Читать книгу Der Palast des Poseidon - Thomas Thiemeyer - Страница 11

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Die Tür der Bibliothek stand weit offen. Oskar strich die Haare aus seinem Gesicht und betrat den Raum.

»Na endlich!«, rief der Forscher. »Das hat ja gedauert. Herr Nikomedes, darf ich Ihnen mein Team vorstellen, wie man im Englischen so schön sagt? Das ist meine Begleiterin Eliza Molina, meine Nichte Charlotte und mein Diener Oskar. Nicht zu vergessen natürlich Wilma, die auch schon bei unserer ersten Expedition mit dabei war und uns dort wertvolle Dienste geleistet hat.« In einem Körbchen unter dem Tisch saß ein Kiwi, der sie aufmerksam beobachtete. Humboldt griff in eine Dose mit Kraftfutter und warf ihm einen kleinen Appetithappen zu. Begierig schluckte der Vogel den Leckerbissen herunter.

»Sehr erfreut.« Nikomedes begrüßte sie mit einem warmen Händedruck. »Eine ungewöhnliche Forschergruppe, aber wir leben ja auch in ungewöhnlichen Zeiten.«

»Das kann man wohl sagen«, gab Humboldt zurück.

»Eine beeindruckende Kartensammlung, die Sie da haben«, sagte Nikomedes. »Vor allem Ihre Atlanten sind von ausgezeichneter Qualität. Darf ich?«

»Bitte, bedienen Sie sich.«

Der Reeder zog eines der Bücher heraus, blätterte darin und stellte es vorsichtig wieder zurück an seinen Platz.

»Und Sie sind beide Griechen?«, fragte Humboldt, während er Wilma ein weiteres Häppchen zuwarf.

»Aus Athen. Gestern Abend mit dem Hellas-Express angekommen. Eine lange und beschwerliche Fahrt.«

Humboldt deutete auf zwei Sessel. »Bitte setzen Sie sich doch«, sagte er. »Übrigens ist Ihr Deutsch wirklich ausgezeichnet. «

»Vielen Dank.« Nikomedes wirkte geschmeichelt. »Ich hatte das Privileg, auf einer der besten Schulen Athens unterrichtet zu werden. Mein Lehrer in Fremdsprachen kam aus Deutschland. Aus Hamburg, um genau zu sein.«

»Darf ich fragen, wie Sie auf mich aufmerksam geworden sind?«

»Ihr Ruf ist Ihnen vorausgeeilt. Sie haben ausgezeichnete Referenzen. Ihre Reisen, Ihre Publikationen … in der Presse wurde darüber berichtet, dass Sie Ihre Dienste künftig Privatunternehmen zur Verfügung stellen. Unternehmen, die – sagen wir mal – ungewöhnliche Probleme haben. Als ich das las, dachte ich sofort: Das ist unser Mann.« Er warf seinem Kollegen einen vielsagenden Blick zu.

»Dann hoffe ich, dass Sie Ihre Erwartungen nicht zu hoch schrauben«, sagte Humboldt lächelnd. »Wunder vollbringen wir keine.«

»Und doch ist das genau das, was ich mir von Ihnen erhoffe. Es heißt, Sie seien ein Mann, der das Unmögliche möglich macht.«

Humboldt zuckte die Schultern. »Ich bin erst seit kurzer Zeit in diesem Geschäft. Genau genommen sind Sie mein erster Auftraggeber, nachdem ich dem Universitätsbetrieb den Rücken gekehrt habe. Aber natürlich verfüge ich über eine langjährige Erfahrung im Umgang mit ungewöhnlichen Phänomenen. Sie können also versichert sein, wenn ich mich entschließe, einen Auftrag anzunehmen, widme ich ihm meine volle Aufmerksamkeit.«

»Um ehrlich zu sein: Mir fiel niemand ein, an den ich mich sonst hätte wenden können.« Nikomedes senkte die Stimme. »Die Aufgabe, mit der ich Sie betrauen möchte, unterliegt strengster Geheimhaltung. Nichts, worüber hier gesprochen wird, darf diesen Raum verlassen.«

»Sie können sich auf unsere Diskretion verlassen.«

Nikomedes schwieg einen kurzen Moment. »Was ich Ihnen zu erzählen habe, mag Ihnen seltsam vorkommen, doch ich versichere Ihnen, es ist die volle Wahrheit.«

