Читать книгу Der Palast des Poseidon - Thomas Thiemeyer - Страница 8
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Berlin, 10. Juni 1893 …
Kurz hinter dem Magdalenenstift begann es zu regnen. Zuerst nur einzelne Tropfen, dann immer heftiger. Als Oskar das Alexanderufer erreichte, schüttete es wie aus Kübeln. Er zog die Mütze ins Gesicht und rannte zwischen den immer größer werdenden Pfützen in Richtung Karlstraße. Von dort fuhr er eine kurze Strecke mit der Straßenbahn, lief noch ein Stück zu Fuß und war wieder in seinem alten Revier. Hier war er früher auf Beutezug gegangen, hatte Taschen leer geraubt und Leute um ihre Wertsachen erleichtert.
Eigenartig, seine alte Gegend wiederzusehen. Dabei war es erst zwei Monate her, dass er in die Dienste des Forschers Carl Friedrich von Humboldt getreten war. Eine abenteuerliche Reise nach Peru lag hinter ihm. Eine Reise, die so unvorstellbar gewesen war, dass sie ihm, im Nachhinein betrachtet, wie ein Traum vorkam. Doch jetzt hatte er wieder vertrauten Boden unter den Füßen. Er konnte es kaum erwarten, seinen Freunden zu erzählen, was er erlebt hatte.
Die Menschen huschten wie graue Schatten von Hauseingang zu Hauseingang, wichen Pferdeäpfeln aus und zogen die Köpfe ein. Bei diesem Wetter mochte man wirklich keinen Hund vor die Tür jagen. Oskar beeilte sich, ins Trockene zu kommen. Eine Ausgabe der Berliner Morgenpost unter den Arm geklemmt, rannte er weiter.
Es dauerte nicht lange, da erblickte er das vertraute Schild seiner Stammkneipe. Es war Freitagabend und die Gasthäuser waren brechend voll. Der Holzfäller bildete da keine Ausnahme. Gelächter und Musik drangen auf die Straße. Durch die Bleiglasfenster fiel anheimelndes Licht. Oskar nahm die Mütze vom Kopf und strich durch seine schwarzen strubbeligen Haare, öffnete die Tür und trat ein.
Lärm und Gestank schlugen ihm entgegen. Die Luft war geschwängert vom Geruch nach Tabak und Fettgebratenem. Säuerliche Bierschwaden umwehten seine Nase und vermischten sich mit dem Geruch nach Schweiß und Erbrochenem. Ja, das war der Holzfäller, so wie er ihn in Erinnerung hatte. So vertraut und dennoch so weit weg. Fast wie aus einem anderen Leben.
»Wen haben wir denn da?«, hörte er eine Stimme von links. »Ick glob, mich trifft der Schlag. Det is’ ja unser Oskar.«
»Grüß dich, Kurt.«
Der Alte war einer der Stammkunden des Holzfällers. Einer, den man Tag und Nacht hier antreffen konnte. Kurts breites Grinsen entblößte einige schwarze Zähne. Wie immer hockte er über seinem Bockbier, einem dunklen Gesöff, das gleichzeitig seinen Durst und seinen Hunger zu stillen schien. Oskar hatte ihn jedenfalls noch nie etwas essen sehen.
»Na, wieder zurück von den Toten?«
»Wieso tot?«, fragte Oskar. »Mir geht’s bestens.«
»Da hab ick aber was anderes jehört.«
Oskar winkte ab und quetschte sich durch die Menschenmenge. Sein Ziel war der hintere Teil der Wirtschaft. Ein kleiner Ecktisch, der seit jeher Treffpunkt seiner Bande war.
Er war noch nicht weit gekommen, als er auf den Schwarzen Fährmann stieß, einen ungehobelten, knapp zwei Meter großen Kerl, der so hieß, weil er früher mal auf einem Lastkahn gearbeitet hatte. Der Fährmann drehte sich um. Seine Augen verengten sich. »Du?«
»Ja, ich«, gab Oskar zurück.
