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2. Die Freischwimmer-Debatte

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Der durch das evangelistische Projekt Jesus House in weiten Kreisen als Evangelist bekannt gewordene Torsten Hebel hat mit seinem Buch Freischwimmer keine typische, im pietistisch-evangelikalen Milieu beliebte Beschreibung seines eigenen Lebensweges vorgestellt.5 Klar und unverblümt berichtet Hebel, wie er an vielen Gewissheiten seines bisherigen Lebens zu zweifeln begann und im Begriff war, sich vom christlichen Glauben insgesamt zu verabschieden. Erst im Laufe dieses Buchprojekts gelingt es ihm, im Gespräch mit christlichen Freunden und Wegbegleitern, einen neuen, für ihn stimmigen Zugang zum Christentum zu finden. Nun dürfte es niemanden verwundern, dass Hebel mit einem solchen Buch Irritationen in Kreisen auslöste, von denen er sich zunehmend entfernt hatte. Als Evangelist hatte Torsten Hebel einen starken Einfluss auf viele junge Menschen, von denen etliche seine Verkündigung als entscheidenden Anstoß zum christlichen Glauben ansahen. Was bedeutet das für den eigenen Glauben, wenn derjenige, dessen Vorbild und Verkündigung man Entscheidendes verdankt, sich von wichtigen bisherigen Überzeugungen distanziert?

Jürgen Schuster, Professor für Interkulturelle Theologie an der Internationalen Hochschule Bad Liebenzell, hat Hebels Beschreibung seiner eigenen Entwicklung aus theologischer Perspektive gewürdigt.6 Schuster sieht in Hebels Weg zunächst eine nachvollziehbare, auch unter jungen Christen häufige Entwicklung. Hebel hat auf seinem Glaubensweg bemerkt, dass die Art zu glauben, die er in seiner Jugend kennengelernt und in seinem Studium vertieft hat, für ihn so nicht mehr passt. Das ist keine ungewöhnliche Erfahrung. Das geht vielen Gläubigen in einem bestimmten Alter so.7 Für viele Menschen ist eine solche Entdeckung der Anlass, sich von ihrem Glauben zu distanzieren. Sie setzen ihre frühere Glaubensweise mehr oder weniger gleich mit dem christlichen Glauben als solchem – und verabschieden diesen. In ihrer Studie „Warum ich nicht mehr glaube“ haben Tobias Faix, Martin Hoffmann und Tobias Künkler eine ganze Reihe solcher Erfahrungen dokumentiert. Im Grunde weiß es jeder: Seit Jahrzehnten befindet sich in den Kinder- und Jugendkreisen christlicher Gemeinden und Werke ein Vielfaches der Menschen, die später im Erwachsenenalter ihren Glauben bewusst leben und sich zu einer Gemeinde halten. Es wird sehr viel investiert in Formate, die Menschen zum Glauben einladen. Trotzdem gibt es auch unter den missionarischen Zweigen des Christentums, den Freikirchen, Gemeinschaften etc. seit vielen Jahren kein nennenswertes Wachstum, sondern weitgehend eine Umverteilung der Gläubigen von weniger attraktiven zu attraktiveren Bewegungen und Gemeinden. Weil zu wenig in Evangelisation oder Jugendarbeit investiert wird? Nein, sondern nicht zuletzt deswegen, weil sehr viele Menschen, die in bestimmten Lebensphasen gewonnen werden, mit der Zeit wieder aussteigen. Das Thema Weiterglauben sollte gerade missionarische Christen interessieren.

Insofern ist für Schuster die Lebensgeschichte von Torsten Hebel bemerkenswert und ermutigend. Denn Hebel gelingt es im Gespräch mit FreundInnen und Vorbildern, nicht einfach den christlichen Glauben insgesamt hinter sich zu lassen, sondern eine bestimmte Gestalt desselben. Er findet einen anderen neuen Zugang zu Jesus Christus und entwickelt allmählich einen Umgang mit dem christlichen Glauben, der für ihn stimmig ist. Diese Entwicklung deutet Schuster mit Hilfe des Konzepts unterschiedlicher Basismentalitäten, wie es in der soziologischen Lebensweltforschung entwickelt wurde und wie es Heinzpeter Hempelmann für die Theologie fruchtbar gemacht hat. In seiner früheren Lebensphase war Hebel durch ein Denken geprägt, das die Soziologen traditionsorientiert bzw. prämodern nennen:

„Dort hat er den christlichen Glauben stark dogmenorientiert erlebt und verinnerlicht. Er war überzeugt von einer hermeneutischen Eindeutigkeit biblischer Texte und christlicher Lehre. […] Es zeigte sich je länger je mehr, dass sein Glaube, der im Kontext eines traditionsorientierten Mindsets geprägt war, nicht mehr zu anderen Aspekten seines Lebens und Denkens passte. Mit anderen Worten, die Diskrepanz zwischen der Denkweise und Formatierung seines christlichen Glaubens einerseits und den Denkmustern und Begründungszusammenhängen der übrigen Bereiche seines Lebens, wurde zunehmend zum Problem.“8

