Читать книгу Drachensonne - Thomas Strehl - Страница 40

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Es war, wie Gwayhier es gesagt hatte.

Erst tappte Jonaas fast blind durch die Dunkelheit des Waldes, denn selbst Lanoos‘ Licht erreichte den Boden durch die dichten Baumkronen nicht.

Dann jedoch, als der Junge beinahe die Orientierung verlor, sah er einen rötlichen Lichtschein durch die Blätter und Stämme schimmern.

Er korrigierte seine Richtung ein wenig und beschleunigte, angetrieben von der Erkenntnis, auf dem richtigen Weg zu sein, seine Schritte.

Die Bäume rings um ihn waren hoch, mächtige Stämme trugen riesige Kronen, dazwischen wuchsen mannshohe Farne.

Ansonsten gab es nichts. Keine abgestorbenen Zweige, keine kranken, umgestürzten Bäume, kein Unterholz. Der Waldboden sah aufgeräumt und ordentlich aus, als hätte ein Riese ihn ausgefegt.

Und da die Sicht durch das Licht der Feuerwand immer besser wurde, kam Jonaas gut voran.

Dann, früher als er damit gerechnet hatte, hörte der Wald auf.

Und der Junge hatte plötzlich freien Blick auf die rote Stadt.

Er war noch etwa zweihundert Pferdelängen entfernt, und nur noch felsiger Boden trennte ihn von der Mauer und der Zugbrücke.

Es gab keine Bäume und Büsche mehr, keine Felsbrocken, die ihm Deckung verschaffen konnten, und er fühlte sich nackt und verletzlich, als er aus dem Schutz des Waldes heraustrat.

Vorsichtig sah er sich um, als er sich im Licht Lanoos‘ der roten Stadt näherte.

Beinahe rechnete er damit, von der Stadtmauer her angerufen zu werden, glaubte schon, in einem Pfeilhagel sein Leben aushauchen zu müssen, doch alles blieb ruhig.

So, wie überhaupt eine seltsame Stille über der Stadt lag.

Nicht einmal die Flammen, die aus dem Graben heraus die Stadtmauern umzingelten, knisterten.

Keine Tiere waren zu sehen, kein Vogel sang.

Das einzige Geräusch wurde von kleinen Steinchen verursacht, die Jonaas mit seinen Schritten in Bewegung brachte und die klickend und polternd über den Steinboden rutschten.

Der Junge blickte zurück, hoffte für einen kurzen Moment, dass Gwayhier im doch folgte, aber er war allein, daran bestand kein Zweifel.

Er war nur noch zwanzig Pferdelängen von der roten Stadt entfernt, befand sich in unmittelbarer Näher des flammenden Grabens, im Schatten der riesigen Burgmauer.

Und noch immer schien niemand sein Auftauchen bemerkt zu haben.

Wenn es so etwas wie Wachen gab, dann taten sie ihren Dienst nur sehr unzureichend oder sie hatten ihn längst bemerkt und nicht in die Kategorie »Bedrohung» eingestuft.

Jonaas legte den Kopf in den Nacken und betrachtete das Mauerwerk. Jetzt, aus der Nähe, konnte er erkennen, dass die Mauer einige Risse hatte. Steine fehlten, der Wehrgang war beschädigt und auch der von ihm aus gesehene linke Turm machte einen verfallenen Eindruck.

Alles in allem war das Bauwerk in einem bemitleidenswerten Zustand, und Jonaas fragte sich, warum niemand die Mauer reparierte.

Fehlte dem Burgherren das Geld? Oder fehlten Arbeiter? Oder verließ man sich einfach auf den Feuergraben?

Jonaas verwarf alle Ideen. Eigentlich gab es nur eine vernünftige Erklärung: Man sparte sich die Reparatur, weil man keine Burg, keine Wehrtürme mehr brauchte. Der große Krieg war lange vorbei, und seit endloser Zeit lebten die Völker Karma´neahs in Frieden.

Nur wie lange noch? dachte Jonaas. Er erinnerte sich schlagartig, warum er hier war, und hoffte, das Kandelar seine Mauern und ihren Schutz nicht schon bald bitter nötig haben würde.

Er ging mit pochendem Herzen weiter und setzte den ersten Fuß auf die Zugbrücke.

