Читать книгу Drachensonne - Thomas Strehl - Страница 42
ОглавлениеEr wusste nicht, wie lange er auf dem kalten Boden, gelehnt gegen eine nasse Wand, gesessen hatte.
Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, hier drinnen gab es keine Tage und keine Nächte, nur unendliche Dunkelheit.
Hatte er geschlafen? Er wusste es nicht.
Irgendwo tropfte Wasser von der Decke, und dieser stetige Ton war die einzige Abwechslung in der Stille.
Nicht einmal Ratten hausten hier, außer nacktem Stein gab es nichts.
Nicht einmal Stroh für ein Lager, keine Essensreste, kein Trinkwasser.
Als Jonaas an Essen und Trinken dachte, spürte er seinen Magen knurren, und er sehnte seinen Reisesack herbei, doch die Soldaten hatten ihn ihm ebenso abgenommen, wie die Flöte, die sie für eine Waffe gehalten hatten.
Der Junge suchte die Dunkelheit ab, und seine Augen, die sich an das Schwarz gewöhnt hatten, schafften es in der Tat, Einzelheiten aus der künstlichen Nacht zu reißen.
Doch alles, was sich dem Blick des Jungen preisgab, waren Steinwände und die dicke Holztür. Und leider war die, ganz im Gegensatz zum Rest Kandelars, nicht baufällig und verrottet, sondern machte einen äußerst stabilen Eindruck.
Du wolltest deine kleine Welt retten und wirst stattdessen in einem Kellerloch vermodern, dachte er. Ein toller Held bist du.
Er dachte an sein Dorf, seine Mutter, die er nie wieder sehen würde, aber auch an Talkien und Swon, die er auf seiner Reise überholt hatte.
Vielleicht leben sie noch, schließlich hatte Gwayhier ihm erklärt, das sie sich in guten Händen befanden, und vielleicht waren sie schon auf dem Weg hierher.
Und unter Umständen würde König Fadh einem erwachsenen Jäger mehr Aufmerksamkeit entgegenbringen als einem Jungen.
Ziemlich viele Vielleichts, dachte Jonaas. Doch besser das als gar keine Hoffnung.
Er stand auf, streckte seine müden Knochen und schritt in seinem Gefängnis hin und her.
Plötzlich hörte er ein Geräusch vor der Tür, ein schmaler Schlitz öffnete sich im unteren Bereich der Tür, und ein Holzteller mit Kartoffeln wurde hinein geschoben. Dazu ein Becher mit Wasser.
Also wollte man ihn hier doch nicht einfach so verrecken lassen.
»Vielen Dank auch«, murmelte der Junge.
Er wartete darauf, dass die Klappe geschlossen wurde oder dass ihn die Soldaten erneut verhöhnten, doch nichts dergleichen geschah.
Stattdessen hörte er die Stimme der Prinzessin.
»Bist du da drin?«
»Wo soll ich sonst sein?«, entgegnete Jonaas und biss sich auf die Lippe. Eigentlich freute er sich, die Stimme des Mädchens zu hören, und er wollte sie nicht verärgern.
»Ich kann auch wieder gehen«, sagte die Prinzessin. »Nur wüsste ich dann niemanden mehr, der dir etwas zu essen bringt.«
Jonaas trat näher an die Klappe heran. Licht fiel in sein Verlies und riss ein helles Viereck aus der Dunkelheit.
»Verzeih mir«, sagte er. »Ich wollte dich nicht kränken.«
Der Duft der Kartoffeln stieg in seine Nase, und er zog den Teller zu sich heran und steckte sich eine Knolle in den Mund. Sie war lauwarm und sie schmeckte ausgezeichnet. »Und vielen Dank für das Essen«, sagte er nuschelnd mit vollem Mund.
»Keine Ursache.«
Sekundenlang hörte das Mädchen nur den schmatzenden Geräuschen zu. »Ich heiße Merian«, sagte sie dann.
Jonaas stellte den halbvollen Teller ab. »Ich bin Jonaas«, stellte er sich vor,
»Und woher kommst du?«
Der Junge war überrascht, dass das Mädchen ihm weitere Fragen stellte. Warum interessierte sie sich für ihn, während ihr Vater sein Interesse sehr schnell verloren hatte?
»Ich komme aus dem Talangebirge«, begann er. »Und mein Volk nennt man Sangapao.« Er wollte noch Weiteres hinzufügen, doch die Prinzessin unterbrach ihn. »Dann ist alles wahr«, sagte sie nur.
Jonaas war verwirrt. »Was meinst du?« Er hatte längst die höfliche Ansprache abgelegt, und das Mädchen schien sich nicht daran zu stören.
