Читать книгу Der Palast des Poseidon - Thomas Thiemeyer - Страница 6
ОглавлениеProlog
19. Mai 1893 …
Das Dampfschiff Kornelia stampfte und rollte durch die aufgewühlte See. Turmhohe Wellen schlugen gegen die Flanken und ließen den Schiffsrumpf dröhnen wie eine gusseiserne Glocke. Der Wind brauste und stürmte. Einzelne Böen peitschten das Wasser zu weißer Gischt empor. Donner grollte über den Himmel und brach sich an den Wellen. Vereinzelt zuckten Blitze auf, die die Wolken von innen heraus zum Glühen brachten.
Kapitän Vogiatzis starrte in die sturmumtoste Nacht. Falls seine Berechnungen stimmten – und er irrte sich selten – musste irgendwo vor ihnen die Inselgruppe Santorin liegen. Zwischen ihren beiden Hauptinseln Thera und Therasia führte eine Meeresströmung hindurch, die schon so manchem Kapitän zum Verhängnis geworden war. Mochten die schroffen, steil abfallenden Klippen bei Tag auch ein prachtvoller Anblick sein, in der Nacht stellten sie eine ernste Bedrohung dar.
Dimitrios Vogiatzis war ein erfahrener Schiffsführer. Seine grauen Haare und sein heller Bart hatten ihm unter Kollegen den Spitznamen Eisbär eingebracht. Er war bekannt dafür, auch in kritischen Momenten stets einen kühlen Kopf zu bewahren, doch dieser Sturm stellte seine sprichwörtliche Ruhe auf eine harte Probe.
Mit angespannter Erwartung ließ er die Perlen seines Rosenkranzes durch die Finger gleiten. Ruhig, ermahnte er sich, nur nicht die Nerven verlieren. Solange die Ladung nicht verrutschte, konnte nichts passieren. Die fünfzig Tonnen Eisenbahnschienen, die er für die geplante Strecke zwischen Heraklion und Chania nach Kreta transportierte, lagen gut verzurrt unter Deck. Die Kornelia schob sich satt durch das Wasser. Keine Spur von Schlagseite. Trotzdem, er durfte nichts dem Zufall überlassen. Er hatte den Steuermannsmaat noch einmal nach unten geschickt, um nach dem Rechten zu sehen. Sicher war sicher. Er sollte bei der Gelegenheit gleich noch mal die Pumpen kontrollieren und nachsehen, ob die Dampfmaschine problemlos arbeitete.
Wieder zuckte ein Blitz auf. Gerade eben stieg ein Brecher über die Reling, landete mit einem Krachen auf dem Oberdeck und spritzte Gischt gegen die Scheiben. Weiße Schlieren zogen über das Glas und trübten die ohnehin schon schlechte Sicht.
Wo war nur der verdammte Leuchtturm? Eigentlich hätte er längst zu sehen sein müssen.
Er hätte doch auf seine innere Stimme hören und diesen Auftrag ablehnen sollen. Bereits am Morgen waren fern im Westen dichte Wolken zu sehen gewesen, die unaufhaltsam näher gerückt waren. Die Luft war eigenartig schwül gewesen. Als dann das Gewitter ausbrach, war er schon längst auf hoher See gewesen. Klar, das Geld war nicht zu verachten. Stavros Nikomedes, sein Reeder, hatte ihm die doppelte Heuer geboten. Seit dem Ausfall dreier Schiffe in den letzten Monaten war die Lage in der Reederei kritisch geworden. Frachten mussten geliefert und Termine eingehalten werden und Vogiatzis war einer der wenigen, die den Mut hatten, bei einem solchen Wetter rauszufahren. Aber was nutzte einem das Geld, wenn man tot war?