Wenigstens machte das Holz (wenn das schwarze Material denn Holz war) einen festen und sicheren Eindruck.

Der Junge machte weitere Schritte und blickte angstvoll in das Flammenmeer, das wenige Meter unter ihm im Burggraben tobte.

Ab und zu schoss eine Flamme hoch und züngelte an der Wand entlang, nur um danach wieder zusammenzufallen und im heißen Meer zu verschwinden.

Dann brach irgendwo anders eine Flamme aus und schoss in den Nachthimmel.

Einmal geschah dies so dicht an der Brücke, das Jonaas die mörderische Hitze spürte und Angst bekam, dass seine Haare Feuer fingen. Er machte einen Schritt zur Seite und versuchte, die Brücke so mittig wie möglich zu überqueren, um nach beiden Seiten genug Abstand zum Feuergraben zu haben.

Schließlich ließ er ohne einen weiteren Zwischenfall die Brücke hinter sich und sprang mit einem Satz auf den steinernen Boden im Tor der Burgmauer.

Es polterte dumpf, als er aufkam, und wieder rechnete der Junge damit, dass nun eine Wache auf ihn einstürmte, doch nichts dergleichen geschah.

Er warf einen Blick durch das Tor in das Innere der Stadt und bemerkte unmittelbar hinter der Mauer einige niedrige Gebäude.

Langsam ging er näher.

»Hallo«, sagte er. Überlaut klang seine Stimme in der Stille, und er zuckte zusammen. »Hallo?«

Niemand rührte sich. Die Stadt schien ausgestorben, menschenleer.

Als Jonaas jedoch weitere Schritte in die Stadt hinein setzte, bemerkte er, dass es hier sehr wohl Leben geben musste.

Denn direkt neben dem Eingang zu einer der Hütten türmten sich Berge fauliger Essensreste und anderer Müll, und es roch nach Verwesung und Fäkalien.

Vorsichtig ging der Junge weiter und trat in etwas Glitschiges, das er bei näherem Betrachten als Erbrochenes identifizierte.

»Hallo.“ Noch einmal versuchte Jonaas sein Glück, ganz in der Nähe der Tür, und diesmal war sein Versuch von Erfolg gekrönt, denn als Antwort auf seinen Ruf vernahm man ein Rascheln, ein lautes Stöhnen und einen Fluch.

»Verdammt noch mal«, hörte Jonaas eine raue Stimme. »Wer lässt mich da nicht in Ruhe schlafen?«

Ein Poltern ertönte, dann ein weiterer Fluch, und endlich erschien ein großer, grobschlächtiger Mann in den Umrissen der Tür.

Er war wohlbeleibt, trug die schäbigen Überreste einer einstmals rotblauen Uniform und mitten im Gesicht eine leuchtend rote Nase, die auf mächtigen Alkoholgenuss hindeutete. Außerdem ging von ihm ein Gestank aus, der unschwer erraten ließ, von wem das Erbrochene stammte.

Er funkelte Jonaas aus kleinen, rotgeränderten Augen an und fuhr sich mit einer Hand über den runden Schädel mit dem Igelschnitt. In der anderen Hand trug er zwei abgewetzte Stiefel, die er in der »Eile» wohl nicht an bekommen hatte.

Seine Hand rieb nun sein stoppeliges Kinn, und er stieß dabei einen langen Rülpser aus.

»Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mich zu stören«, polterte er. Er glotzte den Jungen aus glasigen Augen an. »Ich kenne dich nicht«, beschloss er dann. »Wer bist du?«

»Mein Name ist Jonaas«, stellte sich der Junge vor. »Und Ihr könnt mich nicht kennen, denn ich betrete Kandelar heute zum ersten Mal.«

Der Blick des Soldaten verfinsterte sich. »Noch ein Besucher«, murmelte er. »Erst kommt jahrelang kein Schwein, und nun fallen sie über uns her wie die Fliegen.«

Er machte einen Schritt vorwärts und packte den Jungen rüde am Arm.

»Du gehst mit mir, sobald ich meine Stiefel anhabe«, sagte der Soldat. »Und versuche nicht, mir zu entkommen.« Er deutete auf den Dolch an seiner Seite. »Ich bin ein geübter Kämpfer.«

Jonaas sagte nichts, er dachte sich seinen Teil. Sicher wäre es ein Leichtes für ihn gewesen, diesem Trunkenbold davon zu laufen, doch schließlich war er freiwillig nach Kandelar gekommen, und wenn ihn der Soldat nun weiterbrachte, konnte das für ihn, der sich in der Stadt nicht auskannte, nur von Vorteil sein.