»Das is’ ja ’ne Überraschung.«
»Finde ich auch. Von den Toten zurück und so weiter. Darf ich mal …?«
»Weiß Behringer, dass du wieder im Lande bist?«
»Keine Ahnung. Muss ich mich neuerdings bei jedem zurückmelden?« Er schob sich mit Gewalt an der Bohnenstange vorbei und gelangte endlich dahin, wo er hinwollte.
Zumindest einer von seiner Bande war anwesend. Ein junger Bursche mit zerzausten Haaren und abstehenden Ohren. Ein Grinsen erschien auf Oskars Gesicht. »Maus!«
Der Junge hob seinen Blick vom Glas. Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Oskar?«
»Wie er leibt und lebt.«
Maus sah aus, als habe er ein Gespenst gesehen. »Mensch, wenn das mal keine Überraschung ist! Du lebst ja!« Er stand auf und fiel Oskar um den Hals. Er drückte ihn, dass ihm die Luft wegblieb.
»Jetzt mach mal halblang, Kumpel«, sagte Oskar. »Wieso tut denn hier jeder so, als wär ich gestorben?«
»Weil es genau das ist, was jeder gedacht hat«, erwiderte Maus. »Wo warst du nur so lange?«
»Erzähl ich dir gleich. Was ist mit den anderen? Ist heute nicht Bandentreffen?«
»Normalerweise schon«, grinste Maus, »aber das schlechte Wetter treibt sie in ihre Löcher. Doch das werde ich ändern, verlass dich drauf. Ich mach mich mal kurz vom Acker und trommele alle zusammen. Du wartest hier, in Ordnung?«
»Klar, mach ich.«
»Rühr dich nicht vom Fleck, ich bin gleich wieder da!«
Während Maus durch die Menschenmenge in Richtung Ausgang eilte, rief er zum Wirt hinüber: »He Paul, schau mal, wer wieder da ist!« Der Wirt, ein glatzköpfiger Mann mit einem Bauch, der so gewaltig war, dass seine Lederschürze darüberspannte, hob erfreut die Hand. »Schön, dich wiederzusehen, Oskar. Wenn einer so lange weg war, hat er bestimmt Durst, oder?«
»Worauf du einen lassen kannst.«
»Wie immer?«
»Wie immer, Paul.«
Eine halbe Stunde später sah sich Oskar umringt von seinen alten Weggefährten. Willi, Bert, Maus und natürlich Lena, die ihn mit großen Augen anhimmelte. Alle hingen sie an seinen Lippen, während er die Geschichte ihrer Reise in allen Details schilderte.
»Zwei Monate«, sagte Willi kopfschüttelnd. »Du hättest wenigstens mal ’ne Nachricht schicken können. Wir haben uns Sorgen gemacht. Wo hast du nur gesteckt?«
Statt einer Antwort schob Oskar die Zeitung über den Tisch. Er wusste, dass er etwas brauchte, um seine Geschichte beweisen zu können, denn was er an der Seite des Forschers erlebt hatte, klang eher wie eine Räuberpistole als wie ein Tatsachenbericht. Das Mädchen schnappte sich die Zeitung und schlug sie auf.
»Seite drei«, sagte Oskar. »Und schön laut, damit die anderen auch etwas mitbekommen.«
Lena Polischinski war vielleicht dreizehn Jahre, so genau wusste sie es selbst nicht, aber abgesehen von Oskar war sie die Einzige, die lesen und schreiben konnte. Sie hatte lange rotbraune Haare und einen Mund, der immer zu lächeln schien. Sie war klein und wendig wie ein Wiesel und verstand es wie keine andere, sich lautlos anzuschleichen. Lena war der Neuzugang in ihrer Bande und seit etwa einem halben Jahr mit dabei.
»Mysteriöser Forscher aus Peru zurückgekehrt«, las sie, den Finger auf dem Papier. »Vortrag an der Universität endet im Eklat.«
»Was is ’n Eklat?«, erkundigte sich Willi.