Eben sah er seinen Gehilfen wieder auftauchen. Der Steuermannsmaat versuchte die Luke zum Frachtraum zu schließen, doch der Wind drückte sie immer wieder auf. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm endlich. Er legte den Riegel vor und taumelte zurück. In gebeugter Haltung, die Hände auf der Reling, arbeitete er sich Meter um Meter über das sturmgepeitschte Deck. Gerade eben hatte er die Stufen zur Brücke erreicht, als Vogiatzis in weiter Ferne ein Licht aufschimmern sah.
Der Leuchtturm. Endlich!
Etwas weiter links als vermutet, aber immerhin. Der Kurs stimmte. Und das Gute war, sie hatten noch genügend Abstand zur Meerenge. Es bestand keine Gefahr, hineingezogen zu werden. Vogiatzis fühlte sich erleichtert. Wenn sie erst an Santorin vorbei waren, gab es bis Kreta nur noch offenes Meer. Keine Klippen, keine Inseln, keine Gefahren. Er hauchte einen kurzen Kuss auf den Rosenkranz. Seine Gebete waren doch erhört worden.
Er drehte das Ruder auf steuerbord und lenkte die Kornelia in einem weiten Bogen um Therasia herum. In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen und der tropfnasse Junge stolperte herein.
»Tür zu!«, rief Vogiatzis. »Du ruinierst mir noch die Instrumente.«
Der Steuermannsmaat beeilte sich, dem Befehl nachzukommen und drückte die Tür ins Schloss. Tropfnass erstattete er Bericht. »Alles in Ordnung«, keuchte er. »Maschine okay, Ladung okay, Pumpen okay. Habe alles bis runter zum Kabelgatt geprüft. Keine Probleme so weit.«
»Gut«, sagte Vogiatzis. »Sehr gut. Wie geht es den Raben?«
Raben, das war die Bezeichnung für die vier Heizer, die tagein, tagaus unter Deck standen und Kohle in den feurigen Rachen der Dampfmaschine schaufelten.
Der Gehilfe grinste. »Gut. Sie stehen zwar bis zu den Knien in Erbrochenem, aber ansonsten ist alles in Ordnung. Ich habe ihnen gesagt, dass wir volle Leistung brauchen, wenn wir heil durch den Sturm kommen wollen.«
Vogiatzis lachte und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. Der Junge würde mal ein guter Seemann werden. Irgendwann, wenn er selbst zu alt für diesen Beruf war, konnte er ihm getrost das Ruder überlassen. Bis dahin würde er ihm alles beibringen, was er über die Seefahrt wusste.
Er überlegte, ob es wohl verfrüht wäre, ein Pfeifchen anzuzünden, als seine Aufmerksamkeit von etwas angezogen wurde, was ihn irritiert innehalten ließ.
»Beim Klabautermann«, fluchte er. »Was ist denn das?«
»Irgendetwas nicht in Ordnung?«
»Das Licht da vorne.« Vogiatzis deutete nach draußen. »Der Leuchtturm war doch vorhin auf der anderen Seite.«
Skeptisch warf der Steuermannsmaat einen Blick nach draußen in das Inferno. »Haben wir uns gedreht?«
»Nicht, dass ich wüsste. Ich habe die Kornelia stramm auf Kurs gehalten. Eben noch war der Leuchtturm auf der linken Seite, jetzt ist er plötzlich rechts. Das verstehe, wer will.«
»Vielleicht ein anderes Schiff.«
»Ohne Signatur und Positionslichter? Was für ein Schiff sollte das sein? Außerdem, schau dir dieses Blinken an. Ich fahre diese Strecke seit zwanzig Jahren. Ich würde den Leuchtturm von Therasia unter tausend anderen erkennen.«
Der Gehilfe schüttelte den Kopf. »Wenn wir weiterfahren, kommen wir genau in die Meerenge. Ich würde lieber auf hart steuerbord gehen.«
»Bin schon dabei«, knurrte Vogiatzis und steuerte die Kornelia zurück auf ihren ursprünglichen Kurs. Ein unangenehmes Kribbeln im Nacken sagte ihm, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Er kannte dieses Gefühl, es hatte ihn noch nie getrogen. Der Kompass schien auch zu spinnen. Er zeigte an, dass sie viel zu weit nach Westen fuhren. Bei ihrem jetzigen Kurs hielten sie genau auf Kythira zu, einer kleinen Insel am südlichsten Zipfel des Peloponnes. Aber der Leuchtturm ließ sich nicht wegleugnen. Er war da, so viel war sicher. Oder etwa nicht?
