Читать книгу Abseits - Thorsten Fiedler - Страница 7
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Dienstag, 21.01.2020, Offenbach
Kriminalhauptkommissar Adi Hessberger holte sich eine Flasche Offenbacher Bier aus dem Kühlschrank, prüfte die Temperatur und war mehr als zufrieden. Gut durchgekühlt. Während er einen Öffner aus der Schublade nahm, beobachtete er aus den Augenwinkeln Sina Fröhlich, die im Flur stand, ihre Handtasche durchsuchte und die Autoschlüssel herausnahm.
„Hast du heute Abend noch was vor, meine Schöne?“
„Nein, aber ich muss mir noch Klamotten fürs Wochenende holen.“ Sie betrat die Küche, strich ihm über die Wange und gab ihm einen Kuss.
„Ach blöd“, entwich es Adi. „Ich hatte mich so auf einen gemütlichen Fernsehabend mit dir auf der Couch gefreut.“
„Ich bin in spätestens ein, zwei Stunden wieder hier …“
„Warum ziehst du nicht hier ein? Das will mir einfach nicht in den Kopf.“ Er öffnete die Flasche und nahm einen großen Schluck seines Lieblingsgetränks.
„Ach Adi …“. Sie seufzte. „Das haben wir doch schon dreimal besprochen. Ich brauch einfach noch etwas Zeit, nach allem, was passiert ist.“
Sie spielte auf die beiden vorangegangenen Fälle an, die die Kripo Bieberer Berg gelöst hatte. Wenn er ehrlich war, lagen sie auch Adi noch im Magen, und das würde wohl noch eine ganze Weile so bleiben.
„Ja, ja, ja, ist ja schon gut“, antwortete er. „Aber es wäre doch alles viel entspannter. Weißt du, wie ich das meine?“
„Manchmal kannst du ganz schön nerven. Ist heute kein Fußball im Fernsehen?“
„Nur Premier League, Chelsea gegen Arsenal, und darauf kann ich gern verzichten. Aber du lenkst ab, lass es uns doch einfach mal probieren. Was meinst du? Wenn es nach drei Wochen nicht klappt, sage ich nie mehr was, okay?“
Sina strich ihm wieder über die Wange und grinste. „Du kannst es wohl nie lassen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal auf einen so hartnäckigen Mann abfahren würde.“ Sie machte sich auf den Weg zur Tür.
„Tja, muss wohl mein besonderer Offenbacher Charme sein“, rief er ihr nach. „Also was ist jetzt?“
Aber da hörte er schon die Haustür zufallen.
Die Kamera erfasste das maskenhaft wirkende Gesicht. Leblose Augen starrten ins Objektiv, dann schwenkte das Bild um 180 Grad auf den Main und wandelte sich innerhalb weniger Sekunden zu einer Idylle, die trügerischer nicht sein konnte. Die Sonne spiegelte sich im dunklen Wasser und ein Schwan zog majestätisch seine Kreise.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und kam ins Grübeln. Sie waren selbst schuld. Warum hatten sie sich nicht an die einfachsten Regeln gehalten? Jetzt musste er diese Fehltritte reglementieren.
Ein leicht unangenehmer Geruch im Raum wurde überlagert von einem billig riechenden Parfum. Eine Fliege setzte sich mitten auf die Stirn des Mädchens, aber es reagierte nicht. Ihr Blick ging ins Leere.
Mittwoch, 22.01.2020, Offenbach
Das Haus war umgeben von hohen Tannen, die das Mondlicht kaum durchdringen konnte. Ein leichter Wind sorgte dafür, dass sich die Äste auf und ab bewegten. Ihre Schatten verliehen dem Schauplatz etwas Gespenstisches. Hessberger und Fröhlich hofften darauf, dass ein Bewegungsmelder die Außenbeleuchtung anschalten würde, doch es blieb dunkel, als sie sich der Eingangstür näherten. Das Haus schien in tiefem Schlaf zu liegen. Die Stille war förmlich greifbar. Sie klingelten mehrmals, doch niemand öffnete.
