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Den Wurm im Apfel lieben lernen
ОглавлениеDer Wurm ist gemeinhin das Symbol für Tod und Verfall und gleichzeitig des Neubeginns im ewig währenden Reigen des Lebens. Vor Kurzem wurden in unserem Dorf Rheinbreitbach zwei Tage lang die Höfe für einen großen Flohmarkt geöffnet. Über 240 Haushalte beteiligten sich und es kamen sogar Besucher aus dem fernen Köln. Wir waren natürlich auch dabei, mit ein wenig Trödel und einigen Gläsern Honig. Unter den Menschen, die unserem Hof einen Besuch abstatteten, war auch eine junge Mutter mit ihrem schätzungsweise zehnjährigen Sohn. Ich zeigte den beiden das Naturereignis eines riesigen Wespenschwarms in unserem Maulbeerbaum. Seit Tagen krabbelten die Tiere emsig und eigentlich völlig friedlich über dessen Blätter und knabberten an ihrer Oberfläche, ohne dass wir uns einen Reim darauf machen konnten. Der Junge hielt dabei einen grünen Apfel in der Hand und biss gerade herzhaft hinein, als er plötzlich das abgebissene Stück in hohem Bogen ausspuckte und den Apfel von sich schmiss. Im ersten Augenblick dachte ich, eine Wespe hätte ihn in den Mund gestochen. Das war es zum Glück aber nicht. Vielmehr hatte der Junge im angebissenen Apfel einen Wurm entdeckt und war zutiefst schockiert. Gemeinsam betrachteten wir den Wurm, der nun hilflos und todgeweiht, seines Apfels beraubt, über die Betonplatten unseres Innenhofs kroch.
Der »Wurm« war in Wahrheit eine Schmetterlingsraupe des Apfelwicklers. Sie ist etwa zwei Zentimeter lang, hat kleine schwarze Warzen auf dem Körper und einen dunkelbraunen Kopf. Bei näherer Betrachtung sieht sie recht hübsch aus. Der ausgewachsene Schmetterling ist etwa einen Zentimeter lang, bei einer Flügelspannweite von bis zu 22 Millimetern. Von weitem betrachtet ist der kleine Wickler von eher unscheinbarer, grauer Farbe. Bei näherem Hinsehen offenbart sich eine faszinierende Musterstruktur innerhalb der unterschiedlichen Grautöne. Jedes Jahr werden zwei Generationen dieser Schmetterlinge geboren. Die erste zwischen Mai und Juni, die zweite zwischen August und September. Die Larven der zweiten Generation sind es, die entweder über die Fruchthaut oder über den verholzten Blütenstand in die Frucht eindringen, sich an Fruchtfleisch und Kerngehäuse laben und naturgemäß alles zukoten. Das Schmetterlingsweibchen legt ab Juli die dreißig bis sechzig Eier dieser zweiten Generation genau auf den unreifen Äpfeln ab. Nach sieben bis 15 Tagen schlüpfen die Raupen. Überwinternde Raupen sind ein wichtiges Nahrungsmittel für unsere Singvögel, die wir so lieben, wie etwa die Blaumeise.
Der Apfel, in den der kleine Junge gebissen hatte, stammte wohl von einem der Apfelbäume in Rheinbreitbach und ganz sicher nicht aus der intensiven Landwirtschaft. In Äpfeln aus dem Handel findet man die Raupe des Apfelwicklers praktisch nie, denn man rückt dem vermeintlichen Schadorganismus mit verschiedenen Methoden zu Leibe. Im biologischen Anbau kämpft der auf Äpfel spezialisierte Bauer mithilfe von Viren oder dem Einsatz von Fressfeinden, wie etwa dem Ohrenkneifer, verschiedenen Wanzen oder Schlupfwespen gegen die Schmetterlingsraupen. Auch die Verwirrmethode kommt zum Einsatz, wenn etwa massenhaft künstliche Sexuallockstoffe, also Pheromone, versprüht werden. Die sehr artenspezifisch einsetzbare Methode hat den Effekt, dass die Schmetterlingsmännchen, die mit Schmetterlingen im Bauch auf der Suche nach paarungsbereiten Weibchen sind, vor lauter Wohlgerüchen so verwirrt sind, dass sie die Angebeteten einfach nicht mehr finden können.
