Читать книгу Drachensonne - Thomas Strehl - Страница 8
ОглавлениеAls Jonaas erwachte, war er gleich doppelt überrascht.
Die erste Überraschung bestand darin, dass er überhaupt noch einmal die Augen aufmachte.
Als er in der Höhle das Bewusstsein verloren hatte, war für Jonaas eigentlich klar gewesen, dass es ein Abschied für immer war.
Nun schlug er die Augen auf, und die zweite Überraschung war seine Umgebung.
Er kannte dieses Zimmer mit Regalen voller Fläschchen und Töpfchen, kannte die verschiedenen Kräuter, die zu Sträußchen gebunden zum Trocknen an der Decke hingen.
Und er kannte das schmale Bett, das ihn bequem liegen ließ.
Es war sein Zimmer, in dem er erwachte.
Er war zu Hause.
Aber wie ...?
Sofort waren die bösen Erinnerungen wieder da.
Die Ereignisse der letzten Stunden. Der geheimnisvolle Mann, seine seltsamen Reittiere, der Verlust des Feuers.
Jonaas zuckte hoch, wollte aus dem Bett springen, doch schon das Aufrichten seines Oberkörpers setzte seine Brust und seinen Kopf in Flammen.
Schmerzen durchzuckten ihn, Schatten tanzten vor seinen Augen, er stöhnte laut auf und ließ sich zurück sinken.
Als er wieder ruhig und bewegungslos dalag, hörte er von nebenan Geräusche.
Plötzlich wurde die Decke, die vor dem Eingang zum Zimmer hing, beiseite geschlagen, und eine kleine dunkelhaarige Frau erschien.
Ihre Haare waren zu einem dicken Zopf geflochten, und ihr schlanker Körper steckte in einem Kleid aus Hirschleder. Ihre Füße waren nackt, und der einzige Schmuck, den sie trug, war ein perlenbesetzter Gürtel und ein goldenes Medaillon, auf dem die Göttin der Wälder abgebildet war. Ein Zeichen, das nur Heilerinnen tragen durften.
»Mutter«, hauchte Jonaas.
Seine Kehle war trocken, seine Stimme rau.
Sofort nahm die Frau einen Krug vom Tisch, füllte ein wenig Wasser in einen tönernen Becher und trat ans Bett.
Sie versuchte ein Lachen, als sie Jonaas half, sich ein wenig aufzusetzen, hielt seinen Kopf, als sie ihm Flüssigkeit einflößte, doch der Junge sah, dass das Lächeln nur aufgesetzt war.
Falten, aus großer Sorge entstanden, und schwarze Ränder, Ausdruck tiefer Müdigkeit, lagen um ihre Augen.
Jonaas trank in kleinen Schlucken, dann bettete ihn seine Mutter zurück auf sein Kissen.
Sekundenlang sprachen sie nicht, sahen sich nur an. Dann brach Jonaas das Schweigen.
»Wie ...« Das Reden fiel ihm immer noch schwer. »Wie komme ich hierher?«
Seine Mutter nahm einen Lappen, nässte ihn und kühlte damit seine Stirn.
»Der Priester und die Männer, die euch am Ende eurer Prüfung abholen wollten, haben euch gefunden«, sagte sie. »Als der Fels nicht mehr vor dem Eingang lag, haben sie sofort gewusst, dass etwas Furchtbares passiert ist. Und ...« Sie zögerte.
»Und sie hatten recht«, vollendete Jonaas.
Seine Mutter sah ihn nicht an, etwas bereitete ihr großen Kummer, und es war nicht nur seine Verletzung.
»Wie lange liege ich schon hier?«, fragte er.
»Seit beinahe einem Tag und einer Nacht«, antwortete seine Mutter.
Jonaas erschrak. Wenn er die Zeit mitrechnete, die er ohnmächtig in der Höhle gelegen hatte, dann war der Überfall eine Ewigkeit her.
»Ich muss die Ältesten sprechen«, sagte er. Er wollte aufstehen, doch seine Mutter drückte ihn vorsichtig aufs Bett zurück.
»Du hast viel Blut verloren«, sagte sie und sah ihn besorgt an. Schon rechnete er damit, dass sie ihm jede Aufregung und jede Unterredung verbieten würde, da nickte sie ihm zu.