»Die Geschichten«, erklärte sie. »Kleine, bunte Vögel erzählten sie mir, doch eigentlich kenne ich die Legenden um die Flammenbewahrer schon seit langer Zeit. Seit ...« Sie unterbrach sich.
»Seit wann?«
»Seit meine Mutter mir die alten Geschichten vor dem Einschlafen erzählt hat«, sagte die Prinzessin. »Märchen, Legenden, Sagen, alles, was ihr an Geschichten so einfiel.«
Jonaas fiel auf, das er im Thronsaal keine Königin gesehen hatte.
»Wo ist deine Mutter?« fragte er.
»Tot«, sagte das Mädchen tonlos. »Sie starb vor fünf Jahren, nach einer langen, schweren Krankheit.« Und wie um alles zu entschuldigen: »Seitdem kümmert sich Vater nicht mehr um seine Stadt und ihre Einwohner.« Und unendlich traurig fügte sie hinzu: »Eigentlich kümmert er sich um gar nichts mehr.«
Jonaas spürte deutlich die Verzweiflung in Merians Stimme, doch er wusste nicht, wie er der Prinzessin helfen konnte. »Das tut mit wahnsinnig leid«, sagte er nur.
Sekundenlang schwiegen sie, man hörte nur das tropfende Wasser.
»Ich brauche deine Hilfe«, sagte Jonaas plötzlich. »Ich weiß, dass dein Vater mir nicht glaubt, doch alles, was ich im Thronsaal gesagt habe, entspricht der Wahrheit.
Der schwarze Lord hat mein Dorf überfallen, zwei meiner Freunde getötet und das lebenswichtige Drachenfeuer gestohlen. Alles, was von der heiligen Flamme übrig ist, trägt er als Fackel mit sich, um damit noch größeres Unheil anzurichten.« Er stockte. »Wenn ich den Geschichten, welche die Alten erzählen, Glauben schenke, dann wird Karma´neah bald im Chaos versinken, die schwarzen Lords und die eisigen Horden werden zurückkehren, um die ganze Welt zu unterjochen. Alles wird im Eis versinken und jedes Wesen wird vernichtet.«
Die Prinzessin räusperte sich. »Ich kenne die Geschichten«, sagte sie. »Und mein Vater auch.«
»Und warum wirft er mich dann ins Gefängnis und lässt Gradoon gehen?«
»Weil der Schwarze ihm erzählt hat, das er derjenige ist, der die Drachenflamme bewahrt und das er vor euch auf der Flucht ist.« Sie zögerte wieder, so als wären ihr die nächsten Worte unangenehm. »Außerdem hat er Vater eine Belohnung versprochen, wenn er ihm etwaige Verfolger vom Hals hält.«
»Der Schwarze lügt«, sagte Jonaas aufgebracht. »Wie kann dein Vater ihm Glauben schenken?«
»Mein Vater ist krank«, stellte die Prinzessin mit weicher Stimme fest. »Und Gradoon hat meinen Vater genau dort gepackt, wo er am verletzlichsten ist.«
»Und das wäre?«
»Er hat ihm versprochen, Kandelar wieder zu einer reichen, blühenden Stadt zu machen und außerdem ...« Sie zögerte.
»Und außerdem?«, drängte der Junge.
»Und außerdem will er meinem Vater seine Frau wiedergeben, und genau dafür würde mein Vater alles tun.«
Jonaas verschlug es beinahe die Sprache.
»Aber das ist Unsinn«, sagte er dann. »Du hast gesagt, deine Mutter wäre tot ...«
»Das ist sie auch.« Sie ließ sich außen gegen die Tür sinken. »Und genau deshalb bin ich hier«, sagte sie dann. »Wenn es überhaupt eine Möglichkeit gibt, Tote zurückzuholen, dann nur mit schwarzer Magie.« Die nächsten Worte flüsterte sie. »Und wer sich dieser bedient, kann nichts Gutes im Schilde führen.«
»Genau«, sagte Jonaas. Er spürte, dass er die Prinzessin als Verbündete gewinnen konnte.
»Ich würde so gern meine Mama wiedersehen«, wisperte das Mädchen. Sie schluchzte, und Jonaas wusste, das sie weinte. »Aber der Weg, den Vater geht, ist der falsche. So kann er nicht glücklich werden.«
Der Junge wollte Merian beipflichten, doch plötzlich hörte er vor der Tür seines Gefängnisses Geräusche.
»Da kommt jemand«, flüsterte die Prinzessin. »Vater darf nicht wissen, dass ich hier bin.« Dann entfernten sich ihre Schritte.
Jonaas lauschte. Füße tappten über den Steinboden. Schwerter klirrten, dazwischen hörte er lautes Lachen und leise Flüche.