Konventionell, also mit gefährlichen Giften wirtschaftende Apfelbauern, entledigen sich der Raupen mit Larviziden wie Fenoxycarb, Methoxyfenozid oder Tebufenozid, die alle gemeinsam haben, dass sie die Häutung der Raupen stören und gefährlich für unsere Gewässer sind. Der Gebrauch von Fenoxycarb und Methoxyfenozid ist in Deutschland nicht zulässig, was aber natürlich nicht heißt, dass die Gifte nicht bei uns hergestellt werden dürfen. Nach Export und Anwendung im Ausland finden sie – wie so viele andere Gifte – durch importiertes Obst ihren Weg zu uns zurück.
Die konventionelle Landwirtschaft hat den Apfelwickler zum Schädling erklärt. Für Chemiekonzerne wie Bayer-Monsanto, BASF oder Syngenta hingegen ist er ein absoluter Nützling, weil er Garant für den Absatz ihrer chemischen Produkte ist. Was mir bei dem kleinen Knirps so viel Respekt einflößt, ist seine enorme Widerstandsfähigkeit gegen die chemische Keule, die seit Jahrzehnten gegen ihn geschwungen wird. Selbst Biowaffen hält er tapfer stand.
Dennoch bin ich fest davon überzeugt, dass es möglich ist, unsere Feindschaft mit diesem faszinierenden Insekt in eine Freundschaft umzumünzen. Auf den ersten Blick klingt das wie eine verrückte Idee. Dennoch müsste man sich keine Sorgen über Kundenschwund vor den Supermarktregalen machen, wenn dort angeekelt Äpfel voller Schmetterlingsraupen entdeckt würden. Aber der Reihe nach: Zuerst einmal muss man sich klarmachen, dass der Apfel das angestammte Biotop der Raupe des Apfelwicklers ist. Da wir es zusätzlich mit einer heimischen Tierart zu tun haben, sollten wir dem Schmetterling ein Recht auf diesen Lebensraum zugestehen. Sodann müssen wir uns fragen, wie er in die angestrebte Wiederherstellung der Artenvielfalt hineinpasst.
Generell werden Äpfel in drei Anbauformen kultiviert: Zum einen wäre da die Apfelplantage, zum anderen der private Garten und zum Schluss die Streuobstwiese. Auf der Plantage wird, wie oben beschrieben, rigoros gegen den Apfelwickler vorgegangen. Selbst manche Hobbygärtner spritzen ihre Äpfel, beziehungsweise greifen sie zu Mitteln der biologischen Schädlingsbekämpfung. Andere lassen der Natur ihren Lauf. Auf der Streuobstwiese, mit ihren alten, großen Bäumen lässt man in der Regel den lieben Gott einen guten Mann sein und unternimmt gar nichts gegen die Schmetterlinge, außer vielleicht ein paar Meisenkästen aufzuhängen.
Je industrieller Äpfel heute kultiviert werden, desto geringer ist auch die Artenvielfalt: Auf der Apfelplantage ist sie sehr gering. Im Hauptanbauland China gibt es Gegenden, in denen Insekten ausgerottet sind und künstlich mit der Hand für Bestäubung gesorgt werden muss. Die Plantage ist eine Monokultur und als solche sehr empfindlich. Da macht man als Apfelbauer gern alles unschädlich, was nicht Apfelbaum ist. Wildkräuter, die mit den Bäumen um Nahrung konkurrieren, werden genauso ausgemerzt wie apfelliebende Insekten oder Mäuse, die an den Wurzeln nagen.
