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4. Gott ist größer – Gott ist näher
ОглавлениеGott ist größer als alle unsere Gedanken über ihn, er entzieht sich all unserem Begreifen – und zugleich kommt er uns ganz nah. Im Grunde ist das unstrittig. Als der Jerusalemer Tempel eingeweiht wird, spricht der König Salomo ein Gebet, das diese Spannung schön auf den Punkt bringt: „Sollte in Wahrheit Gott bei den Menschen wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen“ (1Kön 8,27). Beides muss gesagt werden. Gott ist größer als alles, was ihn umfassen soll. Kein Tempel, kein Vergleich und keine Theorie können ihn vollständig erfassen. Und doch wird dieser Gedanke zur Falle, wenn ihm nicht die andere Wahrheit zur Seite steht: Er will in Wahrheit bei uns wohnen, er ist uns näher als wir selbst. Er ist nicht einfach restlos unverfügbar, unsagbar, undenkbar. Nur beides miteinander wird Gott gerecht. Das meint Geheimnis: Gott ist unergründlich und gut; er ist Liebe – und wohnt in einem unzugänglichen Licht. Er übersteigt alle unsere Worte und lässt sich doch fassen in Kindergebeten und -reimen.
Christen glauben so, sie wissen eigentlich, dass sie das glauben. Aber sie vergessen so leicht, dass sie diese Spannung niemals auflösen dürfen. Rechtes Reden von Gott wäre kenntlich an der Stimmung. Unsere Worte wären getragen von einer Mischung aus Zuversicht und Demut. Die großen Gegensätze unserer Zeit − die Formen fundamentalistischer Religion, in der „der Glaube“ in einer völligen Objektivität gegeben und einfach zu akzeptieren und umzusetzen ist; und die individualistische Patchwork-Religion, wo man nur akzeptiert, was sich gerade jetzt gut anfühlt − sind einander viel ähnlicher, als beide voneinander glauben. Auf den ersten Blick erscheinen sie völlig gegensätzlich, einmal völlig subjektivistisch, einmal ganz objektivistisch. Und doch ähneln sie einander. Beide kennen im Grunde nur eine Gefahr. Beide Modelle setzen auf das unmittelbar Einleuchtende, entweder auf das persönlich Ansprechende oder auf das vermeintlich objektiv Vorgegebene. In beiden Modellen verzichtet man auf die produktive Spannung zwischen dem Gegebenen und seiner persönlichen Verarbeitung. Reifer Glaube ist nicht „einfach“, weder im subjektivistischen noch im objektivistischen Sinn. Reifer Glaube setzt sich auseinander mit der Tradition, den überlieferten Geschichten der eigenen Erzählgemeinschaft – und ist sich der Herausforderung bewusst, dass echtes Verstehen immer etwas Neues ist.
Worum es m. E. geht, möchte ich abschließend im Gespräch mit dem Buch Metaphorische Wahrheit, der Doktorarbeit des katholischen Theologen Johannes Hartl, klären. In ausführlicher Auseinandersetzung mit wichtigen theologischen und philosophischen Strömungen der Gegenwart geht es Hartl letztlich um die Einsicht, die im Zentrum dieses Kapitels steht: Von Gott reden können wir gar nicht anders als metaphorisch, also zeichenhaft, symbolisch, vermittelt über Bilder und Geschichten.22 Hartl beschreibt, dass es sich dabei um eine herausfordernde Einsicht handelt. Im Theologiestudium habe er gemerkt, dass sich viele darauf einlassen – und dabei nach und nach merken, dass ihr bisheriges wörtliches oder buchstäbliches Bibel- und Glaubensverständnis naiv und unreflektiert war. Nicht wenige verlieren über dieser Einsicht jegliche Glaubenszuversicht. Und ja, so würde ich aus meiner Erfahrung bestätigen, das gibt es, dass TheologInnen lernen, über religiöse Kommunikation zu reflektieren, und darüber fast verlernen, selbst religiös zu denken und zu sprechen. Das Reden über religiöses Reden kann bis in die religiöse Sprachunfähigkeit führen. Auf der anderen Seite sieht Hartl eine andere problematische Reaktion: Für eine andere „Gruppe von Menschen gefährdet die Theologie den Glauben eher, als dass sie ihm dient. Wahrer Glaube ist in dieser Glaubensweise gerade nicht von rationaler Reflexion geprägt, sondern vom Vertrauen auf die Bibel, die Tradition, das Lehramt. Diese Sicht könnte man als ‚verteidigte erste Naivität‘ bezeichnen: eine Weltsicht, die naiv ist, weil sie sich nicht hinterfragen lassen möchte. […] Im Bereich des Religiösen entspricht ihr etwa der Glaube an die wortwörtliche Wahrheit der Bibel und der Dogmen, die völlig fraglose Einteilung der Welt in wahre und falsche Aussagen mit den Aussagen der religiösen Sprache als eindeutig zu den wahren gehörend. Eine solche Haltung geht einher mit dem festen Glauben an gewisse moralische Prinzipien und religiöse Handlungen.“23