»Die Ältesten warten schon auf dein Erwachen«, sagte sie. »Doch du wirst nicht zu ihnen gehen, dazu bist du zu schwach. Ich werde sie holen.« Sie drehte sich um und wollte das Zimmer verlassen.
»Mutter ...« Die Stimme ihres Sohnes hielt sie zurück.
»Tyk und Kalil?« Hoffnung lag in der Frage, eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen konnte.
Seine Mutter schüttelte den Kopf, und Jonaas schluckte.
»Tot«, sagte die Frau. »Und auch bei dir hat nicht viel gefehlt.«
»Dann haben wir versagt«, murmelte Jonaas, doch seine Mutter stellte ihn mit einer Handbewegung ruhig.
»Du lebst«, sagte sie. »Das allein zählt.« Sie drehte sich erneut zur Tür. »Ich hole die Ältesten. Wir müssen unbedingt erfahren, was passiert ist.« Sie musterte ihr Kind. »Vorausgesetzt, du fühlst dich stark genug«, sagte sie, doch Jonaas wusste, dass eigentlich niemand mehr Rücksicht auf ihn nehmen konnte. Die Zeit rannte ihnen davon.
Das Drachenfeuer war erloschen, und obwohl Jonaas die Konsequenzen, die das hatte, noch nicht begriff oder nicht begreifen wollte, wusste er sehr wohl, dass der Verlust der Flamme eine Katastrophe für sein ganzes Volk war und dass alle ein Recht darauf hatten zu erfahren, was geschehen war.
Als seine Mutter verschwunden war, starrte er zur Decke. Die Kräutersträuße verschwanden vor seinen Augen, und ihm war, als würde er noch einmal den Schrecken in der Höhle durchleben.
Er hörte die Schreie seiner tödlich verwundeten Freunde, hörte die spöttische Stimme des Schwarzen.
Dann wurde der Vorhang zu seinem Zimmer geöffnet, seine Mutter erschien in Begleitung dreier Männer und riss ihn zurück in die Wirklichkeit.
Die Männer trugen helle Kutten, die über der Taille von einer bunten Schnur zusammengehalten wurde. Der Älteste von ihnen, ein dicklicher Mann mit welligen langen, grauen Haaren und einem ebensolchen Bart, stellte sich vor das Bett, und Jonaas, die Schmerzen ignorierend, richtete sich endlich auf, um die Besucher besser ansehen zu können.
»Bleibe ruhig liegen«, sagte der Graue, doch Jonaas hörte nicht auf ihn. Er blieb in sitzender Haltung, nur den Kopf ließ er sinken.
»Es tut mir unendlich leid, was passiert ist«, sagte er. »Wir haben dem ganzen Dorf Schande bereitet, Sonka. Wir haben versagt.«
Doch Sonka legte ihm nur die Hand auf die Schulter.
»Versagt haben wir alle, Jonaas«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Wir haben uns von friedlichen Zeiten blenden lassen, haben unsere Wachsamkeit vernachlässigt, haben gedacht, das Böse sei für immer besiegt, obwohl wir es hätten besser wissen müssen.« Er machte eine Pause.
Ein zweiter Mann hinter ihm, mit spiegelnder Glatze und einer großen Hakennase, die an einen Raubvogelschnabel erinnerte, hatte weniger Geduld.
»Wir müssen genau wissen, was passiert ist«, sagte er unwirsch. »Vielleicht ist doch noch etwas zu retten. Aber dafür musst du uns jede Einzelheit erzählen.« Er drängte sich ans Bett. »Schuldzuweisungen bringen uns jetzt nicht weiter.«
Jonaas blickte Sonka an, und der Grauhaarige nickte.
»Tylan hat recht«, stimmte er dem anderen Ältesten zu. »Erzähle uns, was passiert ist, und versuche dich trotz des Chaos‘ in deinem Kopf an alles zu erinnern. Jede Einzelheit kann für uns wichtig sein.«
Auch der dritte Mann, der kleinste, mit einem buschigen rot-grauen Schnauzbart, mischte sich ein.
»Wer hat das Feuer gelöscht?«, fragte er aufgeregt. »Und wie ist es passiert? Und was ist das für eine Bestie, die wir gefunden haben? Und was...«
Sonka unterbrach ihn. »Langsam, Fraam«, sagte er. »Jonaas wird uns alle Fragen beantworten. Aber eine nach der anderen.« Er sah den blonden Jungen an. »Erzähle«, forderte er ihn auf, und Jonaas begann.