Der Hausgarten ist da als Lebensraum schon wesentlich interessanter. Er ist kleinstrukturiert, und da jeder etwas anders gärtnert als der Nachbar gibt es eine große Vielfalt an Lebewesen. Als das Eldorado der Artenvielfalt gilt hingegen die Streuobstwiese. Hier tummeln sich Apfelwickler mit Steinkäuzchen, Baumschläfern, Hummeln und grasendem glücklichen Vieh. Auf Streuobstwiesen wird im Unterschied zu Kleingärten oder Plantagen auf den Hochstamm oder Halbstamm gesetzt. Im Erwerbsobstbau werden die Apfelbäume als Busch gehalten, der an Spalieren wächst. So lässt es sich leichter ernten und spritzen.
Den Unterschied zwischen den verschiedenen Wuchsformen macht die Wurzelunterlage. Der Busch wächst auf der sogenannten M9, die bereits 1917 in der englischen East Malling Research Station selektioniert wurde. Sie ist so etwas Ähnliches wie das Hybridhuhn für den Apfelbauern. Bäume, die auf diesem Wurzelstock wachsen, sind schwachwüchsig, sehr ertragreich, aber auch sehr empfindlich und müssen ein Leben lang mit einem Stock gestützt werden, sonst fallen sie um. Halbstämme hingegen wachsen auf Unterlagen, wie beispielsweise der M106, die einen mittelstark wachsenden Baum bildet, der schöne Früchte hat und gleichzeitig stabil ist.
Beim Hochstamm wird der Edelreis einer meist altbewährten Apfelsorte auf eine Sämlingsunterlage gepfropft. Man geht also hin, sät einen Apfelsamen aus, lässt ihn keimen und einen Schoss bilden, den man vor der Veredelung abschneidet. Auf die so gewonnene Wurzel pfropft der Baumschuler robuste, altbewährte Sorten, die oft nur regional verbreitet sind, wie etwa den Tulpenapfel. Sodann erzieht man das junge Stämmchen auf eine Länge von zwei Metern oder mehr, so dass man einen hohen Kronenansatz bekommt. Damit macht man nicht nur potenziellen Apfeldieben das Leben schwer. Hochstämme sind die stabilsten Bäume mit der höchsten Lebenserwartung.
Leider stammen die allermeisten Äpfel, die heute verkauft werden, von der lebensfeindlichen Plantage. Äpfel von Streuobstwiesen werden, wenn überhaupt, meist zu Saft verarbeitet. Sehr oft macht sich auch niemand die Mühe, sie aufzusammeln. Kühe oder Schweine, die das wertvolle Obst in Fleisch oder Milch umsetzen könnten, stehen in Ställen und fressen Soja von gigantischen Monokulturen, die auf gerodeten Urwaldflächen gedeihen.
Dabei wäre es kein Problem, den gesamten Bedarf an Äpfeln mit Hochstämmen zu decken, die in artenreicher Umgebung wachsen. Wo wir wieder bei unserem Apfelwickler wären. Wenn wir ihn als das akzeptierten, was er nun einmal wirklich ist, nämlich ein wichtiger Baustein des Lebens, der zum lebensspendenden Apfelbaum einfach dazugehört, wäre dies auch für unsere Gesundheit viel besser. Es leben allein in Deutschland rund vier Millionen Menschen, die allergisch auf Äpfel reagieren. Die Symptome können durchaus drastisch sein: Atemnot, Anschwellung der Mundschleimhaut, der Zunge oder des Rachens und Quaddelbildungen auf der Haut, um nur einige zu nennen. Die alten Sorten auf Hochstämmen hingegen sind auch für Apfelallergiker oft problemlos essbar. Vor allem, wenn sie rot sind, enthalten sie wenig Allergene. Wer Obst von Streuobstwiesen isst, ist keinen Pestizidrückständen ausgesetzt. Ganz zu schweigen von all den Menschen, die auf Apfelplantagen arbeiten müssen und oft selbst nur sehr unzureichend gegen die dort ausgebrachten Gifte geschützt sind. Ein Apfel aus dem Erwerbsobstbau erhält bis zu 31 Giftduschen, ehe er in den Handel kommt.1 Viele der eingesetzten Stoffe sind krebserregend und auch sonst alles andere als gesund. Weder für uns noch für unsere Böden noch für unsere Gewässer. Wenn jeder Einzelne sich klarmacht, dass der Apfelwickler ein wichtiger Teil unseres Ökosystems darstellt und allein deshalb unser Freund sein sollte, ist das eigentlich nur ein kleiner gedanklicher Schritt, für das Entstehen von Paradiesen aber von riesengroßer Bedeutung.
