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I. Im Sog der Polarisierungen 1. Wachstumsschmerzen
ОглавлениеIm Glauben wachsen – das wollen alle Christinnen und Christen.4 Niemand möchte unreif, naiv oder unmündig glauben. Manche würden das so nicht formulieren, sie würden sagen: Glaube ist für mich aber kindliches, naives Vertrauen auf Gott. Aber genau von dieser Haltung möchten sie gerne durch und durch bestimmt sein. Christen haben Sehnsucht nach mehr Tiefe oder nach mehr Weite. Manchmal bringen solche Entwicklungswege ungeahnte Wachstumsschmerzen mit sich. Denn Christenmenschen können sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln. Für die einen bedeutet Wachstum im Glauben eine immer konsequentere Umsetzung ihres Glaubens in allen Lebensbereichen. Für andere besteht Wachstum nicht zuletzt auch darin, eigene Glaubensüberzeugungen selbstkritisch hinterfragen zu können. Manche Christen wollen raus aus dem, was sie im Rückblick auf ihr bisheriges Glaubensleben als Enge empfinden. Sie haben das Gefühl, viel zu viele Fragen unterdrücken zu müssen, und leiden unter der Sprachlosigkeit in ihren Gemeinden. Andere sind betroffen über solche Ausbruchsversuche. Sie fühlen sich durch solche Formulierungen angegriffen und missverstanden. Aus ihrer Sicht sollte man nicht von Weite reden, wo man die enge Pforte breit machen möchte. Sie weisen den Vorwurf zurück, dass diejenigen, die den schmalen Weg gehen wollen, eine Verengung des Glaubens betreiben. Es geht ihnen nicht um Enge, sondern um Treue und Verbindlichkeit. Was für die einen Wachstum ist, empfinden andere als Verhärtung oder Verfall. Derselbe Glaube erscheint einigen als fest, anderen als eng. Was die einen Freiheit nennen, ist in den Augen der anderen Beliebigkeit.
Solche gegenläufigen Entwicklungen können Gemeinden oder auch ganze Glaubensgemeinschaften lähmen. In wohl allen Religionsgemeinschaften gibt es heute unterschiedliche Vorstellungen von Glaubenswachstum. Die vatikanischen Familiensynoden 2014-15 haben gezeigt, dass der Umgang mit Ehe und Familie in der römisch-katholischen Kirche strittiger ist, als es das Selbstbild der einen Kirche zulässt. Fragen der Sexualethik oder der Ordination von Frauen lassen die anglikanische Weltkirchengemeinschaft seit vielen Jahren erhebliche Auseinandersetzungen erfahren. Im Herbst 2017 kam es auf der Synode der Evangelischen Amtskirche in Württemberg zu großen Spannungen, ob es eine Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren geben darf oder nicht. Ein Ende dieser Polarisierungen ist nicht abzusehen.
Christen driften auseinander. Diese innerchristlichen Konflikte sind eingebettet in umfassendere Auseinandersetzungen in der heutigen Gesellschaft. Nach dem Ende des Kalten Krieges (1989 / 91) riefen manche ein postideologisches Zeitalter aus. Das Wiederaufflammen ethnischer und militärischer Konflikte auf dem Balkan erschien wie ein letztes Aufbäumen alter Dämonen, die Europa viel zu lange im Griff hatten. Viele träumten nun von einer Konsensgesellschaft, einer neuen Mitte, in der die alten ideologischen Grabenkämpfe des 20. Jahrhunderts überwunden werden sollten. Nicht mehr links oder rechts wollten viele sein, sondern vorne, pragmatisch und zukunftsorientiert. Politiker wie Tony Blair, Gerhard Schröder und Bill Clinton verkörperten um das Jahr 2000 diesen Anspruch der Integration in der politischen Mitte.
Auch im Christentum lassen sich Parallelen zu diesem Trend finden. Die konfessionellen Streitigkeiten der Vergangenheit wurden mehr und abgelöst durch einen Geist des Dialogs. Die weitgehende Einigung in Fragen der Rechtfertigungslehre im Jahr 1999 macht dies deutlich. In der evangelikalen Welt gelang in Deutschland eine Versöhnung von pfingstlich-charismatischen Christen mit Pietisten und Freikirchlern, etwas, das wenige Jahrzehnte früher undenkbar gewesen wäre. Die Evangelische Allianz verstand sich als eine Einigungsbewegung. Inzwischen hat sich der Wind gedreht. In vielen Bereichen der Gesellschaft ist heute die Sehnsucht nach Profilbildung erheblich größer als die nach Konsensfindung. Nicht die Integration aller Flügel, sondern die Polarisierung der Lager bestimmt in vielen Bereichen dieser Welt die politische Öffentlichkeit. Auf entsprechende Beispiele in der christlichen Welt wurde am Anfang verwiesen.
Der Titel dieses Buches, Weiterglauben, markiert diese Spannung: Die einen sehnen sich nach mehr Weite im Glauben; andere empfinden solche Weite als Auflösung, sie wollen am Glauben weiter festhalten. „Weiter“ lässt sich temporal und lokal verstehen: lokal im Sinne von mehr Weite, Flucht aus der Enge, aber eben auch temporal, weiter im Sinne von weiterhin glauben, den Glauben nicht verlieren wollen. Dieses Buch handelt von der Frage, ob und wie beides gelingen kann.