Er erzählte von ihrer gemeinsamen letzten Wache, vom plötzlichen Auftauchen der schwarzen Katze und von ihrem beinahe aussichtslosen Kampf. Als er an die Stelle von Tyks Tod kam, wurde seine Stimme leiser, verblasste für einige Sekunden zu einem kaum zu verstehenden Schluchzen, dann hatte er sich wieder in der Gewalt und setzte seinen Bericht fort.
Er blickte in die Augen seiner Zuhörer und stellte fest, dass ihnen mit jedem seiner Worte unbehaglicher zu werden schien. Dann, als er den schwarzen Lord erwähnte, glaubte er sogar, so etwas wie Angst in den Blicken der Alten zu erkennen.
»Wie hat er sich genannt?«, unterbrach ihn Fraam.
»Gradoon«, antwortete Jonaas. »Gradoon, der schwarze Lord.«
Nur leise stieß er den Namen des Mannes aus, der seine Freunde getötet hatte, und doch war es ihm, als wehte ein eisiger Hauch durch das Zimmer, der die Anwesenden schaudern ließ.
Die Ältesten sagten nichts, nur ihren sorgenvollen Mienen entnahm er, dass sie den Namen des Schwarzen schon einmal gehört hatten. Als keiner der Männer mehr nachfragte, setzte Jonaas seinen Bericht fort. Er erzählte von seinem Kampf mit der zweiten Bestie und wie das Tier zu früh von ihm abgelassen hatte. Erst jetzt, als er die Geschehnisse noch einmal Revue passieren ließ, war ihm klar, dass dem Angreifer ein Fehler unterlaufen war. Er glaubte nicht, dass Gradoon ihn absichtlich hatte davonkommen lassen.
Mit dem Bericht über die Explosion, den Sturm und das Erlöschen der Feuersäule, das Entzünden der kleinen Fackel und den Abgang des Schwarzen beschloss er seine Geschichte.
Die Sorgenfalten um die Augen der Ältesten waren verschwunden und hatten nackter Panik Platz gemacht.
»Dann ist alles noch viel schlimmer, als wir angenommen haben«, stammelte Fraam. Und Tylan, der sich Schweiß von der Glatze wischte, flüsterte: »Wir müssen das Dorf informieren. Und zwar sofort.«
Damit stürzten die beiden aus dem Zimmer, und nur Sonka und Jonaas' Mutter blieben am Bett des Jungen zurück.
Der Blonde saß wie ein Häufchen Elend auf seinem Lager und starrte ins Leere. »Dann sind die ganzen Geschichten um das Feuer wahr?«, fragte er. Irgendwie hatte er gehofft, dass alles nur ein Symbol gewesen war. Dass Tyk mit seinen Vermutungen recht hatte und dass alle Geschichten, die sich um die Flamme rankten, nur alte Mythen und Legenden waren.
Doch er brauchte die Antwort des Alten nicht abzuwarten. Die Angst auf seinem Gesicht war Antwort genug.
»Was geschieht nun mit uns, ohne das Feuer?«, fragte Jonaas.
Sonka sah ihn lange und nachdenklich an. »Es heißt, dass die Flamme, so klein und kalt sie auch war, ganz Karma´neah erwärmte. Ohne das Drachenfeuer werden die Temperaturen fallen, und die Welt wird in ewigem Winter versinken. Keine Ernte mehr, nichts zu essen.« Er machte eine weit ausholende Handbewegung. »Wir werden alle sterben«, sagte er. »So heißt es jedenfalls.«
Jonaas‘ Schulter schmerzte, und er versuchte eine bequemere Haltung zu finden. Mühsam drehte er seinen Körper, konnte ein Stöhnen jedoch nicht unterdrücken. »Wann wird es so weit sein?«, fragte er.
Sonka schüttelte den Kopf. »In einer Woche, in einem Monat, erst nach vielen Wintern, ich glaube, diese Frage kann dir niemand beantworten.« Er runzelte die Stirn. »Aber wahrscheinlich ist das nicht einmal unser größtes Problem«, sagte der alte Mann.
Er bemerkte den verwirrten Gesichtsausdruck des Jungen und erklärte ihm seine Gedanken.
