Читать книгу Abseits - Thorsten Fiedler - Страница 12
VIER
ОглавлениеLehrer Zenker hatte auf seinem Rechner mehrere Ordner mit freizügigen Bildern von Steffi Gerber, aber auch von einem anderen Mädchen angelegt. Rüdiger Salzmann stand von seinem Schreibtischstuhl auf, ging zur Tür seines Büros und schloss sie. Das tat er nur sehr selten, aber schon bei der ersten schnellen Sichtung des Materials hatte er festgestellt, dass es viele Bilder zu überprüfen gab, bei denen man besser im geschlossenen Raum agierte.
Er wunderte sich darüber, wie die Ordner benannt waren. Es wirkte, als habe Steffi die Ordner selbst beschriftet nach dem Muster: „Steffi/privateBilder/12/2018“. Und es gab für jeden Monat einen neuen Ordner.
Die Bilder wirkten fast alle, als seien sie von einem professionellen Fotografen erstellt worden. Hatte Steffi die Bilder etwa selbst gemacht oder machen lassen und sie dann Klaus Zenker gegeben? Oder hatte der Lehrer die Bilder aufgenommen? Hatte er das Mädchen dazu gezwungen? Gegen Letzteres sprach die Tatsache, dass das Mädchen für den Fotografen zu posieren schien und dass sich auch etliche offensichtliche Selfies unter den Fotos befanden.
Irgendwie wurde Salzmann daraus nicht schlau. Vielleicht hatte Adi doch nicht ganz unrecht. Vielleicht handelte es sich um eine Beziehung zwischen Lehrer und Schülerin. Da Steffi Gerber volljährig war, wäre dies zumindest nicht strafbar gewesen. Die Fahndung nach ihr lief immer noch auf Hochtouren. Die Zeitungen berichteten fast täglich über das verschwundene Mädchen, viele Radiosender waren eingebunden und verfügbare Polizisten gingen in einem großen Radius rund um den Offenbacher Schlachthof von Haus zu Haus und befragten die Anwohner.
Das Mädchen war nun bereits seit sechs Tagen verschwunden …
Sina Fröhlich hatte zwar kein gutes Gefühl dabei, nach Oberursel zu fahren, aber sie wollte endlich Gewissheit haben. Die Klinik Hohe Mark war unter anderem dafür bekannt, Depressionen und Traumafolgestörungen zu behandeln.
An diesem Ort versuchte die Gerichtsmedizinerin Clarissa Wegner, die schlimmen Folgen einer brutalen Vergewaltigung durch einen Serienmörder zu überwinden. Mehr tot als lebendig war sie damals am Ufer des Mains aufgefunden worden. Dass sie überhaupt überlebt hatte, grenzte an ein Wunder. Das Ganze hatte sich im Mai 2019 ereignet, seitdem wurde Clarissa in unterschiedlichen Kliniken behandelt.
Sina war ziemlich angespannt, sie wusste überhaupt nicht, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Im Prinzip wollte sie sich einfach als Kollegin ausgeben, doch vielleicht hatte Adi ja von ihr erzählt und Clarissa wusste Bescheid über die damals beginnende Beziehung. Vielleicht war es besser, einfach wieder umzukehren. Doch schließlich gab sie sich einen Ruck und ging Richtung Fahrstuhl. Bevor sie einstieg, kaufte sie am Klinik-Kiosk eine Illustrierte.
Clarissa Wegner hatte ein Einzelzimmer. Auf Sinas Klopfen folgte ein leises „Herein“.
Sina steckte den Kopf durch die Tür. „Hallo Frau Wegner. Mein Name ist Sina Fröhlich. Ich bin eine Kollegin von Adi Hessberger. Darf ich reinkommen?“
Clarissa setzte sich im Bett auf. „Oh, ich bekomme nicht oft Besuch … Aber gerne.“
Sina betrat das Zimmer und schaute sich um. Der Raum war etwas größer, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Die Wände waren in einem warmen Braunton gestrichen. Neben dem Bett gab es einen kleinen Besuchertisch mit zwei Stühlen, eine Stereoanlage und einen großen Fernseher. Im hinteren Bereich schloss sich ein großes, hell gefliestes Badezimmer an.
