Читать книгу Der Palast des Poseidon - Thomas Thiemeyer - Страница 17
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Der Norweger stand hinter der großen Eingangssäule. Geduldig wie eine Spinne verharrte er in seinem Versteck. Den Hut tief in die Stirn gezogen, die Arme vor der Brust verschränkt, wartete er ab. Sein schmales Gesicht lag im Schatten. Die Hitze machte ihm nichts aus. Er lebte lange genug in Griechenland, um keinen Gedanken mehr an Wetter und Temperaturen zu verschwenden. Egal, ob Winter oder Sommer, stets trug er die gleiche Kleidung. Weiche Stiefel, lederne Hosen und natürlich seinen langen grauen Mantel, der sein Arsenal von Fern- und Nahkampfwaffen verbarg. Seine Spezialität waren Giftwaffen. Nicht nur in Form kleiner Kapseln und Tränke, die sich geschmacksneutral in Weingläsern und Nahrungsmitteln auflösen ließen, sondern auch Pfeile, die so winzig waren, dass sie jedes Material durchdringen konnten. Abgefeuert aus einem Blasrohr oder mit seinem schallgedämpften Präzisionsgewehr, spürten seine Opfer kaum mehr als bei einem Insektenstich. Ein sanftes Streicheln mit der Hand, und die Pfeile fielen wie von alleine aus der Stichwunde. Das Gift, das in winzigen Kapseln im Inneren schlummerte, hatten sie zu diesem Zeitpunkt längst abgegeben. Es handelte sich um ein Nervengift, das aus einer im Indopazifik beheimateten Krakenart gewonnen wurde. Nach mehreren Minuten führte das Gift zu einer Lähmung, die schließlich in Herzversagen mündete. Die Opfer erlitten weder Schmerzen noch einen stundenlangen qualvollen Tod. Im Körper war das Gift nicht nachzuweisen. Für den obduzierenden Arzt sah es so aus, als habe das Herz einfach aufgehört zu schlagen. Die perfekte Waffe, wenn man keine Spuren hinterlassen wollte. Doch der Norweger verstand sich auch auf andere Tötungstechniken. In seiner Heimat war er auf Morde mit Eisdolchen spezialisiert gewesen, später dann, in Bulgarien, hatte er seine Waffen mit Steinsalz geladen, deren Kristalle sich im Blut der Opfer auflösten.
Die polizeiliche Ermittlungsarbeit war in den letzten Jahren so weit fortgeschritten, dass in neunzig Prozent aller Fälle die Analyse der Waffe zu einer Festnahme des Mörders führte. Doch was, wenn es keine Waffe gab? Seine Tötungswerkzeuge verschwanden entweder oder sie waren nicht nachzuweisen. Keiner seiner bisherigen Aufträge hatte den Behörden einen Anhaltspunkt geliefert, der den Verdacht auf ihn lenkte. Und so sollte es auch bleiben.
Sein Druckluftgewehr unter dem Mantel verbergend, stand er hinter der Säule und wartete.
Die Uhr des nahe gelegenen Kirchturms schlug fünf. Der Besuch der seltsamen Reisegruppe dauerte jetzt schon über vier Stunden. Was hatten die da drinnen so lange zu bereden? Er war zwar gewohnt, stundenlang in einem Versteck auszuharren, aber so langsam riss ihm der Geduldsfaden. Sein Instinkt sagte ihm, dass irgendetwas nicht stimmte.
Auf einmal drang Hufgetrappel an sein Ohr. Ein Reiter kam auf das Universitätsgelände galoppiert und näherte sich seiner Position. Den Geräuschen nach zu urteilen, hatte er es eilig. Der Norweger blickte hinter der Säule hervor. Er kannte den Reiter. Einer seiner eigenen Männer. Er hatte ihn für die Observierung des Hotels abgestellt. Was in drei Teufels Namen hatte er hier zu suchen?
Mit einem scharfen Pfiff lenkte er die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich. Als er bei ihm war, zog der Reiter die Zügel und sprang aus dem Sattel.