Am Ende, wenn wir diesen Schritt im Kopf gegangen sind, sollten wir uns fragen, wie wir uns die Raupe sonst noch zunutze machen können. Bevor wir angefangen haben, einen Chemie- und Biowaffenkrieg gegen den kleinen Schmetterling zu führen, sind wir ja über viele Jahrtausende bestens mit ihm klargekommen. Der Wurm im Apfel hat auch einen ganz praktischen Vorteil: Er sorgt dafür, dass der von ihm befallene Apfel früher reift. Er zieht die Ernteperiode damit nach vorne und macht die frischen Früchte länger für uns zugängig. Man braucht die Würmer nur herauszuschneiden und erhält leckeres, süßes Fruchtfleisch, an dem wirklich nichts auszusetzen ist. Man kann es entweder frisch essen, oder macht Apfelsaft oder Apfelmus daraus. Für Schweine sind sie eine prima Mast mit Proteinbeilage. Während man also die frühreifen Äpfel schon wunderbar verwenden kann, können die unbefallenen Äpfel ihren optimalen Reifezeitpunkt erreichen.
Sicherlich gibt es andere Organismen, die sich schädigend auf unsere landwirtschaftlichen Kulturen auswirken, bei denen die Schließung einer Freundschaft wesentlich schwerer fällt als beim Apfelwickler. Nehmen wir mal den Echten Mehltau der Weinrebe (Erysiphe necator). Dieser gehört zu den Schlauchpilzen und kam in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Amerika nach Europa. Der Falsche Mehltau der Weinrebe (Plasmopara viticola) und die Reblaus kamen ebenfalls aus Amerika und haben den Weinbau weltweit drastisch verändert. Die beiden Pilzkrankheiten und die Laus haben allesamt im Laufe der Evolution Wege gefunden, sich an die amerikanische Wildrebe zu binden, ohne diese zu zerstören. In die alte Welt gelangt, verursachten die Neozoen gewaltige Probleme, weil die hier kultivierten Reben die evolutionären Anpassungen nicht mitgemacht haben. Dummerweise schmecken die Rebsorten, die man aus den resistenten Reben daraufhin herausgezüchtet hat, nicht sonderlich gut. Ich selbst habe ein paar Weinstöcke der resistenten Sorte Muscat Bleu, die aus einer Kreuzung zwischen den beiden Varianten entstanden ist. Sie kommt komplett ohne Spritzung aus, ist allerdings in Deutschland nur als Tafeltraube zugelassen. Das heißt im Klartext: Wer aus ihr Wein keltert, macht sich in Deutschland strafbar. Ein Geschenk des Gesetzgebers an die agrochemische Industrie? – Vielleicht. In der Schweiz jedenfalls wird die Sorte von Biowinzern angebaut. Wie man hört, soll das Ergebnis ganz passabel sein. Ich kenne eine Person, die aus unserer Hausrebe einmal einen Roten gekeltert hat, vom Ergebnis war ich aber nicht wirklich überzeugt. Ein anständiger Cabernet Sauvignon schmeckt mir eindeutig besser. Für Weinenthusiasten sind neue Züchtungen oft sehr gewöhnungsbedürftig. Autochthone, oft uralte Rebsorten sind Ausdruck der Vielfalt unserer Europäischen Weinkultur und ihr Erhalt ein hohes Gut. Wie also umgehen mit dem Echten Mehltau in unseren Weinbergen, die als Monokulturen natürlich extrem anfällig für Schädlinge sind?
