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Kapitel 6

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Für den Rest der Nacht bekam er kaum ein Auge zu.

Hin und wieder dämmerte er auf der Couch ein und hetzte durch unzählige Albträume, in denen Holly gesichtslose Monster und glitschige Nachkommen zur Welt brachte. Dinge, die in seinen Schoß krochen und sich dort wie Babyquallen einkuschelten, nass und stechend.

Jedes Mal erwachte er zitternd, heiß und kalt zugleich, sein Bauch voll scharfer, schneidender Klingen. Schließlich gab er auf und stellte sich vollkommen erschöpft und ausgelaugt einem weiteren Tag, ausgemergelt wie ein alter Teppich, der zu viele Füße und zu viele Jahre gesehen hatte. Er klopfte sich den Staub ab und brühte sich eine Kanne Kaffee auf. Schwarz, stark. Nach der zweiten Tasse fühlte er sich ein wenig besser. So gut eben, wie es ihm zurzeit ging. Er hatte schon lange nichts gegessen, aber bei dem Gedanken an Essen wurde ihm übel. So saß er am Küchentisch und beobachtete, wie die Sonne einem großen, brennenden Auge gleich über die Baumwipfel stieg und den Dächern, Gärten und ruhigen Straßen Farbe verlieh.

Er trank seinen Kaffee und rauchte eine Zigarette in dem Wissen, dass er es vor Jahren aufgegeben hatte, jedoch ohne Erinnerung daran, wann er wieder damit angefangen hatte. Währenddessen verwoben sich seine Gedanken zu Wandteppichen des Wahnsinns, nahtlos und engmaschig wie fleischgewordene Verrücktheit. Er dachte an Dr. Frazer, Hollys Gynäkologin, und was sie dazu sagen würde, wenn er ihr anvertrauen würde, was mit seiner Frau geschah. Dann dachte er an einen Exorzisten. Und schließlich überlegte er, sie einweisen zu lassen, obwohl er wusste, dass der Einzige, den man einweisen würde, er selbst war.

Die Zeit verflog, die Kaffeekanne leerte sich und der Aschenbecher füllte sich, und dennoch fand er keine Antworten. Richard versuchte sich ihnen aus allen Blickwinkeln zu nähern, betrachtete jeden Winkel seines Geistes, jedes Schlupfloch der Realität, doch es gab keine Lösung. Nichts machte mehr Sinn. Es gab für all das keine vernünftige Erklärung. Er konnte nichts tun, als zu rauchen, seine Nägel abzukauen und leise verrückt zu werden. Was hier geschah, gehörte nicht in die reale Welt. Eine Erklärung ließ sich nur im Übernatürlichen finden, in finsteren Schränken und noch finsteren Kellern; Orten, an denen das Licht der Vernunft nicht schien. Dort musste Richard suchen, wenn er Antworten finden wollte. Denn nur an diesen Orten, den unbeleuchteten Tiefen seines Geistes, würde er in der Lage sein, die schleimigen und widernatürlichen Wahrheiten zu erfassen, sie zu studieren und mit der Erkenntnis nach Luft zu schnappen.

Etwa gegen zehn läutete die Glocke.

Und mit ihr erschienen die geheime Furcht und der mystische Schmerz, die Richard so gut kannte. Die Glocke läutete immer noch. Blechern und schrill rief sie ihn herbei. Seine Hände zitterten, sein Nacken war feucht vor Schweiß und sein Magen schmerzte buchstäblich, als ob er ein Heroinabhängiger auf kaltem Entzug wäre. Etwas in ihm wand sich so fest, dass er glaubte, allein die innere Spannung würde ihn zerreißen. Sollte das geschehen, würde er zu einem unordentlichen Haufen verknoteter Schnüre und verworrener Drähte zerfallen.

Die Glocke.

Sie rief ihn.

Verlangte nach ihm.

Er drückte seine Zigarette aus und entschied, dass durchzudrehen einfach keine Option war.