Es war kein Problem gewesen, den Durchsuchungsbeschluss zu bekommen. Der Tatverdacht beruhte zwar auf anonymen Hinweisen, die vielen Details verrieten jedoch deutliche Insiderkenntnisse. Weitaus schwieriger wäre es, auf die Schnelle einen Schlüsseldienst organisieren zu müssen.
Einige Minuten später standen sie vor der offenen Tür. Sina schaute Adi bewundernd an. „Wie hast du das denn hinbekommen?“
„Einbruchsseminar online“, grinste Hessberger und ging hinein.
Da keiner der Lichtschalter funktionierte, waren ihre Handys die einzigen Lichtquellen. Die beiden begutachteten Raum für Raum, auf der Suche nach Hinweisen und dem Sicherungskasten. Als Hessberger ihn endlich fand und die Sicherungen umlegte, verlor die Umgebung augenblicklich ihre Düsternis. Sie setzten ihre Erkundigungen im Erdgeschoss und der oberen Etage fort, zuletzt blieben nur noch die Kellerräume übrig. Das Treppenlicht spendete nur wenig Helligkeit und je tiefer sie hinabstiegen, desto dunkler wurde es. Sina hielt unwillkürlich den Atem an, als sie die knarrenden Stufen mit den Füßen berührte. Plötzlich standen sie vor einer schweren Metalltür. Adi drückte die Klinke langsam herunter und öffnete sie mit einem quietschenden Geräusch. Ihre Nerven waren aufs Äußerste gespannt. Mit entsicherten Waffen betraten sie vorsichtig den Raum. Sina lief der Schweiß den Rücken hinunter, sie umfasste den Griff ihrer Dienstwaffe fester. Unvermittelt wurden sie von einem Blitz geblendet …
Der Kellerraum war mit einer Alarmanlage gesichert. Das grelle Licht und der betäubende Lärm sorgten dafür, dass die Kommissare einige Minuten brauchten, bis sich ihre Atmung wieder normalisiert hatte.
In dem Raum gab es mehrere Bildschirme und Computer. Überall standen Ordner herum. Auf einem Monitor, der eingeschaltet war, sahen sie ein Mädchen mit langen, blonden Haaren, strahlend blauen Augen und einer sehr guten Figur. Sie war nackt.
Also hatte der Lehrer, dessen Haus sie gerade durchsuchten, gelogen, als er von Verleumdung sprach. Adi hatte dem Mann tatsächlich geglaubt. Er hatte einen ehrlichen Eindruck gemacht. Familienmensch, zwei Kinder, untadeliger sozialer Hintergrund. Was veranlasste einen Menschen nur, solche Dinge zu tun?
Und warum war das Haus leer und verlassen? Wo waren die Frau und die Kinder? Ihr Verdächtiger hatte sich nach seiner Vernehmung aus dem Staub gemacht. Die anonymen Hinweise hatten für eine Festnahme nicht ausgereicht. Jetzt aber hatten sie genug Material, um ihn in Untersuchungshaft zu stecken. Zuallererst mussten sie aber herausfinden, wer das Mädchen war …
Donnerstag, 23.01.2020, Offenbach, Waldstraße
Am nächsten Tag standen die Kommissare im Direktorat des Albert-Schweitzer-Gymnasiums. Der Schulleiter wirkte etwas missgelaunt angesichts des Erscheinens der Polizei. Zuerst fing er mit dem Thema Datenschutz an, aber Hessberger ließ ihn gar nicht erst ausreden und zeigte dem verdutzten Rektor kommentarlos die Bilder, die sie am Tag zuvor sichergestellt hatten.