„Schön haben Sie es hier.“
„Wollen wir uns nicht duzen?“
„Natürlich, gern, ich bin Sina.“
„Clarissa. Was führt dich zu mir? Äh, wenn du magst … Es gibt Kaffee und Tee für Besucher auf dem Gang. Ich würde auch eine Tasse Kaffee nehmen.“
Mit zwei Bechern und einer Ladung Zuckertüten kam Sina wieder zurück. Mittlerweile lag die Patientin nicht mehr im Bett, sondern hatte sich an den kleinen Tisch gesetzt. „Wie geht es Adi und seinen Kollegen?“
Sina überlegte, wie sie am besten anfangen sollte. „Adi geht es gut. Im Prinzip redet er den ganzen Tag nur über den OFC, ja, und Rüdiger hat ein paar Kilo zugenommen.“
„Und der Rest, der vom damaligen Team übrig geblieben ist?“
Sina legte ihr die Hand auf den Arm und sagte mit beruhigender Stimme. „Allen geht’s gut, auch wenn sie permanent überlastet sind. Aber gestern hat schon ein neuer Kollege angefangen.“
„Wenn ich nur ans Präsidium denke, fange ich schon wieder an zu zittern.“
„Sollen wir lieber über etwas anderes sprechen? Ich möchte nicht, dass du dich aufregst.“
Doch Clarissa wollte unbedingt über die Geschehnisse von damals sprechen. „Es ist einfach schlimm, dass ich manche Dinge nur vom Hörensagen kenne, und die eigene Erinnerung spielt mir manchmal Streiche. Mein Psychologe nennt es den körperlichen Schutzschild, der verhindert, dass ich verrückt werde. Doch diese Geschehnisse sind ein Teil meines Lebens, auch wenn ich mir wünschte, dass dieser grausame Teil nie stattgefunden hätte. Wie wäre es, wenn du mir erzählst, was sich ereignet hat, während ich in der Klinik lag? Im Gegenzug berichte ich über die Zeit, als du im Koma lagst.“
Sina konnte kaum glauben, dass sie so schnell zum Ziel gekommen war. Clarissa war erschüttert, als ihr Sina den ganzen Umfang der Mordserie vor Augen führte – die perfide Inszenierung und das Katz-und-Maus-Spiel der Mörder mit der Polizei. Clarissa war froh, dass wenigstens ein paar Kommissare der Abteilung überlebt hatten, vor allem freute sie sich, dass es Adi Hessberger gut ging. Tränen schlichen sich aus ihren Augen, was Sina natürlich nicht entging.
„Hattest du eigentlich was mit Adi?“, fragte sie ganz direkt.
„Wir hatten eine kurze, aber heftige Affäre. Adi ist ein toller Mann und ich glaube, viele Frauen sehen das genauso.“
Sina versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als sie weiterbohrte. „Warum bist du nicht bei ihm geblieben, wenn es so gut lief?“
„Adi macht einfach sein Ding. Als ich eine Nacht bei ihm verbracht hatte, stand er morgens auf und meinte, ich könne so lange liegen bleiben, wie ich wollte, aber er würde jetzt zu einem Fußballspiel gehen, und dann war er auch schon verschwunden. Nie zuvor hat mich ein Mann in dieser Form einfach stehen lassen, außerdem habe ich kurze Zeit später gemerkt, dass er eine Andere liebt – und zwar dich! Mir war völlig klar, dass ich gegen dich und den OFC keinerlei Chancen habe. Ich hoffe jetzt, dass du mich nicht hasst, weil ich dir reinen Wein eingeschenkt habe, aber irgendwann wäre die Wahrheit sowieso ans Licht gekommen.“
Sina versuchte krampfhaft, sich zusammenzureißen. „Ich kann dich verstehen.“ Sie seufzte. „Du hast natürlich recht: Adi ist echt ein toller Typ, wahrscheinlich hat er nicht mehr daran geglaubt, dass ich jemals wieder aus dem Koma erwachen würde.“ Sie stand auf. „Aber jetzt habe ich dich lange genug drangsaliert. Ich hoffe, dass es dir bald besser geht.“ Sie nahm ihren Mantel, drückte Clarissa die Hand und verließ fluchtartig das Zimmer.
Niemand sollte die Tränen sehen, die ihr unaufhaltsam über die Wangen liefen …