»Wohin bringt Ihr mich?« fragte Jonaas. »Zum Befehlshaber der Wache?«

Der Dicke kämpfte torkelnd mit dem rechten Stiefel und spuckte auf den Boden. »Ich bin die ganze Torwache«, sagte er dann. »Du musst schon mit mir Vorlieb nehmen, Bürschchen.«

Der Junge erschrak. »Aber … Aber«, stotterte er. »Es gibt doch weitere Soldaten?«

Wieder spukte der Dicke eine schleimige Flüssigkeit aus. »Klar gibt es noch welche«, kicherte er. »Die sechs Idioten von der Palastwache.«

»Nur sechs?« Jonaas war wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte eine Armee erwartet, eine ausgebildete Kampftruppe, die es im Ernstfall mit der eisigen Horde aufnehmen konnte.

Aber diese Hoffnung fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Kandelar schien nicht mehr die Stadt zu sein, die sie einst war.

Umso wichtiger wurde es, dass Jonaas den schwarzen Lord erreichte und ihm das Drachenfeuer abjagte, ehe er damit Schaden anrichten konnte.

»Bringt mich zu eurem Anführer«, forderte der Junge. Die Zeit brannte ihm unter den Nägeln, und das Getue des Soldaten ging ihm auf die Nerven.

»Was glaubst du, was ich vorhabe, Bursche?« fragte der Dicke.

Und dann packte eine starke Hand Jonaas‘ Genick, und ehe der Junge sich versah, schleppte ihn der Soldat durch die Straßen der Stadt.

»Bin gespannt, was König Fadh zu dir sagen wird«, murmelte er. Er grinste den Jungen an, und Jonaas roch fauligen Atem und sah schlechte Zähne. »Vielleicht lässt er dich hinrichten«, grinste er. »Das wäre doch mal wieder ein Spaß.«

Jonaas erschauerte. Irgendwie entwickelte sich die Sache in der roten Stadt nicht so, wie er es erwartet hatte.

Der harte Griff des Soldaten ließ dem Jungen nicht unbedingt viel freie Sicht, trotzdem konnte er auf ihrem Weg einige Eindrücke von Kandelar sammeln.

Die Straßen waren schmutzig und löcherig, so oft geflickt, bis man es schließlich aufgegeben hatte.

Die meisten Häuser waren baufällig, die Fensterscheiben blind vom Sand oder ganz zerstört. Nur hinter wenigen brannte Licht, überhaupt schienen nur zwei oder drei der Hütten, an denen sie vorbei kamen, bewohnt zu sein.

Kandelar, die reiche, gut bevölkerte Hauptstadt Karma´neahs schien es nur noch in Legenden und Geschichten zu geben. Das, was sich hier Jonaas‘ Augen bot, hatte mit all dem nichts mehr zu tun. Dieses hier war nur noch eine heruntergekommene Ansammlung verlassener Hütten, dreckig und verkommen.

Und doch sollte es noch einen König geben und damit eine kleine Hoffnung, an die sich der Junge klammern konnte. Wenn es auch die große Armee, die er sich als Unterstützung gewünscht hatte, nicht gab, so konnte er vielleicht doch noch Hilfe erwarten, in welcher Form auch immer.

Sie verließen ein weiteres Gässchen und erreichten eine breitere Straße, die etwas bergan führte und auf ein großes Gebäude in der Mitte eines runden Platzes zulief.

Hier gab es deutlich mehr beleuchtete Fenster, und die Häuser waren weniger verfallen.

Trotzdem, oder gerade deswegen, türmte sich der Müll in den Straßen noch höher, und der Gestank raubte Jonaas fast den Atem.

Den Soldaten schien es nicht zu stören, er brummte einige unzusammenhängende Worte und schleifte den Jungen erbarmungslos weiter.

Jonaas hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Er wehrte sich anfangs nach Leibeskräften, doch der Griff des Mannes kam einer Eisenklammer gleich.

Schließlich ergab er sich seinem Schicksal und versuchte nur, nicht zu stolpern.