»Was machst du hier?«, fuhr ihn der Norweger an. »Dein Platz ist vor dem Hotel.«
»Da war ich auch«, keuchte der Mann. »Die Herrschaften sind eben dort eingetroffen und gleich wieder abgefahren. Haben Sie denn nicht gesehen, wie sie herausgekommen sind?«
Dem Norweger blieb vor Verblüffung der Mund offen stehen. »Was redest du da? Ich war die ganze Zeit hier. Ich habe den Eingang nicht für eine Minute aus den Augen gelassen.«
»Dann hat man Sie ausgetrickst«, stieß der Mann atemlos hervor. »Ich habe selbst gesehen, wie sie das Hotel betreten und eine Kutsche gemietet haben. Dann sind sie in Richtung Westen aufgebrochen. Sie schienen es eilig zu haben.«
»Das Gepäck?«
»Haben sie mitgenommen.«
Der Norweger fluchte. »Wie lange ist das her?«
»Etwa eine halbe Stunde. Ich bin ihnen noch ein Stück nachgeritten. Sie haben die Straße Richtung Korinth eingeschlagen.«
»Korinth sagst du? Von dort gehen die Fähren Richtung Italien.« Hektisch blickte er zur Uhr hinauf. Viertel nach fünf. Er überschlug die Strecke in seinem Kopf. Weit würden sie heute nicht mehr kommen. Die Hafenstadt war etwa siebzig Kilometer entfernt. Zu weit, um sie heute noch zu erreichen. Vermutlich würden sie in einem der Orte an der Küste einkehren. Vielleicht in Elefsina oder in Megara. Wenn er sich beeilte, konnte er sie abfangen, ehe es dunkel wurde. Wenn er wusste, wo sie abstiegen, konnte er ihnen nachts auflauern, heimlich in ihre Zimmer steigen und dort seinen Auftrag erledigen.
Noch war nichts verloren. Er schnappte sich das Pferd und galoppierte los.
Er war kurz hinter Chaidari, als er die Kutsche einholte. Das Licht des späten Nachmittags ließ die Olivenbäume in sattem Grün schimmern. Zikaden erfüllten die Luft mit durchdringendem Zirpen. Mauersegler flogen auf der Jagd nach Insekten mit halsbrecherischem Tempo zwischen den Bäumen hindurch.
Der Norweger drosselte sein Tempo und blieb auf Abstand. Ihm klebte die Kleidung am Körper. Der Geruch nach Schweiß stieg ihm in die Nase. Die lange Strecke im scharfen Galopp hatte ihn einige Anstrengung gekostet.
Er hörte, wie sich die vier Reisenden angeregt über die schöne Landschaft unterhielten und fröhlich mit dem Fahrer scherzten.
Sollten sie. Je weniger Verdacht sie schöpften, desto besser.
Wenige Minuten später verließ die Kutsche die Hauptstraße und bog auf einen Feldweg ab. Eine Strecke, die hinauf in die Hügel führte.
Stirnrunzelnd zügelte der Norweger seinen Schecken. Er kannte die Gegend. Hier gab es nichts, keine Herberge, keinen Gasthof und kein Hotel. Was wollten sie also in den Hügeln?
Er wartete, bis die Kutsche zwischen einer Ansammlung niedriger Eichen verschwunden war, dann trabte er langsam hinterher. Vielleicht waren die vier ja mit dem Zelt unterwegs. Man hörte in letzter Zeit öfter davon. Eine Modeerscheinung, die aus den Vereinigten Staaten von Amerika zu ihnen herübergeschwappt war und campen genannt wurde. Wenn die vier wirklich unter freiem Himmel übernachteten, würde es noch viel einfacher werden, sie aus dem Weg zu räumen.
Immer tiefer folgte er seinen Opfern in den Wald. Er war ganz in Gedanken versunken, als er plötzlich ein Geräusch hörte. Die Kutsche kam wieder zurück.
Für einen Moment war er versucht, ins Unterholz zu flüchten, doch dafür reichte die Zeit nicht aus. Soeben kam das Gespann in Sicht. Nur der Kutscher war noch an Bord, von den vier Reisenden fehlte jede Spur.