Der Gehilfe runzelte die Stirn. »Was ist denn mit dem Leuchtfeuer los?«
»Was soll damit sein?«
»Es ist weg«, sagte der Junge. »Ich habe es die ganze Zeit im Auge behalten. Von einer Sekunde auf die andere war es nicht mehr da.«
»Bei Poseidons Bart, du hast recht!«, stellte Vogiatzis fest. Das Kribbeln in seinem Nacken wurde zu einem Stechen. Jetzt war er sicher, dass wirklich etwas nicht stimmte.
»Da!«, rief der Junge. »Da ist es wieder. Und da drüben noch eines. Es sind zwei.«
Vogiatzis verengte die Augen. Zwei Lichter, die genau die gleiche Färbung hatten und genau gleich blinkten? Das war unmöglich. Gab es hier Luftspiegelungen? Lächerlich, doch nicht bei diesem Sturm!
Hilfe suchend blickte er auf seinen Kompass. Die Nadel tanzte wie verrückt. Mal bewegte sie sich nach Süden, dann wieder nach Westen. Zum Schluss drehte sie sich sogar im Kreis.
Ehe er seinen Gehilfen auf das ungewöhnliche Phänomen aufmerksam machen konnte, rief dieser: »Da ist noch eins! Und da drüben noch eins. Auf zehn Uhr, sehen Sie? Jetzt sind es vier!« Seine Stimme klang hysterisch.
Vogiatzis hatte genug. Er zog den Schubhebel nach hinten und drosselte die Fahrt, bis die Motoren im Leerlauf tuckerten. Dann griff er nach seinem Regenmantel.
Der Junge starrte ihn voller Furcht an. »Was haben Sie vor?«
»Bleib hier. Ich seh mir das mal an.« Er öffnete die Tür und trat hinaus in den Sturm. Der Wind schlug ihm mit voller Kraft ins Gesicht. Das Brüllen und Toben war atemberaubend. Er schmeckte Salzwasser, das auf seiner Haut wie Nadelstiche brannte. Vorsichtig, immer eine Hand am Geländer, kletterte er die Eisentreppe hinunter. Der Wind peitschte das Wasser zu weißen Schaumkronen auf, die aussahen, als würden sie kochen.
Mit aller Kraft arbeitete Vogiatzis sich vorwärts. Ein paarmal drohte er auszurutschen, doch es gelang ihm immer noch rechtzeitig, das Geländer zu packen.
Als er die Mitte des Schiffs erreicht hatte, blieb er stehen. Der Wind hatte für einen Moment an Heftigkeit nachgelassen. Vogiatzis hob den Kopf und blickte sich um. Was auf der Brücke nur eine Vermutung gewesen war, wurde jetzt zur Gewissheit. Vier Leuchttürme mit exakt der gleichen Lichtfärbung und exakt der gleichen Kennung. Alle schienen ungefähr gleich weit entfernt zu sein, so, als würden sie die Kornelia umzingeln.
»Unmöglich«, flüsterte Vogiatzis. »Einfach unmöglich.« Er wischte das Wasser aus seinem Gesicht. Das Phänomen war unheimlich und faszinierend zugleich.
Während er so dastand und sich fragte, was zum Teufel er jetzt tun sollte, kam es ihm auf einmal so vor, als würden die Lichter größer. War das möglich? Er wartete eine Weile, dann konnte es keinen Zweifel mehr geben. Was immer das war, es näherte sich.