Hartl lässt keinen Zweifel daran, dass er eine solche Haltung für theologisch unzureichend hält. Die kritischen Einsichten der Theologie, dass alle unsere Gedanken über Gott eben unsere Gedanken sind, unsere Bilder und Deutungen, kann im schlimmsten Fall das Vertrauen auf Gott, die persönliche Hingabe, untergraben. Es wäre verheerend, die vermeintliche Naivität der Frömmigkeit einfach nur aufzulösen. Entscheidend sei daher die Einsicht, dass man von Gott gar nicht anders reden kann als metaphorisch oder symbolisch und dass solche Rede von Gott ganz und gar biblisch und angemessen ist. Nötig sei daher eine zweite Naivität, ein neuer Glaube an die alten Bilder und Geschichten der Bibel. Eine solche „(metaphorische) Theologie lädt ein zu einer Hermeneutik des Vertrauens. Sie ermöglicht einen rational verantwortbaren Wiedereinstieg in die religiöse Bildwelt – wissend, dass es sich um eine Bildwelt handelt, doch darob ohne Scham. Und trotz allem in neuem, festem Glauben an die Wahrheit dieser Bilder.“24
Der Grundthese Hartls stimme ich voll und ganz zu, ebenso seinem Anliegen, dass TheologInnen über ihren Einsichten aufpassen müssen, sich nicht nur noch im Reden über das Reden vom Glauben zu verstricken. Auf diesen Gedanken legt Hartl am Ende seines Buches den Hauptakzent. Wenn das Studium der Theologie dazu führt, dass seine Absolventen eine für die normalen Christen verständliche Sprache des Glaubens verlieren, ist das ein erhebliches Problem.
An dieser Stelle möchte ich einen Schritt weitergehen. Es mag stimmen, dass die große Mehrheit der Christen in Geschichte und Gegenwart naiv geglaubt hat bzw. glaubt, oft ohne Bewusstsein für den bildlich-indirekten Charakter der eigenen Gedanken über Gott.
Es ist allerdings auch ein Problem, wenn erwachsene Gläubige ihre Gottesvorstellungen mit Gott selbst verwecheln, wenn ihnen jedes Bewusstsein dafür fehlt, ihre Einsichten als das Stückwerk zu erkennen, das es ist. Dass alle unsere Worte zu kurz greifen, dass all unsere Einsicht nur eine Annäherung an das Geheimnis Gottes ist, das ist eine wesentliche Erkenntnis, die viele Christenmenschen dringend nötig haben. Daher möchte ich stärker betonen: Theologie ist nicht nur eine Gefahr, sie ist auch eine echte Chance. Ja, theologische Impulse können desillusionierend, verunsichernd wirken, letztlich aber auch befreiend.
In seiner letzten großen Vorlesung, wenige Wochen vor seinem Tod, erinnerte der große katholische Theologe Karl Rahner an die in diesem Kapitel besprochene klassisch kirchliche Lehre, dass alle Rede von Gott analog sei.25 Rahner macht deutlich, dass das unter Theologen unterschiedlicher Richtungen völlig unstrittig ist, fährt dann aber fort: Diese Einsicht wird im Alltag viel zu oft vergessen. Alles, was wir sagen, müssen wir immer aufheben in Richtung auf das Geheimnis Gottes, das er selbst ist.
In zweierlei Hinsicht halte ich diese Einsicht heute für nötig. Erstens kann sie Christen helfen, mit eigenen Zweifeln, Fragen und Entwicklungen gelassener umzugehen. Es ist keine Katastrophe, wenn mich Gedanken über Gott, die mich in meiner Jugend begeistert haben, auf einmal kaltlassen oder befremden. Es ist nicht schlimm, wenn mir manche ehemalige Gewissheit heute als mindestens einseitig erscheint.
Zweitens kann die Einsicht in die Gebrochenheit aller Erkenntnis und Rede über Gott dabei helfen, Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen leichter zu ertragen. In Zeiten der Polarisierungen schaffen es verschiedene Gruppen von Christen nicht, die anderen als Brüder und Schwestern zu sehen – weil sie hier oder dort vielleicht irren mögen. Wie selbstverständlich kann Jakobus sagen: „Wir irren alle mannigfaltig“ (Jak 3,2). Wenn wir damit rechnen, dass alle unsere Gedanken nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln sind, sondern höchstens annäherungsweise stimmen, könnten wir anders denkende Christen anders betrachten. Diese Gruppe von Christen – man möge wahlweise an Fundamentalisten oder Relativisten, streng Konservative oder sehr Liberale denken – mag in die falsche Richtung gehen. Aber kann es sein, dass sie etwas vor Augen haben, was ich übersehe? Dass sie für etwas eintreten, und wenn auch auf problematische Art und Weise, dessen Wert sich mir zu meinem Schaden noch nicht erschlossen hat? Was ist, wenn die anderen wenigstens ein wenig recht haben? Wenn ich nicht alles, aber doch etwas von ihnen lernen könnte?