Speere, stachen gemeinsam auf das Untier ein und hielten es fern, während sie der Hund kläffend umkreiste. Der Zyklop schäumte vor Wut, schmieriger Geifer tropfte aus seinem Maul. Langsam und abschätzig wich er einige Schritte zurück. Plötzlich traf eine riesenhafte Pranke einen der Kopfgeldjäger in die Seite. Schreiend flog er quer über die Lichtung und landete unsanft in einem Dornenbusch. Der andere Zyklop hatte sich aus dem Netz befreit und den Kopfgeldjäger von hinten angegriffen. Keuchend und verängstigt rappelte sich der Mann auf und schleppte sich davon. Halb kriechend, halb laufend verschwand er zwischen den Bäumen. Im Gesicht seines Partners zeichnete sich der Schrecken ab, als er sich nunmehr zwei Zyklopen gegenüber sah. Er ließ den Speer fallen und wollte ebenfalls die Flucht ergreifen, aber einer der Zyklopen kam ihm zuvor. Das Untier versetzte ihm einen Tritt in den Hintern, durch den er schmerzhaft auf das Gesicht fiel und hilflos durch das Gras rollte. Stöhnend kroch er weiter, stand schließlich auf und hinkte davon. Der Hund spitzte die Ohren, jaulte und zog sich knurrend an den Rand der Lichtung zurück. Lucas hatte den Eindruck, dass das Tier genau wusste, dass es allein gegen die Zyklopen keine Chance hatte. Die beiden Zyklopen hingegen sahen sich an und stießen fremdartige Laute aus. Dann umarmten sie sich, rieben Nasen und Hörner aneinander und trotteten gemeinsam in die Tiefen des Waldes.


Schweigsam lagen die drei Reisegefährten noch eine ganze Weile im Gras, bis Lucas sich erhob und die Lichtung betrat. Die anderen gingen ihm nach, während er sich dem Lager der Kopfgeldjäger näherte und die Ausrüstung durchwühlte. Dem Hund schien das nicht zu gefallen. Er lief herbei, fletschte die Zähne und knurrte bedrohlich.

Martin geriet ins Schwitzen. „Äh, Lucas? Ich glaube, das ist keine gute Idee, solange der Hund in der Nähe ist. Mit dem Kraftpaket will ich mich nicht anlegen.“

Aber Lucas ließ sich nicht beeindrucken. „Ja, ja, braver Hund.“, sagte er gleichgültig, zog einen großen Knochen aus einem der Proviantbeutel der Kopfgeldjäger und warf ihn achtlos hinter sich. Der Knochen landete neben dem Tier, das ihn argwöhnisch beschnupperte. Auf einmal begann der Hund, fröhlich mit dem Schwanz zu wackeln, jaulte vergnügt und kaute auf dem Knochen herum.

Sokrates seufzte erleichtert, Martin wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nur Lucas schien von alldem keine Notiz zu nehmen.

„Die gesamte Hinterlassenschaft können wir gut gebrauchen“, meinte er schließlich. Er warf Martin den zurückgelassenen Speer zu, der ihn verdutzt fing. „Du, Schwarzmagier, trägst den Proviant, Martin den Beutel dort.“

Sich selbst schwang er den verbliebenen Sack über die Schulter und wollte sich auf den Rückweg machen. Aber der Hund versperrte ihm den Weg, wedelte mit dem Schwanz und hechelte erfreut.

„Aus dem Weg, Flohfänger!“, rief Lucas verärgert und wollte das Tier umgehen, doch der Hund schnitt ihm erneut den Weg ab und ließ sich vor seinen Füßen nieder.

Lucas' Augen wurden schmal. „Was soll das? Ich habe weder Zeit noch Lust, mit dir zu spielen. Also lass mich in Ruhe und lauf zu deinen Herren. Du findest sie irgendwo im Wald.“

Dabei deutete er in die Richtung, in der die Kopfgeldjäger verschwunden waren. Die Augen des Hundes folgten der Bewegung seiner Hand. Lucas nutzte die Gelegenheit, ging rasch an dem Hund vorbei und lief in den Wald. Martin und Sokrates folgten ihm eilig. Der Hund erhob sich und sah ihnen nach. Er drehte sich um und zögerte, legte den Kopf schief und stieß einen winselnden Laut aus. Dann nahm er den Knochen zwischen die Zähne und trabte den Reisenden hinterher.


Zwanzig Fässer westwärts

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