Hier und da, wenn sie besonders viel Lärm machten, erschienen Köpfe hinter schmutzigen Scheiben, Fenster wurden geöffnet, und man blickte ihnen neugierig nach, doch niemand unternahm etwas oder wunderte sich auch nur über den Soldaten und sein Verhalten dem Jungen gegenüber.

Sie stolperten ohne Unterbrechung die Hauptstraße entlang, überquerten den Platz, auf dem ein verfallener Brunnen mit einer kopflosen Statue stand, und erreichten das Gebäude in der Mitte.

Einige Stufen führten zu einem großen Portal, ein Säulengang umgab das große Bauwerk an jeder Seite, und Verzierungen und Stuckwerk zeigten, das es einst prachtvoll und schön gewesen sein musste.

Nun befand es sich jedoch in ähnlich schlechtem Zustand wie der Rest der Stadt, und sie mussten über umgestürzte Säulen steigen, um das Portal zu erreichen.

Der Soldat schleifte den Jungen näher, und als sie das große Tor, das halb offen stand, durchschritten, erreichten sie einen Saal, in dem ein riesiger Marmortisch und einige Stühle standen. Mehrere Türen gingen von der Kopfseite des Raumes ab, und der Dicke schleppte sie auf eine davon zu.

Die Füße des Jungen scharrten über bunte Mosaike, die früher wohl herrliche Bilder gezeigt hatten. Nun jedoch waren sie verdreckt oder nur noch zur Hälfte vorhanden.

»Ich kann allein laufen«, protestierte Jonaas zum hundertsten Mal, doch der Soldat lockerte erst den Griff, als sie den Saal durchschritten hatten.

Aus der Dunkelheit im Hintergrund des Raumes schälte sich nun, im spärlichen Licht von zwei Fackeln eine Tür, auf deren verwittertem Holz eine Krone zu erkennen war.

Vor ihr stand ein Mann. Sein Kinn lehnte auf einem langen Zweihänder, seine Augen waren geschlossen, sein Atem ging gleichmäßig und ruhig.

»König Fadh wird begeistert sein, wenn er erfährt dass seine Palastwache schläft«, brüllte der Dicke plötzlich, und der Mann mit dem Schwert riss angsterfüllt die Augen auf.

Er wollte den Zweihänder packen, doch der Dicke trat ihm das Schwert aus den Händen und die Waffe rutschte scheppernd über den Boden.

Die Wache stolperte und prallte mit dem Rücken krachend gegen die Tür. Erst jetzt erkannte der Mann den Eindringling.

»Kort«, stammelte er fassungslos. »Sag mal, du spinnst wohl. Wie kannst du mich so erschrecken.«

Der Dicke baute sich vor der Wache auf. »Ich bringe wichtige Kunde für König Fadh«, sagte er. »Ich habe die erwarteten Eindringlinge geschnappt.«

»Die Eindringlinge?« fragte die Wache.

»Na gut«, gab Kort zu. »Es war nur einer.«

Jonaas wunderte sich über das Gespräch der Männer. Die erwarteten Eindringlinge? dachte er. Wie konnten sie mit ihm gerechnet haben? Oder wartete man auf jemand ganz anderen?

Für Jonaas war klar, das man ihn verwechselt hatte, und er wollte es sofort richtig stellen.

»Ich bin ...«

»Schnauze«, brüllte Kort. »Du redest erst, wenn du gefragt wirst.«

Jonaas wollte trotzdem etwas erwidern, doch er schwieg, als die Tür mit der Krone geöffnet wurde und eine weitere Person die Halle des »Palastes» betrat.

Jonaas hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.

Mit offenem Mund stand er stumm da und bestaunte das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte.

Sie war ein wenig kleiner als er, ihre Haut war makellos, nur wenig von der Sonne gebräunt, und ihre feuerroten, gelockten Haare fielen ihr bis auf die Schultern.

Ihr schlanker Körper steckte in schwarzen Hosen, Stiefeln und einem weiten, weißen Hemd mit großem Rüschenkragen.

Ihre Nase war klein und spitz, hohe Wangenknochen gaben ihrem Gesicht ein edles Aussehen.

Nur ihre vor Wut funkelnden, grünen Augen passten nicht zu ihrem herrschaftlichen Aussehen.