Er musste sich dem entgegenstellen, was immer es war, es identifizieren und nur dann … nur dann konnte er hoffen, es unter sich zu zermalmen.

Am Fuße der Treppe zögerte er.

Er konnte das Böse nicht riechen.

Es nicht fühlen.

Oben angekommen hielt er wieder inne. Dennoch spürte er da nichts außer seiner Frau.

Er dachte sich: Jetzt ist es nur Holly. Lass sie nicht sehen, was in deinen Augen steht. Lass sie nicht ahnen, woran du denkst. Sie weiß von nichts und die Wahrheit würde sie zerstören, genau wie sie dich zerstört. Lass dir nichts anmerken.

Und hinter der Tür?

Nur Holly, die dort mit Kissen in ihrem Rücken saß. Sie hatte die Arme verschränkt und die blauen Augen verengt. »Du bist mir ja vielleicht ein Krankenpfleger, Richard. Dr. Frazer sagt mir, ich soll im Bett bleiben, also tue ich das. Sie sagt dir, du sollst dich um mich kümmern, und du bist nirgendwo zu finden. Das Baby und ich sind halb am Verhungern. Und wo bleibst du?«

Richard versuchte zu lächeln, erst jetzt erkennend, wie anstrengend es war, diese Gesichtsmuskeln zu bewegen. »Es tut mir leid, Liebling. Ich habe meinen Kaffee getrunken und Radio gehört.«

Sie schnüffelte in der Luft. »Und geraucht? Oh Richard, du rauchst doch nicht wieder, oder?«

»Schuldig im Sinne der Anklage.«

»Na schön, aber tue es draußen.« Sie betrachtete ihn und sah etwas, auch wenn sie nicht wusste, was. »Ich frage mich, ob du nicht derjenige sein solltest, der ins Bett gehört. Tut mir leid, wenn ich das sagen muss, aber du siehst scheiße aus.«

»Erneut schuldig. Ich schlafe kaum.«

»Hmm. Na gut, hol mir mein Frühstück und dann kannst du ein Nickerchen machen.« Holly begann an ihren Fingern abzuzählen. »Ich möchte zwei Stück Toast mit Marmelade, Cornflakes und eine Tasse von meinem Kräutertee. Ich glaube, das reicht … warte, wie wäre es noch mit etwas Rührei?«

»Bekommst du.«

Vielleicht stimmt ja wirklich etwas nicht mit mir, dachte er. Sie scheint völlig normal zu sein.

»Und Richard? Sei so lieb und öffne das Fenster … es riecht etwas komisch hier.«

Er tat alles, was sie von ihm verlangte, und zwar gern. Sie so zu sehen, erfüllte ihn mit Hoffnung und beruhigte seine Nerven. Jesus, vielleicht litt er an einer Art Fieber. Vielleicht war es besser, mit dem Koffein und Nikotin aufzuhören, drei Mahlzeiten am Tag zu sich zu nehmen und sich etwas Schlaf zu gönnen. Er bereitete ihr das Essen und pfiff dabei die ganze Zeit. Dann stellte und legte er Geschirr und Besteck auf ein altes Tablett, das sie einst auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Als er wieder ins Zimmer kam, las sie erneut in dem Hexenbuch, während die Luft dort drin stickig und unangenehm war.

»Holly?«, fragte er, obwohl er es bereits wusste.

Sie sah zu ihm auf, ihre Augen wie dreckige Münzen schimmernd. »Na endlich, Richard. Es wird höchste Zeit, dass du auftauchst, verdammt noch mal.«

Die Vettel war wieder da.

Sie warf ihm tödliche Blicke zu, die ihn innerlich bluten ließen. Er konnte kaum das Tablett halten, als ihn die metallischen Blicke des Hollydings durchbohrten, sich in seine Eingeweide fraßen und seine Seele vergifteten. Er versuchte einzuatmen, aber die Luft war staubig und bröcklig, seine Lungen voller Flocken. Holly blinzelte nicht, bewegte sich nicht einmal … eine blinde, unzüchtige Kreatur, die jemand auf die Werbefläche eines Freakzirkus gemalt hatte, mit starrenden Augen und einem Lächeln voller knirschender, gelber Zähne.