Vorsichtig umrundete der Fahrer die knietiefen Schlaglöcher und wich den Wurzeln aus, die sich wie fette Schlangen über den Weg zogen. Als er den Norweger sah, hob er verdutzt die Brauen. Er grüßte knapp, dann fuhr er weiter. Der Norweger überlegte, ob er den Mann töten sollte, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Welche Bedrohung stellte er schon dar?
Er ritt weiter, bis der Weg in einem schmalen Trampelpfad endete, der mit Steinbrocken übersät war. Die Sonne verschwand gerade hinter den Hügeln und durch die Blätter leuchtete rot der Abendhimmel. Unter den Bäumen war das Licht so schwach geworden, dass es fahrlässig gewesen wäre weiterzureiten. Er stieg ab, band sein Pferd an einer Korkeiche fest und folgte dem schmalen Ziegenpfad, der hinauf in die Hügel führte. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er sein Druckluftgewehr heraus. Er steckte vier Pfeile ins Magazin und lud durch. Was taten diese Menschen hier draußen? Sie hatten doch mit Sicherheit genug Geld, um sich eine Übernachtung in einem Hotel zu leisten. Und wenn sie schon kampierten, warum taten sie das in so einer entlegenen Gegend?
Der Weg machte eine Kurve und führte hinab in ein schattiges Tal. Der klagende Ruf eines Ziegenmelkers hallte von den Hängen wider. Das schrille Zirpen der Zikaden war in ein sanfteres Surren übergegangen, das er als beruhigend empfand. Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr. Die vier Reisenden mussten sich etwa hundert oder zweihundert Meter vor ihm befinden.
Der Norweger ließ seinen Blick durchs Unterholz schweifen. Das Licht wurde von Minute zu Minute schwächer. Nicht mehr lange, dann würde es hier stockdunkel sein. Zu allem Überfluss war gerade Neumond. Wenn die letzten Reste der Abenddämmerung verschwunden waren, würde er die Hand vor Augen nicht erkennen. Langsam und lautlos setzte er seinen Weg fort.
Auf einmal flammte ein Licht in der Dunkelheit auf. Irgendwo vor ihm, dort, wo das Tal am schmalsten war.
Er kauerte sich hin und wartete. Ein zweites Licht wurde entzündet, dann ein drittes. Die Lichter sahen kalt aus und flackerten nicht. Neugierig rutschte er näher. Die Maccia versperrte ihm die Sicht. Soweit er es aus dieser Entfernung beurteilen konnte, ragte hinter dem Gestrüpp ein gewaltiger Felsen in den Himmel. Groß und rund zeichnete er sich gegen die Dämmerung ab. Die ersten Sterne leuchteten am Himmelszelt. Lichtschimmer huschten über die graue Oberfläche des Felsens.
Plötzlich setzte ein seltsames Brummen ein, das mit jeder Sekunde stärker wurde. Es klang wie das Surren eines Motors. Das Geräusch wurde vom Tal zurückgeworfen und verstärkt. War das ein Generator? Der Norweger hatte schon gehört, dass es Geräte gab, die aus Gas oder Petroleum Strom herstellen konnten, er hatte nur noch nie eines gesehen.
Gerade, als er zu dem Entschluss gekommen war, dass er näher heranmusste, ging eine Bewegung durch den mächtigen Felsen. Erst ein feines Vibrieren, dann ein starkes Schütteln.
Majestätisch erhob sich eine riesige Zigarre aus dem Tal und stieg in den sternenübersäten Abendhimmel. Instinktiv klammerte sich der Norweger an einem nahe gelegenen Ast fest. Das Gewehr drohte seinen Fingern zu entgleiten.
Das war kein Felsen. Es war ein Ballon.
In der Gondel, an der zwei Motoren befestigt waren, konnte der Norweger die vier Insassen erkennen. Die Motoren surrten immer lauter, während der Ballon in einer eleganten Wende Richtung Westen abschwenkte. Ein letzter Hauch von Rosa strich über seine Flanken, dann drehte er in den Wind und verschwand hinter der nächsten Hügelkette.