Humboldt lächelte. »Ich habe schon allerlei seltsame Dinge in meinem Leben gesehen.«

Eliza, die vor wenigen Minuten den Raum verlassen hatte, kam mit einem Tablett voller Erfrischungen zurück. Sie stellte eine Karaffe mit Wasser und Saft sowie einige Gläser aus geschliffenem Kristall auf den Tisch. Daneben platzierte sie etwas Gebäck und einige Teller. »Darf ich den Herren einen Branntwein anbieten oder einen Cognac?«

»Nein, vielen Dank.« Nikomedes schüttelte den Kopf. »Für mich ist es noch etwas früh am Tag. Aber vielleicht mein Begleiter.« Er tauschte ein paar geflüsterte Worte mit dem älteren Mann aus, dann sagte er: »Mein Kapitän hätte gerne einen Branntwein. Seine Nerven sind nicht mehr die besten. Er hat einiges durchgemacht, müssen Sie wissen.«

Während Eliza zur Glasvitrine ging und eine der Karaffen öffnete, warf Oskar dem älteren Griechen einen versteckten Blick zu. Er konnte sehen, wie dessen Hände zitterten. Was mochte dem hartgesottenen Burschen wohl widerfahren sein, dass er derartig mit den Nerven runter war?

»Ich weiß nicht, ob Ihnen mein Name ein Begriff ist«, begann Nikomedes seine Geschichte. »Wir besitzen eine der größten Reedereien Griechenlands. Mein Großvater hat sie aufgebaut. Mein Vater führt derzeit den Vorsitz und ich bin seit zwei Jahren in der Funktion des Juniorchefs tätig. Wir verfügen über fünfzehn Dampfschiffe, wobei zehn pausenlos im Einsatz sind. Unser Einsatzgebiet umfasst hauptsächlich den Peloponnes, das Kretische Meer sowie die Transportroute nach Zypern. Wir sind weniger auf Personenbeförderung als vielmehr auf Frachten spezialisiert. Nahrungsmittel, Holz, Metall, solche Sachen.« Er biss in ein Stück des süßen Blätterteiggebäcks und wischte mit der Serviette über seinen Mund. »Die Route zwischen dem Athener Hafen Piräus und Kreta befindet sich fest in unserer Hand. Leider ist es genau diese Strecke, auf der uns drei Schiffe abhanden gekommen sind. Ein schwerer Schlag für die Reederei.«

»Abhanden gekommen?« Humboldt zog eine Augenbraue hoch. »Eine Geldbörse kann einem abhanden kommen, ein Hut oder ein Stock, aber ein Schiff? Von was für Größenordnungen reden wir hier?«

»Die Kornelia war fünfundvierzig Meter lang und verfügte über rund zweihundert Bruttoregistertonnen«, sagte Nikomedes. »Die Maschine machte bei sechshundert Pferdestärken vierzehn Knoten. Die anderen Schiffe waren sogar noch größer. Ihre Fracht bestand hauptsächlich aus Schienen für eine geplante Eisenbahnstrecke auf Kreta. Unsere Schiffe sind allesamt fahrtüchtig und robust. Selbst ein Sturm, wie wir ihn am Tag des Untergangs hatten, könnte ihnen nichts anhaben.« Er nahm einen Schluck aus dem Wasserglas. »Kapitän Vogiatzis befehligte die Kornelia am Tag ihres Untergangs. Er entkam der Katastrophe nur mit knapper Not. Der Rest der Besatzung versank in den Fluten. Er sagt, ein Seeungeheuer habe ihn angegriffen, eine Behauptung, der weder mein Vater noch mein Großvater Glauben schenken. Sie beschuldigen ihn stattdessen, zu viel getrunken und das Schiff gegen die Klippen gesteuert zu haben.« Er warf seinem Kapitän einen mitfühlenden Blick zu. »Ich kenne Dimitrios Vogiatzis, seit ich ein kleiner Junge war. Er hat mich oft auf seinen Fahrten mitgenommen. Er würde mich niemals anlügen.«

Humboldt blickte nachdenklich zwischen den beiden Männern hin und her, dann stand er auf und ging zum Kartenregal. »Ehe wir uns mit Ungeheuern beschäftigen, wüsste ich gerne, wo das Unglück stattgefunden hat.« Er zog eine aufgerollte Karte aus einem der Fächer, kam zu ihnen zurück und löste die Lederverschlüsse. »Hier haben wir das komplette Kretische Meer bis runter nach Kreta.« Er breitete das Blatt auf dem Tisch aus und strich über den lackierten Druck. Das Papier war an manchen Stellen fadenscheinig und von feinen Rissen durchzogen. Oskar musste sich vorbeugen, um all die kleinen Inseln zu erkennen, die auf dem Meer verstreut lagen. Es sah aus, als habe jemand mit einer Schrotflinte auf ein Blatt Papier geschossen.