»Was zum Henker ist hier los?«, fragte sie in befehlsgewohntem Ton.

Jonaas rechnete für einen Moment damit, dass der Dicke zurück giften würde, doch er versuchte, Haltung anzunehmen, und wurde plötzlich ganz friedlich.

»Verzeiht die nächtliche Störung, Prinzessin«, murmelte er und schob Jonaas auf das Mädchen zu. »Aber euer Vater gab den Befehl, jeden Eindringling sofort zu melden.«

»Ich kenne die Befehle«, sagte das Mädchen barsch. »Trotzdem braucht ihr nicht einen solchen Lärm zu machen, dass man Angst haben muss, dass der Palast zusammenbricht.«

Jonaas musste trotz seiner misslichen Lage lächeln.

Wahrscheinlich bedarf es wirklich nicht viel mehr als etwas Lärm, um die Mauern zum Einsturz zu bringen, dachte er.

Dem Mädchen war die plötzliche Fröhlichkeit des Jungen nicht entgangen. »Und du«, herrschte sie ihn an. »Dir wird das Grinsen schon noch vergehen.«

Jonaas entwand sich dem Griff des Soldaten, der, beeindruckt vom Auftreten der Prinzessin, für einen Moment nicht achtgab.

Der Junge zupfte sein Hemd zurecht und blickte das Mädchen an.

»Werden in Kandelar alle Gäste so empfangen?«, fragte er ruhig.

»Gäste nicht«, antwortete die Prinzessin kühl. »Eindringlinge schon.«

Jonaas störte sich nicht daran als Eindringling bezeichnet zu werden. Er wollte nur seine Bitte vortragen.

»Ich benötige Hilfe«, sagte er. »Und hoffe, diese in Kandelar zu erhalten.«

»Hilfe?« Das Mädchen runzelte die Stirn. Sie schien ein, vielleicht zwei Jahre jünger als Jonaas zu sein. Ihre anfängliche Wut hatte sich gelegt, und nun sah sie den Jungen mit unverhohlener Neugierde an.

»Soll ich ihn wegsperren?«, fragte der Soldat, der Jonaas zum Palast geschleift hatte.

»Ja, ja, wegschließen«, meldete sich nun auch der zweite Soldat. Er kniete unweit von den anderen Personen und sammelte seine Waffe ein. Er versuchte, einen interessierten und beschäftigten Eindruck zu machen, doch sein Blick flog ängstlich zwischen Kort und der Prinzessin hin und her, als rechnete er mit einer augenblicklichen Strafe.

»Mein Vater ist noch wach und wünscht den Besucher sofort zu sehen«, sagte das Mädchen. »Seit der Ankündigung neuer Eindringlinge schläft er nicht mehr.«

Ihr Ton wurde ein wenig wärmer, und Jonaas war nicht entgangen, das sie ihn als Besucher bezeichnet hatte.

Vielleicht wurde doch noch alles gut.

Kort packte ihn wieder am Genick, doch die Prinzessin hieß den Soldaten, den Jungen loszulassen.

»Ich werde ihn allein hineinbringen«, entschied sie. »Bleibt vor der Tür und wartet auf weitere Anweisungen.«

Schon wollte sie gehen, als sie sich noch einmal umwandte. »Und schlaft nicht wieder ein«, sagte sie drohend, und beide Soldaten zuckten wie unter einem Peitschenhieb zusammen.

»Sollen wir Euch nicht doch besser begleiten?«, fragte Kort. »Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, den König und Euch mit einem Fremden allein zu lassen.«

»Danke, aber ich kann ganz gut auf mich aufpassen, Kort«, sagte das Mädchen. »Und du weißt das, glaube ich, am besten.«

Der Angesprochene zuckte wieder zusammen, nahm dann aber Haltung an, und Jonaas lächelte diesmal innerlich, um nicht erneut Ärger zu bekommen.

»Bitte, nach dir«, sagte die Prinzessin und öffnete die Tür mit der Krone. Jonaas blieb nicht verborgen, das ihre Hand dabei auf ihrem langen Dolch lag, der an ihrem Gürtel hing.