Vogiatzis schob sein Kinn vor. Also doch Schiffe, schoss es ihm durch den Kopf. Vielleicht Piraten. Das war die einzige logische Erklärung. Das würde auch das Verschwinden der anderen Schiffe erklären. Womöglich hatten die Halunken es geschafft, die Lichtsignatur des Leuchtturms zu kopieren, um die Schiffe in die Falle zu locken. Und jetzt wollten sie seinen Frachter kapern.
Nur über seine Leiche.
Vogiatzis hatte zwei Pistolen in seinem Waffenschrank. Kampflos würde er ihnen die Kornelia nicht überlassen.
Er stolperte zurück zur Brücke. Wenn er nur nicht zu spät kam. Die Lichter waren schon bedrohlich nahe.
Ein plötzlich aufzuckender Blitz tauchte das Meer in gleißende Helligkeit.
Vogiatzis blieb wie angewurzelt stehen. Er konnte nicht anders. Was er gesehen hatte, war einfach nicht möglich.
Das waren keine Schiffe.
Es waren auch keine Leuchttürme.
Er wusste nicht, was es war, nur, dass er so etwas noch nie zuvor gesehen hatte. Vier riesige Klauen ragten wie Finger aus dem Wasser. Sie waren gewaltig und überragten die Kornelia um mindestens zwanzig Meter. Vogiatzis erkannte, dass ihre Oberfläche wie die eines Riesenkraken alt und vernarbt aussah. Die Fingerknochen waren dick und verknorpelt und die Gelenke knarrten wie verrostete Scharniere. Das Wesen musste unglaublich alt sein. Ein Titan aus der Tiefsee, schoss es Vogiatzis durch den Kopf. Aufgestiegen, um sie zu vernichten. An den Enden der Krakenarme leuchteten feurige Augen, die bösartig auf ihn heruntersahen.
Über das Brausen des Windes hinweg ertönte ein bedrohliches Rauschen. Die Arme kamen auf das Schiff zu. Als sie sich bis auf zehn Meter genähert hatten, beugten sie sich herab. Die monströsen Krallen schossen nach unten, dann schlugen sie auf dem Oberdeck ein. Ein furchtbares Krachen ertönte. Funken sprühten, dann verloschen die Lichter.
Die Kornelia sackte zum Bug hin ab. Vogiatzis wurde von den Beinen gefegt. Er konnte sich nicht festhalten und schlitterte mit den Füßen voraus über das klatschnasse Deck. Kisten und Fässer lösten sich und rutschten hinterher. Wie durch ein Wunder wurde er nicht getroffen. Er prallte gegen die Ankerwinde und wurde in hohem Bogen über Bord geschleudert. Der Aufprall presste ihm die Luft aus der Lunge. Ein brennender Schmerz fuhr ihm in die Schulter. Irgendetwas war mit seinem Arm.
Panisch schlug er um sich.
Ehe er begriff, was mit ihm geschah, befand er sich im schäumenden und tosenden Meer. Um ihn herum trieben Holzteile und Bruchstücke von Schiffsaufbauten.
Nicht weit von ihm entfernt entdeckte er einen Rettungsring. Mit letzter Kraft gelang es ihm, ihn zu packen und sich festzuhalten.
Halb ohnmächtig klammerte er sich fest und beobachtete, wie die Kornelia von dem riesigen Meeresungeheuer in die Tiefe gezogen wurde. Bug voraus verschwand sie in der kochenden See. Ihr Todeslied klang wie der Schrei eines verendenden Wals. Es schäumte und blubberte, dann war von seinem Schiff nichts mehr zu sehen. Unter Wasser war noch ein Licht zu erkennen, dann erlosch auch das.
Vogiatzis starrte in die Fluten. Die Kornelia war mit Mann und Maus untergegangen.