»Gradoon hat die Flamme nicht ganz gelöscht«, sagte er. »Wenn er die Welt nur in den Winter stürzen wollte, um den Weg für die eisigen Horden zu ebnen, dann hätte das gereicht. Nein, er hat die Flamme mitgenommen, und das kann nur heißen, dass er seinen Herrn nach Karma´neah zurückbringen will.«
Jonaas erinnerte sich an die Geschichte aus dem großen Krieg, doch bevor er etwas sagen konnte, sprach Sonka weiter. »Er will Paradur aus dem Berg befreien, das steinerne Gefängnis des Magiers schmelzen und mit seiner Hilfe das Werk vollenden, das Galaan und der Drache damals verhinderten. Paradur, die schwarzen Lords und die eisigen Horden werden zurückkommen, um Karma´neah diesmal für immer zu unterjochen.«
Jonaas' Schulter glühte. Das dünne Hemd, das er trug, war nassgeschwitzt, und die Schmerzen ließen bunte Punkte vor seinen Augen tanzen.
»Was können wir tun?,» fragte er leise. »Gibt es überhaupt noch eine Chance?«
Sonkas Angst verschwand. Der alte Mann richtete sich zu seiner vollen Größe auf, und Wut sprach aus seinen nächsten Worten. »Das Gute hat immer eine Chance, mein Junge«, sagte er laut. »Gradoon hat einen ersten Fehler gemacht, als er dich leben ließ. Nun sind wir gewarnt und wissen, was er vorhat. Warum sollte er nicht noch mehr Fehler machen?« Er schritt kraftvoll im Zimmer auf und ab, als wäre die Last des Alters für kurze Zeit von seinen Schultern gefallen.
»Solange es noch die Fackel gibt, können wir das Drachenfeuer neu entzünden«, sagte er. »Also werden wir sie ihm abjagen, bevor er Paradur befreien kann, und die Flamme in die Halle des Lichts zurückbringen.«
Er ging zur Tür, als Stimmen vor der Hütte laut wurden, und verließ nach einem kurzen Abschiedswort das Haus.
Jonaas blickte ihm nach. Dann ließ er sich auf das Bett zurück sinken. Der Verband um seine Schulter zeigte einen roten Fleck, offenbar war die Wunde wieder aufgegangen.
Seine Mutter trat zu ihm und schnitt mit einem Messer das Leinen auf. Dann tupfte sie die Wunde sauber, strich eine Salbe aus einem Tiegel darüber und verband die Verletzung erneut.
Jonaas ließ alles mit sich geschehen. Seine Gedanken kreisten um die Worte Sonkas.
»Wir müssen ihm die Fackel abjagen und das Feuer neu entfachen«, hatte der Alte gesagt.
Als ob das so einfach war. Schließlich hatte der schwarze Lord gewisse Fähigkeiten, und seine Pantherbegleitung war auch nicht ohne. Außerdem hatte er einen nicht unbeträchtlichen Vorsprung.
Und sein Volk stand diesen Ungeheuern beinahe schutzlos gegenüber. Sie waren keine Kämpfer mehr, keine Krieger, sondern ein Haufen Bauern und Handwerker.
Wo waren die Nachfolger all der guten Krieger aus der großen Zeit? War nicht schon in der Legende die Rede vom Letzten der Waraan gewesen?
Sollte das Schicksal Karma´neahs wirklich in ihren Händen liegen?
»Was werden wir nun unternehmen?«, fragte der Junge. Als seine Mutter mit dem Verarzten fertig war, wollte sich Jonaas direkt wieder erheben, doch die dunkelhaarige Frau drückte ihn energisch zurück.
»Ich weiß es nicht, doch der Dorfrat ist zusammengerufen, und ich werde ebenfalls hingehen und dich sofort unterrichten, wenn eine Entscheidung getroffen ist. Bis dahin bleibst du hier und ruhst dich aus.«
Er kannte den Tonfall in ihrer Stimme und wusste, dass sämtliche Widerrede zwecklos war.
Außerdem spürte er eine bleierne Schwere in seinem Körper, und eine Müdigkeit überkam ihn, gegen die er nicht ankämpfen konnte.
Seine Augen klappten zu, und er fiel im selben Moment in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Seine Mutter deckte ihn lächelnd zu und verließ das Haus.