Jonaas schulterte seinen Rucksack, den er beim Gespräch auf den Boden gestellt hatte, und schritt durch die Öffnung. Das Mädchen schob ihn voran. »Geh schon«, sagte sie. »Einfach geradeaus.«

Der Raum, der hinter der Tür lag war schmal, aber sehr lang. Ein roter Teppich zog sich durch den Saal und endete erst vor einem hölzernen, geschnitzten Thron.

An beiden Seitenwänden hingen Waffen und Schilde und etwa alle zwei Pferdelängen war eine Fackel angebracht, die den Raum in helles Licht tauchte.

Deshalb konnte Jonaas die Gestalt auf dem Thron gut erkennen, lange bevor er und die Prinzessin das Ende des Saales erreicht hatten.

Der Thron mit hoher Rückenlehne war aus hellem Holz, die Gestalt darauf ganz in Rot gekleidet.

Der Mann war groß und sehr dünn, seine ganze Haltung müde und kraftlos. Er hing mehr in dem Stuhl, als dass er saß, und er schien nur unter großer Mühe seinen Kopf heben zu können, als die beiden die drei Stufen, die zum Thron führten, erreicht hatten.

Sein Haar war schwarz, mit grauen Fäden durchzogen, struppig, und seine Wangen waren unrasiert. Der Blick aus den rotgeränderten Augen war schmerzvoll und unendlich traurig.

»Vater«, begann die Prinzessin. »Kort brachte uns diesen Eindringling.«

Der König sah Jonaas kurz an. »Lass ihn einsperren«, sagte er tonlos.

Jonaas zuckte zusammen. »Aber ...«, sagte er, doch er brauchte nicht weiterzureden, denn die Prinzessin ergriff überraschend für ihn Partei.

»Wir sollten zuerst anhören, was er zu sagen hat«, sagte sie entschieden.

Doch der König winkte nur müde ab. »Der Schwarze hat alles gesagt, was wir wissen müssen«, sagte er. »Er hat uns vor Feinden gewarnt, die unseren Frieden stören wollen. Und ...« Für einen kurzen Moment kam so etwas wie Leben in seine Augen. »Und du kennst auch die Belohnung, die er uns für unsere Dienste versprochen hat.«

Jonaas fiel es wie Schuppen von den Augen. Gradoon war vor ihm hier gewesen und hatte ein ganz klein wenig die Tatsachen verdreht. Plötzlich war er der Böse und der schwarze Lord der Weltenretter.

Die Sache war so ungeheuerlich, das es dem Jungen für kurze Zeit die Sprache verschlug.

»Aber das stimmt nicht«, rechtfertigte sich Jonaas, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. »Der Schwarze hat unser Dorf überfallen, meine Freunde getötet, das Feuer geraubt. Er ...«

Weiter kam er nicht. Der Mann auf dem Thron fiel ihm ins Wort. »Gradoon warnte uns vor deinen dreisten Lügen«, sagte er fest. »Und egal, was du erzählst, wir werden dir keinen Glauben schenken.«

»Aber es ist die Wahrheit«, schrie Jonaas.

»Wachen!« Auf den Ruf des Königs flogen die Türen auf, und die beiden Soldaten, die davor postiert waren, eilten herbei.

»Werft ihn in den Kerker«, entschied der König. »Ich werde mich vielleicht später noch einmal mit ihm beschäftigen.«

Dann sank er wieder auf den Stuhl zurück.

»Wir sollten ihm zuhören«, versuchte das Mädchen, ihren Vater umzustimmen, doch König Fadh versank wieder in tiefer Lethargie. »Müde«, murmelte er nur. »So müde.«

Dann verlor Jonaas den Herrscher aus den Augen, denn starke Hände umklammerten seine Oberarme, und die Soldaten schleiften ihn aus dem Thronsaal.

Sie knufften den Jungen und lachten, während sie ihn durch Gänge und über Treppen schleppten, um ihn schließlich in einen modrig riechenden Raum ohne Fenster zu stoßen.

»Mach‘s gut, Junge«, höhnte Kort. »Auf Nimmerwiedersehen.«

Dann knallte eine stabile Tür ins Schloss, ein Riegel wurde vorgeschoben und ein Schlüssel zweimal herumgedreht.

Und dann war da nichts mehr außer Dunkelheit.

Versagt, dachte Jonaas. Schon wieder versagt.

Und dann ließ er den Tränen freien Lauf ...

Drachensonne

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