»Was für ein Gewimmel!«, staunte er. »Da muss man sich aber gut auskennen, um dort hindurchzufinden.«

»Das sind die Kykladen«, erklärte Nikomedes. »Diese Route wird in der Tat nur von erfahrenen Kapitänen befahren. Überall sind Klippen und Felsen. Manche davon sind mit bloßem Auge kaum zu erkennen.«

»Ist das nicht ziemlich gefährlich, dort hindurchzufahren?«

»Für jemanden, der die Gewässer nicht kennt, ist es lebensgefährlich. Die Ausbildung dauert dementsprechend lange. Wenn man die Gegend kennt, ist es kein Problem mehr. Dann kann man sich an den vielen Inseln orientieren wie an Positionsbojen. Jede von ihnen ist anders geformt. Eine fabelhafte Navigationshilfe.«

»Es sei denn, man fährt bei Nacht.« Humboldt warf dem Reeder einen bedeutungsvollen Blick zu.

Nikomedes nickte. »Normalerweise ist das streng verboten. Doch unsere schwierige Auftragslage hat es nötig gemacht, auch nachts zu navigieren. Wir überlassen diese Aufgabe unseren erfahrensten Kapitänen. Die meisten Inseln verfügen über Leuchtfeuer, die weithin sichtbar sind. Aber Sie haben natürlich recht, es ist riskant.«

»Wo genau hat sich das Unglück denn nun abgespielt?«

Nikomedes winkte seinem Kapitän zu. Der Mann erhob sich schwerfällig und schlurfte zu ihnen herüber. Oskar konnte sehen, dass er Schwierigkeiten beim Gehen hatte. Ob als Folge des Unglücks oder weil er einfach alt war, konnte er nicht erkennen. Der Kapitän überflog die Karte, dann tippte er auf eine Insel im Süden.

Humboldt hob den Kopf. »Santorin?«

Der Mann nickte. Er fügte noch ein paar Sätze hinzu, doch Oskar verstand nur Bahnhof. Humboldt schien es ähnlich zu gehen. An Charlotte gewandt, sagte er: »Wärst du so gut, uns das Linguaphon zu holen? Du weißt ja, wo du es findest.«

»In der Vitrine im Keller. Klar, ich hole es. Bin gleich wieder da.« Mit diesen Worten eilte sie davon.

»Linguaphon?« Nikomedes sah den Forscher verwirrt an.

»Mit Ihrer Erlaubnis würde ich gerne das leidige Sprachproblem lösen«, sagte Humboldt. »Mein Griechisch ist leider nicht gut genug, aber es gibt Dinge, die ich gern persönlich aus dem Mund Ihres Mannes hören würde. Ich besitze einen kleinen Apparat, der die Übersetzung für uns erledigt. Wenn Sie einen Moment Geduld haben, meine Nichte holt ihn gerade.«

Während Eliza dem Kapitän noch ein Glas Branntwein einschenkte, deutete Oskar auf die Karte. »Die Insel hat eine seltsame Form«, sagte er, während er mit dem Finger an der Küstenlinie entlangfuhr. »Die zwei Inseln sehen aus, als hätten sie ursprünglich zusammengehört.«

»Das stimmt«, erwiderte Nikomedes. »Santorin war ursprünglich eine einzige große Insel. Bei einem Vulkanausbruch um das Jahr 1600 vor Christus wurde sie buchstäblich in der Mitte auseinandergerissen. Es wird spekuliert, dass die Explosion eine Flutwelle ausgelöst hat, die im ganzen Mittelmeerraum spürbar war und im Norden Kretas für verheerende Verwüstungen gesorgt hat. Der Überlieferung zufolge soll sie der Grund für den Untergang der minoischen Kultur gewesen sein.«