»Bring mir mein Essen«, sagte sie schließlich. »Und schließe das verdammte Fenster, bevor ich mir den Tod hole.«

Mit einem Bauch voller geronnener Sahne ging Richard zum Bett und stellte das Tablett vor seiner Frau ab. Wie ein Roboter stolperte er zum Fenster hinüber und schloss es. Plötzlich regte sich etwas in ihm, ein unterdrückter Zorn, er packte den Griff und stieß das Fenster zur Gänze auf.

»Ich sagte …«

»Ich habe gehört, was du gesagt hast«, entgegnete er, wandte sich um und erwiderte ihren kühlen Blick ebenso kalt. »Ich bin lediglich anderer Meinung.«

Ihre Reaktion ließ nicht auf sich warten.

Er kannte Holly acht Jahre lang. Was dort auf dem Bett saß, war nicht Holly. Ihr Gesicht war wie ein fahler Mond, umringt von einem Kranz aus totem Stroh, das man einst Haar genannt haben mochte. Ihre Augen waren rot angeschwollen und die Augäpfel selbst von einem schmutzigen und angelaufenen Silber. Ihr Mund hatte sich zu einem grässlichen Zähnefletschen verzogen.

Richard wäre fast umgefallen.

Und dann fiel er tatsächlich, als das Fenster zuknallte, welches er eben erst geöffnet hatte, und sich feine Risse durchs Glas zogen. Eine Vase mit vertrockneten Blumen zersprang auf dem Tisch und ließ grüne Glassplitter auf den Teppich regnen.

Holly kreischte: »Du bist nicht derjenige, der hier die Entscheidungen trifft! Du wirst mir nicht sagen, was zu tun ist und was nicht! Ich werde diejenige sein, die das Sagen hat! Ich werde das Sagen haben, nach dir rufen und die Zucht übernehmen! Verstehst du das, du kleiner, verfickter Wurm? Und was ich tue und was ich heranzüchte, ist nichts, von dem du jemals wissen willst!«

Richard hatte sich hochgezogen und lehnte zur Unterstützung an der Wand. »Wo ist meine Frau? Was hast du mit meiner Frau gemacht?«

»Es geht nicht darum, was wir mit deiner Frau gemacht haben, sondern was wir mit ihr tun werden.« Sie begann zu lachen und das Tablett mit Essen flog durch die Luft und prallte gegen die Wand. Tee, Eier und Cornflakes liefen als schleimige, nasse Schweinerei die Vertäfelung hinunter. Richard konnte nicht behaupten, dass er gesehen hatte, wie sie es geschmissen hatte. Nach allem, was er erlebt hatte, konnte es sich genauso gut selbst geschmissen haben. »Jetzt bring mir Essen, und zwar Essen, das ich mag. Ich will Fleisch, Richard. Nicht gekocht oder geräuchert, sondern roh und saftig, schön marmoriert. Lass nicht das Blut abtropfen. Ich will das Salz des Fleisches schmecken und die roten Säfte schlürfen. Verstehst du, was unsere Babys brauchen?«

Richard stolperte zur Tür. Jegliche Kraft, die er in sich gefunden hatte, war verflogen. »Bitte …«

»Halt die Klappe! Hör auf, so zu kriechen und zu kauern. Du machst mich krank, verdammt noch mal!«, sagte Holly. »Und Richard? Lass dir eines sagen. Ich will keinen Aufstand mehr oder das, von dem du träumst, wird wahr, und was sich in deinem Schoß windet, wird dich beim Namen nennen.« Sie gackerte dann, ein Geräusch wie das Knirschen von Glas unterm Schuh oder Messerklingen auf rostigem Eisen. »Verärgere uns nicht, Richard!«

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