Eine der Stimmen, die lauteste, gehörte unzweifelhaft Kort, die zweite der Palastwache. Aber da waren deutlich mehr Stimmen zu hören, eine hohe, protestierende Fistelstimme und dann ...
Jonaas‘ Herz setzte einen Schlag aus.
Er kannte dieses Brummen, die missmutigen Laute waren ihm wohl vertraut.
»Talkien«, flüsterte er. Der Jäger war hier, also war ihm in der Einöde nichts geschehen.
Für einen Moment dachte er, dass nun alles gut wurde, doch dann hörte er ein »Rein da mit euch, ihr Lumpen«, dann schlug eine Tür zu, und wieder drehte sich ein Schlüssel im Schloss.
Kehliges Lachen von drei oder vier Männern, Schritte auf Treppenstufen, dann wieder Stille.
Klasse, dachte Jonaas. Der Jäger war hier, die große Hoffnung Sangapaos, und er saß genauso in der Patsche wie er selbst.
Der Junge griff eine Kartoffel, steckte sie in den Mund und überlegte, ob es ratsam war, nach Talkien zu rufen. Sicher konnte es nicht falsch sein, wenn der Jäger von seinem Dasein wusste.
Jonaas ging zur Tür, holte tief Luft und wollte schon den Namen des Jägers brüllen, als er erneut die Stimme der Prinzessin vernahm.
»Es sind weitere Gefangene gebracht worden«, sagte sie.
»Ich habe es gehört«, sagte der Junge. »Freunde von mir.«
»Freunde?«
Jonaas versuchte eine Erklärung. »Ein Jäger, der von unserem Dorf ausgeschickt wurde, um die Flamme nach Hause zu bringen ...«
»Ich denke, du sollst das tun?«, unterbrach ihn Merian.
»Also, ich ...«, stotterte Jonaas. »Weißt du, das ist eine verdammt lange und komplizierte Geschichte.«
»Dann wirst du sie mir bald erzählen müssen«, sagte das Mädchen. »Aber nicht hier und nicht jetzt.«
Und dann klickte ein Schlüssel im Schloss, ein Riegel wurde aufgezogen, und die Türe schwang auf.
Unsicher stand die Prinzessin davor und blinzelte in die Dunkelheit. »Ich hoffe, ich mache nicht gerade einen großen Fehler«, sagte sie. »Aber Mama sagte immer, wenn der Verstand dir nicht weiterhilft, dann höre auf dein Herz. Und mein Herz hat entschieden, dass du die Wahrheit sagst und dass der Schwarze aufgehalten werden muss.«
Jonaas ging langsam auf Merian zu. »Du hast ein kluges Herz«, sagte er, und als die Prinzessin ihn anlächelte, spürte er, dass er rot wurde.
Er stand im Gang des Kerkers und sah sich um. Aus der Zelle hatte sie ihn befreit, doch das bedeutete noch lange nicht, dass er nun einfach so gehen konnte. Schließlich gab es am Ende der Treppe sicherlich noch die Soldaten.
Merian schien seine Gedanken zu lesen. »Ich kenne einen Geheimgang, der von hier unten bis vor die Mauern der Stadt führt«, sagte sie. »Ein alter Gang, der im Falle einer Belagerung benutzt wurde. Man kann Kandelar ungesehen betreten und verlassen, ganz nach Belieben.«
»Verlassen wäre mir jetzt ganz recht«, sagte Jonaas.
»Dann folge mir ...«
Der Junge zögerte. »Meine Freunde«, sagte er dann und wies auf die anderen Kerkertüren. »Wir können sie nicht einfach so hier lassen.«
Für einen Moment spürte man die Unsicherheit in den Bewegungen der Prinzessin. Zu Jonaas schien sie aus irgendeinem ihr völlig unerklärlichen Grund Vertrauen zu haben, doch konnte sie auf ihr Gefühl hin alle Feinde ihres Vaters freilassen?
Nein, das durfte sie nicht, und es war Wahnsinn, allein schon den Jungen freizulassen.
Doch sie konnte ihren Vater nicht in den Händen Gradoons lassen, umgeben von schwarzer Magie. Das durfte erst recht nicht geschehen.
Auf gar keinen Fall.
Und wenn sie den Jungen ansah, der unsicher und wahrscheinlich sogar ein wenig ängstlich vor ihr stand, dann wusste sie, dass er jede Unterstützung im Kampf gegen den Schwarzen brauchte, die er kriegen konnte.
»Gut«, beschloss sie. »Ich lasse auch die Anderen frei. Jedoch nur unter einer Bedingung ...«
Jonaas nickte schnell. Ihm war jede Forderung recht, Hauptsache, er und seine Freunde kamen hier raus.