Oskar wurde hellhörig. »Minoische Kultur? Hat das etwas mit dem Palast des Minos zu tun?«

»Ah, ein Freund alter Sagen.« Nikomedes lächelte. »Ganz recht, den Palast gab es wirklich. Eine prächtige Anlage von beeindruckenden Ausmaßen. Die Grundmauern sind heute noch erhalten.«

»Und das Labyrinth? Theseus und der Faden der Ariadne? Der Minotaurus? Hat es den auch gegeben?«

Nikomedes lächelte. »Ob es ein Wesen halb Mensch, halb Stier tatsächlich gegeben hat, wage ich zu bezweifeln, aber das Labyrinth ist Realität. Es liegt rund 30 Kilometer südwestlich des Palastes in den Bergen, nahe der Stadt Gortyn. Ein Höhlensystem, dessen zweieinhalb Kilometer lange, geschwungene Gänge in unregelmäßigen Winkeln aufeinanderstoßen und vielerorts in Sackgassen enden. Es ist stockdunkel darin und so unübersichtlich, dass man sich sehr leicht verirren kann.«

Oskar ließ sich zurücksinken. Er hatte das alles immer als Märchen abgetan.

»Woher weißt du denn von König Minos?« Humboldt warf ihm einen skeptischen Seitenblick zu.

»Die Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab«, murmelte Oskar. »Ich habe es in Ihrer Bibliothek gefunden. Das einzige Buch, in dem auch mal gekämpft wird. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, dass ich es mir ausgeliehen habe.«

Humboldt klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Wenn das der Weg ist, dir ein wenig klassische Bildung angedeihen zu lassen, soll es mir recht sein. Lies es ruhig weiter. Aber bitte geh sorgsam damit um, es ist eine Erstausgabe.«

»Versprochen.« Oskar senkte schuldbewusst den Kopf.

In diesem Augenblick kam Charlotte zurück. In ihren Händen hielt sie einen kleinen mechanischen Kasten, an dessen Vorderseite ein Sprachrohr und eine Vielzahl leuchtender Knöpfe angebracht war. Das Linguaphon.

Humboldt nahm ihr den Kasten ab und forderte den Kapitän auf, die Lederschlaufe um seinen Hals zu hängen. Er steckte zwei Knöpfe in die Ohren des Mannes und brachte seinen Mund an das Sprachrohr. Vogiatzis hob besorgt die Augenbrauen, doch nachdem Nikomedes ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte, beruhigte er sich. Humboldt prüfte den Sitz des Gerätes, dann schaltete er es ein. Ein leises Pfeifen erklang. Der Kapitän zuckte zusammen. »Nur keine Sorge«, sagte Humboldt. »Ich muss den Apparat nur schnell kalibrieren. Wären Sie so freundlich, kurz von eins bis zehn zu zählen?«

»Èna, dhio, tria …«

Humboldt blickte auf die schmale Leuchtanzeige, dann nickte er. »Perfekt«, sagte er. »Jetzt müssten Sie mich eigentlich verstehen.«

Die Augenbrauen des Kapitäns schnellten in die Höhe.

»Das ist … unglaublich«, kam die Stimme des Seemanns aus dem Lautsprecher. »Ich verstehe Sie. Es ist, als wären Sie direkt in meinem Kopf. Stavros, das musst du dir anhören!« Er zog die Ohrhörer heraus und reichte sie dem jüngeren Mann.

Oskar musste lächeln. Er konnte sich noch gut erinnern, als er das Gerät zum ersten Mal im Einsatz gesehen hatte. Damals war es ihm wie Zauberei vorgekommen.

»Unglaublich«, sagte Nikomedes, nachdem er den Worten seines Kapitäns gelauscht hatte. »Dieses Gerät schlägt Edisons Phonographen um Längen. Warum haben Sie es nicht auf der Weltausstellung in Chicago vorgestellt? Sie hätten sicher die höchste Auszeichnung erhalten.«

Humboldt winkte ab. »Aus Auszeichnungen mache ich mir nichts. Wenn das Gerät seinen Dienst verrichtet, bin ich schon zufrieden. Aber jetzt zurück zu Ihrer Geschichte. Berichten Sie mir in allen Einzelheiten von der Nacht des Unglücks.«

Der Palast des Poseidon

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