Читать книгу Tod eines Jagdpächters - Thomas Sutter - Страница 9
Der Poet
ОглавлениеEr war schon lange nicht mehr in so einem Waldgebiet gelaufen. Er hatte nicht vor, sich noch einmal richtig in Form zu bringen. Diese Art von Ehrgeiz wäre sinnlos. Es ging nur um dieses herrliche Gefühl der Freiheit beim Laufen, das er lange vermisst hatte. Die frische Luft, fernab von Verkehrsstraßen. Die Ruhe des Waldes und die Erinnerung an den militärischen Drill, der ihm vor langer Zeit so viel gegeben hatte. Außerdem hatte er vor diesem kleinen Lauf die Aufgabe eines Boten erfüllt. Eine Nachricht hinterlassen. Verschlüsselt, aber klar genug, um ein wenig Licht in eine Angelegenheit zu bringen, die ihm seit Langem am Herzen lag. Er grüßte die beiden Männer, von denen er wusste, dass sie Polizisten waren und er war sicher, dass sie seine verschlüsselte Nachricht als richtige Spur deuten würden. Etwas schneller trabte er in die Frische des Waldes.
Außerhalb einer größeren Stadt wie Bonn sind die Menschen in der Regel freundlicher, dachte Beltel mit einem Blick auf den Sportler. Deshalb lebte er auch in Altenahr. Dort waren sogar die großstädtischen Kegelclubtouristen freundlich, besonders, wenn sie besoffen und ausgelassen waren.
Noch wenige Meter vom Auto entfernt, glaubte Beltel an ein Knöllchen. Aber beim Näherkommen sah der Zettel unter der Windschutzscheibe nicht nach etwas Amtlichem aus. Funk hatte ihn zuerst in der Hand. Er entfaltete das Blatt vor den Augen seines Vorgesetzten und las laut:
Der Jäger jagte nicht nur das Tier
Auch Frauen gehörten in sein Revier
Da war ein schönes Mädchen aus Polen
Dem hat er die Unschuld gestohlen
Das arme Mädchen wurde schwanger
Der Jäger wollte nicht an den Pranger
Ivonna Martiniak pflückte Erdbeeren in Loch
Wahrscheinlich tut sie das immer noch
Funk sah Beltel fragend an. »Was für ein Poet hat uns denn dieses Gedicht untergejubelt?«
Beltel war überfragt. Reimen konnte die Person, aber als Poet wollte der Kriminalhauptkommissar sie nicht unbedingt betiteln.
»Da will uns offensichtlich jemand etwas über Nirbach mitteilen.«
»Meinst du wirklich?«
»Es scheint mir, dass wir die Zeilen ernst nehmen sollten.«
Funk nahm ein Tütchen aus dem Handschuhfach und steckte den Zettel dort hinein. »Ja und, was nun?«, wollte er wissen.
»Fahren wir nach Loch. Dort arbeiten polnische, rumänische und Menschen anderer osteuropäischer Nationalitäten als Saisonarbeiter. Fragen wir mal nach einer Ivonna Martiniak. Lassen wir die Kollegen weiter nach Ralf Schmitter suchen. Heute Nachmittag können wir noch mal mit seinen beiden Kumpeln reden, aber du glaubst doch auch nicht, dass der Junge dahintersteckt?« Beltel hatte schon die Wagentür geöffnet und stieg ein.
»Warum ist er dann abgehauen? Das sieht doch sehr nach einem schlechten Gewissen aus. Außerdem war er kein pubertierendes Bürschchen mehr, Manfred. Bei so einer Vergangenheit hat eine ganz andere Entwicklung stattgefunden als bei einem Kind aus normalen Verhältnissen. Wie oft ist es in der letzten Zeit vorgekommen, dass Jungen in seinem Alter dutzendweise Mitschüler und Lehrer abgeballert haben?« Funk war ebenfalls eingestiegen. Vor ihnen ging eine Frau mit einem Dackel an der Leine in Richtung Wald.
Beltel musste wegsehen. »Die Kollegen von der Spurensicherung gehen trotz weniger Anhaltspunkte davon aus, dass der Schuss aus etwa zweihundert Metern abgegeben wurde. Das heißt, der Täter muss mindestens hundert Meter von der Lichtung entfernt und dicht von Bäumen umgeben gewesen sein. Nirbach befand sich zwar auf der Lichtung, aber dennoch, da muss man erst mal einen Standpunkt finden, der einigermaßen freie Sicht und Flugbahn erlaubt. Hat man den, muss man die Konzentration eines Schachweltmeisters beibehalten. Ich habe beim Bund nicht viele Scharfschützen kennengelernt, die so etwas hingekriegt haben. Wir kennen zwar den Gewehrtyp noch nicht, aber es handelt sich in jedem Fall um eine Präzisionswaffe. Da kommt man nicht leicht ran. Also erstens traue ich einem fünfzehnjährigen, an der Waffe unausgebildeten Jungen so einen Schuss nicht zu und zweitens glaube ich auch nicht, dass er sich so ein Gewehr besorgt haben könnte.«
»Okay, Manfred, gehen wir diesem mysteriösen Gedicht nach und fahren nach Loch. Dennoch sollten wir keine Scheuklappen anziehen. Auch wenn ich deine Überlegung nachvollziehen kann, unser Hauptaugenmerk sollte trotzdem auf Ralf Schmitter liegen.«