»Ist französisch«, erwiderte Oskar. »Es heißt Krach oder Aufruhr. Komm, lies weiter!«
»Beim Vortrag des Forschers Carl Friedrich von Humboldt brach ein heftiger Tumult aus, nachdem einige hochrangige Vertreter der Universität die Behauptungen des Reisenden und seiner drei Begleiter anzweifelten und ihn der Universität verwiesen«, las Lena. »Trotz berechtigter Zweifel wirkten die Skizzen und Modelle flugfähiger Maschinen, die Humboldt auf seiner Reise entdeckt hat, so authentisch, dass sogar hochrangige Konstrukteure – unter ihnen Ferdinand Graf von Zeppelin – den Forscher in Schutz nahmen: ›Ich zweifele keine Sekunde daran, dass Humboldt tatsächlich ein geheimnisvolles Volk in Peru entdeckt hat und dass die Erfindungen, von denen er berichtete, funktionieren. Ich selbst habe für eine dieser Konstruktionen die Patentrechte erworben und werde sie bald in Produktion geben.‹ Humboldt selbst äußerte sich vor der Presse dahingehend, dass er dem Universitätsbetrieb den Rücken kehren und sich in die freie Wirtschaft begeben werde. ›Ein neues Zeitalter sei angebrochen‹, sagte er. ›Ein Zeitalter der Taten statt der Worte. Deutschland müsse sich vorsehen, wenn es gegenüber Nationen wie Großbritannien, Frankreich oder den Vereinigten Staaten nicht ins Hintertreffen geraten wolle‹, so der Forscher.« Lena hob den Kopf. »Wieso hat dieser Humboldt dich eigentlich aufgenommen?«
»Vermutlich, weil ich der Beste in meinem Fach bin.« Oskar lehnte sich zurück. »Eigentlich heißt er gar nicht Humboldt. Sein richtiger Name ist Donhauser. Er behauptet, der uneheliche Sohn des großen Naturforschers Alexander von Humboldt zu sein, aber ich glaube, es ist mehr so ein Künstlername. Ich mache Besorgungen für ihn, berate ihn und helfe ihm in der Werkstatt. Seine rechte Hand, wenn ihr so wollt. Er wüsste gar nicht, was er ohne mich täte.« Das war natürlich etwas übertrieben. Genau genommen war er nur ein einfacher Dienstbote, aber das musste er seinen Kumpels ja nicht unbedingt auf die Nase binden.
»Und warum gerade du?«, hakte Lena nach.
Oskar zuckte die Schultern. »Wenn ich das wüsste. Ich hab ihn bestohlen und er fand, dass ich meine Sache wohl recht gut gemacht habe. Ich werde aber irgendwie den Verdacht nicht los, dass noch mehr dahinterstecken könnte.«
»Zum Bespiel?«
Oskar zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Immer wenn ich das Gespräch darauf lenke, grinst er so komisch und gibt ausweichende Antworten. Aber egal. Wer stellt schon Fragen, wenn er zu einer Weltreise eingeladen wird?«
»Mensch, kiek mal!«, rief Bert und tippte mit seinen dicken Wurstfingern aufs Papier. »Auf dem Bild is’ ja unser Oskar!«
Rechts neben dem Artikel war ein Foto zu sehen, auf dem die vier Abenteurer abgelichtet waren. Humboldt, ganz in Schwarz gekleidet, mit Zylinder und Spazierstock, Eliza, die Haushälterin, mit ihrer dunklen Haut und ihrem bunt bestickten Wickelkleid, Charlotte, seine Nichte, mit ihren langen blonden Haaren und einem zarten hellblauen Kleid und natürlich Oskar, der aussah wie immer: Tweedjacke, Lederschuhe und Filzmütze.
»Mann, Mann, du wirst noch ’ne richtige Berühmtheit«, sagte Maus. »So ’n richtig feiner Pinkel. Wer weiß, ob du uns in ein paar Jahren überhaupt noch kennst.«
»Natürlich werde ich euch noch kennen«, lachte Oskar. »Darauf gebe ich euch mein Wort. Und jetzt lasst uns was trinken. Die Runde geht auf mich.«
Nachdem er für alle bestellt hatte, verschränkte Oskar die Arme hinter dem Kopf und begann, von seiner Reise nach Peru zu erzählen. Er war der Mittelpunkt des Abends und er genoss jeden Augenblick. Einen großen Humpen mit Apfelmost und eine Schale Brotscheiben vor sich stehend, dauerte es eine ganze Weile, bis er zum Ende gekommen war. Am Schluss blickten ihn alle aus großen Augen an.