»Ich zeige euch den Weg aus der Stadt nur, wenn ihr mich mit euch nehmt. Ich will helfen, dass der Schwarze nie wieder nach Kandelar zurückkommen kann.«
Der Junge wusste nicht, wie er reagieren sollte, doch er befand sich nicht in der Lage für Verhandlungen.
Sie war eine Prinzessin, ein zartes Mädchen, und der Weg, den sie einschlugen, würde hart und gefährlich werden.
Doch wieder erriet Merian seine Gedanken. »Ich bin eine ausgebildete Soldatin«, sagte sie. »Und mit dem Schwert sicherlich besser als du.«
Gut, das ist nicht schwer, dachte Jonaas. Schließlich konnte er gar nicht damit umgehen.
»Und dein Vater?«, fragte er.
»Wird wahrscheinlich erst nach einigen Tagen merken, dass ich weg bin. Wenn überhaupt ...« Wieder diese Traurigkeit.
»In Ordnung«, sagte er, und Merian schenkte ihm ein Lächeln.
Sie zog einen Schlüssel aus ihrem weiten Hemd und lief auf die Zellentür zu. Mit geschickten Handgriffen schloss sie auf und öffnete die Tür.
Sekunden später stand der Jäger im Zellengang. Dahinter erschienen zwei weitere Gestalten, die Jonaas nicht kannte. Dafür fehlte von Swon jede Spur.
»Talkien«, sagte Jonaas, und das düstere Gesicht des Jägers hellte sich für einen kurzen Moment auf. Dann jedoch zeigte es tiefe Verwirrung.
»Jonaas. Wie ...?«
»Keine Zeit für Geschichten«, drängte das Mädchen. »Die Wache kann jeden Moment zurückkommen, und dann haben wir den Salat.«
Sie schob Jonaas in den Gang und winkte den anderen Männern zu. »Folgt mir, wenn ihr diesen ungastlichen Ort verlassen wollt.«
Jonaas blickte sich über die Schultern um. Er sah, wie der Kleinste der drei die Schultern zuckte. »Folgen wir ihr«, flüsterte er. »Wo immer es hingeht, es wird besser sein als unser letztes Quartier.«
»Sie bringt uns vor die Stadt«, schaffte Jonaas gerade noch zu sagen, dann musste er sich Mühe geben, dem Mädchen zu folgen, und auch die anderen setzten sich endlich in Bewegung.
Sie liefen schweigend einen Gang entlang, der mal breiter, mal schmaler, mal höher, mal weniger hoch war, mal sauber, aber meist spinnwebverhangen.
Einige Stufen führten in die Höhe, dann ging es wieder bergab, schließlich endete alles in einer Röhre, die steil nach oben führte.
Eine Leiter, Eisensprossen, die in die Wand getrieben waren, führten die Röhre hinauf.
»Ihr kommt oben in einem Brunnen heraus«, erklärte das Mädchen. »Er liegt in der Mitte einer Weide, die früher den Kühen diente, nun aber verlassen ist. Steigt heraus und lauft bis zum Waldrand. Geht einige Schritte hinein und wartet auf der großen Lichtung mit der alten, umgestürzten Eiche. Dort werde ich euch treffen.«
Jonaas runzelte die Stirn. »Ich dachte, du kämst direkt mit uns«, wunderte er sich. »Wo willst du hin?«
Sie lächelte keck. »Prinzessinnen reisen nur ungern zu Fuß«, sagte sie. »Ich werde uns Pferde besorgen, und was man sonst noch auf Reisen braucht. Und vielleicht schaffe ich es sogar, der Wache eure Sachen abzuluchsen.«
Der Junge nickte. Auch wenn er nicht genau wusste, wozu die Geschenke seines Vaters nutze waren, so wäre er doch froh, wenn er sie wieder an seiner Seite hatte. Und nicht zuletzt auch seine Kleider und seine Decke.
»Lass dich nicht erwischen«, sagte er. »Pass auf dich auf und ...« Er wollte noch etwas sagen, doch die Prinzessin drehte sich bereits auf dem Absatz um und verschwand.
»Tolle Freundin hast du da«, sagte der Junge, den Jonaas nicht kannte.
»Sie ist nicht meine Freundin.«
»Egal. Sie zeigt uns die Möglichkeit, hier raus zu kommen, und die sollten wir nutzen.« Talkien griff die erste Sprosse und begann, die Leiter hinaufzuklettern.
Der Kleine folgte ihm dicht auf und auch der Junge im Cape kletterte hinterher.
Jonaas zuckte die Schultern.
Dann ergriff er eine der Sprossen und hangelte sich hinauf. »Alles, was jetzt noch kommt, kann nur besser werden«, hatte der seltsame Alte gesagt.
Warum nur wurde der Junge das Gefühl nicht los, dass er sich da gewaltig irrte.