„Wie kommen Sie an solche Bilder? Das ist Steffi Gerber aus der Dreizehn. Ich schau mal nach, in welchem Kurs sie im Augenblick ist. Ja, hier haben wir es schon, Chemie in Raum 202, im zweiten Stock. Könnten Sie vielleicht noch warten, bis der Unterricht zu Ende ist?“
„Nein, das können wir nicht!“, antwortete Hessberger kurz angebunden und schon machten sie sich auf den Weg. Zu Sina gewandt sagte er hinter vorgehaltener Hand: „Ich kann dieses überhebliche Pädagogengetue einfach nicht ab. Das macht mich sofort aggressiv.“
„Wenn du es nicht angesprochen hättest, wäre es mir überhaupt nicht aufgefallen“, entgegnete Sina mit einem frechen Grinsen. Sie kannte Adi einfach zu gut und konnte in ihm lesen wie in einem offenen Buch.
Der Chemielehrer war zum Glück deutlich aufgeschlossener als der Herr Rektor. „Steffi ist heute nicht zum Unterricht erschienen. Das kam allerdings schon häufiger vor. Die junge Dame hat zwar vielfältige Interessen, Chemie gehört jedoch sicher nicht dazu.“
Im Sekretariat erhielten sie ohne Umschweife die Adresse der Schülerin. Steffi Gerber wohnte nicht weit von der Schule auf dem Gelände des alten Schlachthofs, eines der schönsten Gebäude, die Offenbach zu bieten hatte. Schon von Weitem konnten sie das Wahrzeichen, den ehemaligen Uhr- und Wasserturm, erkennen. Hessberger war immer wieder begeistert, wenn er vor den imposanten Backsteinfassaden stand. Er hätte sich sehr gut vorstellen können, in diesem Areal zu wohnen, doch die Mietpreise waren ihm einfach zu hoch.
Sie klingelten mehrfach, doch niemand schien zu Hause zu sein. So machten sie sich unverrichteter Dinge wieder auf den Weg ins Polizeipräsidium Südosthessen.
Rüdiger Salzmann erwartete sie sehnsüchtig, denn im Präsidium ging es drunter und drüber. Die Telefone klingelten in einem fort, und das bei einer äußerst dünnen Personaldecke. Durch einen Serienkiller waren die Mitarbeiter von Hessbergers Abteilung deutlich dezimiert worden, das machte sich jetzt bemerkbar. Zum Glück hatte ihnen die obere Etage für den nächsten Tag einen neuen Kollegen zugesagt. Auch ein neuer Gerichtsmediziner sollte im Laufe der kommenden Wochen seinen Dienst antreten.
Im Besprechungsraum fasste Rüdiger den Status quo des vorliegenden Falls zusammen.
„Klaus Zenker, Lehrer an der Albert-Schweitzer-Schule, wurde anonym beschuldigt, seine Schülerinnen sexuell zu belästigen und zu stalken. Bei der Vernehmung hat er uns glaubhaft versichert, diese Aussage entbehre jeglicher Grundlage. Und ganz ehrlich, ich hab’s ihm abgekauft. Nachdem er seine Aussage gemacht hatte, ließen wir ihn laufen, es gab keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Ein paar Stunden später gab es einen weiteren anonymen Hinweis, im Haus des Lehrers befände sich umfangreiches Beweismaterial. Das Haus habt ihr dann leer vorgefunden. Bis auf den Keller, der mit einer Alarmanlage gesichert war. Dort fand sich ein Laptop mit Bildern der verschwundenen Schülerin. Es handelte sich dabei um professionell aufgenommene Erotik- beziehungsweise Nacktaufnahmen. Damit ist schon mal klar, dass der anonyme Hinweisgeber recht hatte und Klaus Zenker uns angelogen hat. Jetzt sind beide verschwunden, Schülerin und Lehrer.“
„Danke für die treffende Zusammenfassung, Rüdiger“, sagte Hessberger. „Sobald der neue Kollege eintrifft, werden wir uns aufteilen. Zuerst befragen wir die Nachbarn von Steffi Gerber und Klaus Zenker. Sollten wir ihn in den nächsten zwei Tagen nicht finden, schreiben wir ihn zur Fahndung aus. Obwohl ich das nur ungern tue, denn wenn wir offiziell gegen ihn vorgehen und am Ende ist er vielleicht doch nicht schuldig, wird er den Makel nie wieder los.“