Willi war der Erste, der seine Stimme wiederfand. »Verrückte Geschichte«, sagte er. »Nachfahren der Inka, die in einer Felswand leben und Krieg gegen Rieseninsekten führen. Hätte ich den Bericht nicht gesehen, ich hätte geglaubt, du wolltest uns verkohlen.«
»Trotzdem hättest du mal ’ne Karte schreiben können!«, maulte Lena. »Dass du dich nich’ gemeldet hast, war echt kein feiner Zug von dir.« Sie zog einen Schmollmund.
»Ich weiß«, gab Oskar zu. »Hätte ich gewusst, dass ihr euch so viel Sorgen macht, hätte ich vor meiner Abreise noch eine Nachricht losgeschickt. Aber es ging alles so schnell. Ich konnte es ja selbst kaum glauben. Aber jetzt bin ich wieder da und es wird nicht wieder vorkommen, versprochen.«
»Klingt wie das verdammte Paradies.« Willis Blick war voller Bewunderung. »Wenn du mal keine Lust mehr hast, bei der Type zu arbeiten, sag Bescheid, dann werde ich mich bewerben.«
»Keine Chance«, sagte Oskar. »So wie du riechst, würdest du es nicht mal durch die Haustür schaffen.«
»Und wenn ich vorher bade?«
»Den Gestank bekommt man nicht mal mit Kernseife weg. Der ist schon wie eine zweite Haut.«
Gelächter brandete auf. Willi kannte Oskars derben Humor und war ihm nicht böse deswegen.
»Diese Charlotte ist ziemlich hübsch, finde ich.« Lena blickte ihn aus haselnussfarbenen Augen aufmerksam an.
»Findest du?«
»Du etwa nicht?«
»Na ja, schon …« Oskar zögerte. Wie immer, wenn er an die Nichte des Forschers dachte, begann sein Herz zu klopfen. Charlotte war nicht unbedingt eine Schönheit, aber es war etwas an ihr, das ihn unwiderstehlich anzog.
»Sie kann allerdings auch ziemlich anstrengend sein«, sagte er. »Muss immer bei allem das letzte Wort haben. Tagaus, tagein liest sie nichts anderes als Fachbücher, genau wie ihr Onkel. Nicht unbedingt jemand, mit dem man sich über Abenteuergeschichten unterhalten könnte, wenn ihr wisst, was ich meine. Nicht so, wie mit euch.«
»Und diese Eliza?«, fragte Bert. »Was ist das für eine? Sieht irgendwie komisch aus. Diese dunkle Haut …«
»He, kein falsches Wort über Eliza!«, rief Oskar. »Die ist schwer in Ordnung. Eine haitianische Zauberin, die dich mit einem Fingerschnippen in eine Kröte verwandeln könnte. Also sei lieber vorsichtig, was du sagst.« Er blickte finster in die Runde. Dann verzog er das Gesicht zu einem Grinsen. »Buh!«
Die anderen lachten erleichtert auf. Wenn es um schwarze Magie ging, waren sie alle recht abergläubisch.
Oskar hob die Hand und bestellte eine neue Runde. Er hatte von Humboldt ein paar Mark bekommen und beschloss, den Abend so richtig zu genießen.
Plötzlich sah er aus dem Augenwinkel, wie die Menge sich teilte und eine Gruppe von Leuten auf sie zukam. Allen voran der Schwarze Fährmann. Hohnlächelnd trat er näher. Hinter ihm erschien jemand, auf dessen Anblick Oskar heute Abend gerne verzichtet hätte. Es war zu erwarten gewesen, dass er noch aufkreuzen würde, er hätte nur nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde.