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Lost in Hildesheim
ОглавлениеAn einem ruhigen Samstagnachmittag bekomme ich einen Auftrag von der Polizei in der Herschelstraße. Eine Polizistin empfängt mich. »Hier ist ein Herr, der muss nach Hildesheim.«
Meine Herzfrequenz erhöht sich aus Freude über die weite Fahrt. Meistens trudeln die guten Touren ein, wenn man gar nicht auf sie angewiesen ist. Diesmal ist aber sogar der Zeitpunkt ideal, denn es gibt momentan kaum Aufträge.
»Er hat sich jetzt beruhigt, Sie brauchen keine Angst zu haben«, fährt die Polizistin fort. »Er ist aus einer Betreuungsanstalt für geistig Behinderte abgehauen und mit dem Zug nach Hannover gekommen – ohne Geld und Fahrkarte. So ist er schließlich hier gelandet.«
Ohne auf irgendeinen Zettel zu gucken, teilt sie mir mit: »Er muss ins Krugfeld … 12.« Ich frage noch mal nach: »Krugfeld, ja?«. Nach der wie selbstverständlich vorgetragenen Mitteilung der Beamtin denke ich, dass es sich um eine bekannte Adresse in Hildesheim handeln müsse. »Wir haben im Heim angerufen, die Fahrt wird dort bezahlt.« Währenddessen luge ich gespannt durch die Glastür, hinter der ich einen Polizisten auf einen mittelgroßen Mann von kräftiger Statur einreden sehe. Der Mann lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand, die Hände hat er hinter seinem Gesäß verschränkt. Er wirkt nervös. Ein paar Minuten später geleitet ihn der Polizist in den Vorraum, in dem ich stehe. Dort wird er mir als mein neuer Fahrgast vorgestellt. Man sieht ihm die geistige Behinderung nicht an – bis auf leichte Anomalien in den Körperbewegungen.
Wir gehen zu meinem Wagen und ich lasse ihn auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Bevor wir losfahren krame ich meinen Großraumplan hervor, um meine Zieladresse zu suchen. Unter »Krug« ist in Hildesheim aber nur eine Krugstraße verzeichnet und kein Krugfeld. Da es aber überhaupt nichts anderes mit »Krug« gibt, schlussfolgere ich, dass das die richtige Straße sein muss. Etwas zu denken gibt mir allerdings, dass die Straße auf dem Plan sehr kurz ist und in einem etwas abgelegenen Dorf – Sorsum – liegt, das gerade noch so zu Hildesheim zählt. Zur Sicherheit frage ich meinen Fahrgast, ob Hildesheim-Sorsum richtig ist. Er überlegt eine Weile, sagt dann aber: »Ja.«
»Sorsum ist richtig?«, vergewissere ich mich ein zweites Mal.
»Ja. Sorsum.«
Mir ist klar, dass ich auf seine Bestätigung womöglich nicht viel geben kann. Aber ich will ihm glauben, um nicht noch einmal mit ihm zurück zur Polizei gehen zu müssen. Ich kann ihn nicht allein im Wagen sitzen lassen – vielleicht ist er bei meiner Rückkehr verschwunden. Ich beruhige mich damit, dass er eigentlich ganz normal wirkt. Während der Fahrt versuche ich immer wieder, eine Konversation in Gang zu bringen. Dies scheitert jedoch an meinem Beifahrer, der nichts erzählen kann. Er antwortet meist nur mit ja oder nein. Über die Schnellstraße und Autobahn erreichen wir Hildesheim nach nur fünfundzwanzig Minuten.
Am Ortseingang frage ich noch mal: »Wir fahren jetzt also nach Sorsum?«.
Mit »Ja, Sorsum«, bleibt er bei seiner Aussage, der ich nun kaum noch glauben kann. Zu deutlich sind die geistigen Defizite, die ich bei meinem Anvertrauten ausgemacht habe.
Ich schlage mich mühsam durch die Stadt und nutze jede rote Ampel, um den Stadtplan zu studieren. Nach einem längeren Umweg erreichen wir endlich Sorsum. Meine Hoffnung, dass doch alles seine Richtigkeit haben wird, entpuppt sich nun endgültig als reines Wunschdenken. In Sorsum in der Krugstraße ist die Hausnummer, die ich suche, nicht auffindbar und auch kein Gebäude, das einem Behindertenheim ähnelt. Langsam wird mir bewusst, in welch misslicher Lage ich mich befinde. Ich bin mit einem hilflosen Passagier an einem mir völlig unbekannten Ort und weder mein Fahrgast noch ich haben die leiseste Ahnung wohin wir müssen. Lost in Hildesheim!
In meiner Not steuere ich den einzigen in Sichtweite befindlichen größeren Gebäudekomplex an. Es ist zwar ein anderer Straßenname, aber es gibt wenigstens die richtige Hausnummer! Ich steige mit meinem »Patienten« aus und wir versuchen, Zugang zu dem Gebäude zu bekommen. Es wird langsam dunkel. Die Türen sind verschlossen. Nach einigen vergeblichen Versuchen finden wir doch einen Zugang. Aber drinnen ist niemand zu sehen. Wir starren hilflos in die leeren Gänge bis irgendwann eine Nachtschwester auftaucht. Sie kann uns jedoch auch nicht weiterhelfen. Wir sind eindeutig falsch, nämlich in einem Altenheim des Diakonischen Werkes. Also marschieren wir wieder zurück zum Taxi. Ich frage meinen Gast, ob er nicht einen Ausweis mit Adresse hat, was er verneint. Mein bis jetzt unkomplizierter Fahrgast wird nun langsam ungeduldig. Er bekommt auch mit, dass alles nicht zum Besten steht. Immer häufiger versetzt er seinen Oberkörper in eine vor und zurück schwingende Bewegung. »Ich bekomme langsam Hunger!«, teilt er mir bedrohlich mit. Zu der ausweglosen Situation kommt nun auch noch die neben mir sitzende Zeitbombe. Ich kann vor Aufregung nicht klar denken. Von wem kann ich erfahren, wohin ich meinen Mitfahrer bringen muss? Nur von der Polizeidienststelle in Hannover. Aber ich bin weit außerhalb des Funkempfangs der Zentrale. Also bleibt nur das Handy. Immer wenn man die Dinger dringend braucht, ist der Akku natürlich so gut wie leer. So auch diesmal. Ich rufe unter regelmäßigem Akkupiepen und »Ich habe Hunger« meine Zentrale an und bitte den Funker, die Telefonnummer der Polizeidienststelle in der Herschelstraße herauszusuchen. »Okay. Ich rufe sie dann gleich zurück«, erwidert mein Gesprächspartner aus der Taxizentrale. Meine Gebete, dass der Akku wenigstens noch den Rückruf durchhält, wurden erhört, und ich bin nach ein paar Minuten im Besitz der rettenden Telefonnummer. Nun zwinge ich mein Mobilfunkgerät, die letzten Energiereserven für den Anruf bei der Polizei zu mobilisieren. Nach Schilderung meiner Situation und meines Anliegens bekommen meine Hoffnungen einen Dämpfer. »Ja, ich erinnere mich an den jungen Mann. Aber die Kollegin, die ihn vorhin aufgenommen hat, hat leider schon Feierabend. Ich gucke mal, ob ich irgendetwas in den Akten finde …«, erklärt mir die freundliche Stimme am Apparat. Ich kann nur nicht mehr lange auf die Antwort warten. Piep … Piep. Jeden Moment muss mein Handy seinen Betrieb einstellen. Ich warte. Piep … »Ich habe jetzt wirklich Hunger!« … Piep … Die Zeit scheint sich derart zu dehnen, dass mir eine Minute wie eine Ewigkeit vorkommt.
Endlich meldet sich mein Gesprächspartner zurück: »Ich habe die Adresse gefunden: Im Krugfeld 12.« Ich kann mich nicht mehr für die Auskunft bedanken: Unmittelbar nachdem ich die richtige Adresse bekommen habe, schaltet sich mein Mobiltelefon ab.
Damit erklärt sich alles: Im Straßenverzeichnis kann man die Straße nur unter »I« wie »Im« finden. Da mir aber die unscheinbare Präposition vorenthalten worden ist, konnte ich unmöglich auf das »Krugfeld« stoßen.
Nun müssen wir im Dunkeln in den Stadtteil Himmelsthür zurückfahren, den wir schon vor über einer Stunde durchquert haben. Die Stimme meines Nachbarn wird energischer und mit dem Wippen seines Oberkörpers macht er kaum noch eine Pause. Kurz vor »Im Krugfeld« kommen wir an einen kleinen Bahnübergang, bei dem sich just in dem Moment die Schranken schließen, als wir die Gleise überqueren wollen. Erneut übernimmt die zäh fließende Zeit das Kommando. Ich bemerke, wie mein Beifahrer versucht, Blickkontakt mit mir herzustellen. Das hat er bisher gründlich vermieden. »Ich muss jetzt essen!«. Gleich wird er handgreiflich werden, male ich mir schon aus. »Nur noch einen Moment, gleich haben wir es geschafft!«, versuche ich ihn zum wiederholten Male zu beschwichtigen. Nach einer kleinen Ewigkeit können wir die Fahrt fortsetzen. Ich kann den richtigen Straßennamen auf einem Straßenschild entziffern. Wir sind so gut wie am Ziel, nur noch die Hausnummer suchen – denke ich. Doch plötzlich ist ein Sackgassenschild aufgestellt, wir können nur noch bis zur Baustelle weiterfahren. Die Straße ist durch die Baustelle in zwei Teile getrennt und wir sind auf der falschen Seite. Wie soll ich auf die andere kommen? Es ist keine Umleitung ausgeschildert und so muss ich wieder zurück über den – diesmal zum Glück freien – Bahndamm, einen riesigen Bogen fahren und versuchen, über irgendwelche kleinen Nebenstraßen auf das »Krugfeld« zu kommen.
Ein Stadtplan auf dem Schoß, ein Hungriger neben mir, unbekannte Straßen vor mir, Verzweiflung in mir: ein Gedicht.
Die ersten Versuche scheitern kläglich an neuen Sackgassen. Aber das Ende meiner Odyssee steht kurz bevor. Ich gelange bald auf den richtigen Straßenteil und finde auch die Hausnummer. Wider Erwarten befinden wir uns vor einem freistehenden Einfamilienhaus. Wir werden schon sehnsüchtig erwartet. Vier geistig Behinderte hüpfen vor Freude wild herum und rufen: »Da ist er! Da ist er endlich!« Der nette Betreuer der kleinen Wohngemeinschaft bittet mich herein und zahlt – nach kurzer Zusammenfassung meiner Odyssee – anstandslos die hohe Rechnung von 68 Euro, bei direktem Weg wären es nur ungefähr 45 Euro gewesen.