Einen neuen Zugang zum Christentum findet Hebel dadurch, dass er Glaubensweisen kennenlernt, die stärker beziehungsorientiert, erfahrungsoffen und dialogisch eingestellt sind, sprich: die dem postmodernen Mindset stärker gerecht werden, das für sein sonstiges Leben prägend geworden ist. Grundsätzlich ist das für Jürgen Schuster eine lehrreiche und im Ansatz vorbildliche Entwicklung: „Ich gehe weiterhin davon aus, dass vielen Christen aus traditionsorientierten Gemeinden ähnliche Auseinandersetzungen bevorstehen bzw. bevorstehen können.“9

Und zugleich wirft ein solcher Weg Fragen auf. Denn eine solche postmoderne Glaubensweise verhält sich zur prämodernen Frömmigkeit nicht einfach wie Reife zu Unreife. Zu Recht weisen manche Christen darauf hin, dass konservative Glaubensvorstellungen nicht einfach als Zeichen kultureller Rückständigkeit gewertet werden können. Gar nicht so wenige verbinden einen z. B. modernen Musikgeschmack und gehobene Bildung mit traditionellen Familienwerten und konservativer theologischer Lehre.

So unbestreitbar das ist: Für andere Christen entstehen an solchen Ungleichzeitigkeiten Spannungen. Es wird nicht nur Unterschiedliches geglaubt, sondern vor allem auch auf unterschiedliche Art und Weise. Und was Torsten Hebel erfahren hat, ist eine Art Wechsel des Glaubensstils. Mindestens im Ansatz sollte man versuchen, unterschiedliche Glaubensstile zunächst einmal genau wahrzunehmen und zu beschreiben. Vielleicht hat ja jede Glaubensweise ihre Vorzüge und Chancen, zugleich aber auch ihre Risiken. Jürgen Schuster geht in seiner Analyse von der Einsicht aus, dass es den christlichen Glauben nie in Reinform gibt, sondern immer in einem ganz bestimmten kulturell geprägten Stil. Die entscheidende Herausforderung ist stets eine doppelte, nämlich, eine Glaubensform zu finden, die einerseits wirklich in eine bestimmte Kulturform eingeht und die andererseits dem biblischen Evangelium gerecht wird.

Eine solche Deutung des Weges von Torsten Hebel, und überhaupt der ganze Ansatz der Basismentalitäten, hat auch Kritik auf sich gezogen.10 Für manche ist eine solche Deutung selbst schon ein Zeichen postmoderner Auflösung des klassischen Wahrheitsverständnisses. Führt die Unterscheidung solcher grundverschiedener Denkweisen nicht dazu, dass die Auseinandersetzung um die Wahrheit unmöglich wird?

Torsten Hebels Buch Freischwimmer hätte in der evangelikalen Welt den Anstoß zu wichtigen Fragen geben können. Wie gehen wir damit um, dass so viele Menschen den intensiven Glauben ihrer Jugend irgendwann als Verirrung hinter sich lassen? Wie reagieren wir auf die Beobachtung, dass viele sagen: Für echte Zweifel, kritische Fragen, gar für Neuorientierungen in manchen Fragen ist in vielen christlichen Kreisen kein Raum? Viele Fragen sind schlicht tabu. Jeder weiß: Wenn ich dieses Thema aufwerfe, geht es nicht um dieses Thema, sondern darum, ob ich noch dazugehöre, ob ich noch Mitarbeiter sein kann etc. Was können wir lernen von denen, die nach einer Phase des Zweifels oder des Bruchs mit ihrer bisherigen Frömmigkeit neu glauben gelernt haben? Welche Atmosphäre ist wichtig, dass sich Menschen ohne Angst auf solche Wege machen können?

Zu einer intensiven Beschäftigung mit solchen Fragen kam es nach meiner Beobachtung kaum. Wo es eine Freischwimmer-Debatte gab, standen vielmehr andere Fragen im Raum: Wie kann ein evangelikaler Verlag es wagen, ein solches Buch zu veröffentlichen? Wie konnte es überhaupt geschehen, dass man einem solchen Mann eine so große Bühne in vielen bibeltreuen Werken gegeben hat? Wie kann man solche Christen, wie sie in diesem Buch zu Wort kommen, jetzt noch in missionarische Werke einladen? Wie können Theologen aus dem Bereich pietistischer bzw. evangelikaler Ausbildungsstätten auf die Idee kommen, eine solche Entwicklung eines ehemaligen Evangelisten gutzuheißen und sie als hilf- und lehrreich zu verteidigen?

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