Der Ökolandbau behilft sich mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen. Neben rechtzeitiger Entfernung überschüssigen Laubs und einer Stärkung der pflanzlichen Zellstruktur durch Gaben von Kieselsäure hilft auch die Aktivierung des Bodenlebens durch Kompost, die Reben widerstandsfähiger zu machen. Wenn alles nichts nützt, spritzt auch der Biowinzer seinen Wein. Präparate auf Molkebasis machen dem Pilz das Leben schwer und sind für den Rest der Lebewesen im Weinberg kein Problem. Schwefelpräparate hingegen, obwohl im Biolandbau zugelassen, wirken zwar gegen den Mehltau, schädigen aber die wichtigen Raubmilben und sind auch für das gerade erst mühsam aufgebaute Bodenleben nicht sonderlich förderlich. Die Dinge sind manchmal einfach etwas komplizierter, als wir das beim Apfelwickler beobachten konnten.
Die Erkenntnis, dass Streuobstwiesen Orte sind, die auf besonders viele Tierarten eine enorm hohe Anziehungskraft ausüben, ist nicht neu. Zum Glück sind sie im Zuge der Industrialisierung unserer Kulturlandschaften nicht vollständig ausgemerzt worden. Das Schöne an ihnen ist, dass wir alle zu ihrem Erhalt und Schutz beitragen können. Es fängt damit an, dass wir als Kunden Bedarf schaffen können, indem wir im Supermarkt nicht zu Cola oder sonstigen Limonaden und auch nicht zum billigen Industrieapfelsaft greifen, sondern das hochwertige und zu Recht auch etwas teurere Produkt wählen, das auf einer Streuobstwiese gewachsen ist. Dieser Saft muss auch gar kein Bio-Label haben. Das kostet den Produzenten extra und ist gar nicht nötig, weil Streuobstwiesen in der Regel sowieso die Pestizidduschen erspart bleiben. Meine Frau Nilufar und ich ernten jedes Jahr im September oder Oktober zwischen einer halben und einer Tonne Äpfel. Oft stammen die von Bäumen, die als ökologische Ausgleichsmaßnahme für irgendwelche Baulandausweisungen entlang einiger Äcker rund um Bruchhausen und Unkel angepflanzt wurden. Das Obst dieser Bäume steht der Öffentlichkeit zur freien Verfügung. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Einer von uns beiden klettert in die Krone des Baumes und schüttelt. Danach sammeln wir gemeinsam die Äpfel in Eimern auf. Manchmal benutzen wir auch lange Stangen aus Haselnussruten und schlagen die Früchte von den Ästen.
Diese Äpfel fahren wir zu der Saftmanufaktur in Bad Hönningen. Dort reihen wir uns mit unserem Anhänger ein in die Reihe aus Lieferwägen, Traktoren und normalen PKWs. Alle haben Äpfel dabei. Manche bringen ganze Kipperladungen, andere nur ein paar Säcke voll. Vom Kleinbauern über den Hobbygärtner,bis zu Streuobstwiesenvereinen ist alles dabei. Wir leeren unsere Äpfel in eine Waage und nehmen im Tausch und gegen eine kleine Bearbeitungsgebühr frisch gepressten Saft vom Vortag mit. Allein durch die Ernte haben wir den Apfelbäumen einen Gefallen getan. Wir haben dem Baum die Fruchtlast genommen und damit die Gefahr des Astbruchs gebannt. Oft haben wir Bäume auch von Brombeeren befreit, um überhaupt an die Äpfel heranzukommen. Nicht selten sind wir dabei an vernachlässigte Bäume geraten, die komplett von Brombeeren zugerankt waren und seit der Ernteaktion wieder freistehen und Licht bekommen, damit sie weiterwachsen können. Wer solche Säfte trinkt, fördert also nicht nur die kleine Saftmanufaktur und die Streuobstwiesen, sondern auch Menschen wie uns, die sich so auf einfache Art und Weise den Überfluss der Natur zunutze machen.
Der nächste Schritt in diese Richtung, den jeder von uns gehen kann, ist, die Patenschaft für ein Stück Streuobstwiese zu übernehmen. Hier hat man vielfältige Möglichkeiten. Man kann beispielsweise ein Zertifikat über den symbolischen Besitz von zehn Quadratmetern Streuobstwiese erwerben oder einem Apfelbaum oder einem Bienenstock. Die Lage der Wiese sollte darin klar gekennzeichnet sein und zugänglich sein. Zuweilen dürfen sich die Paten auch über kleine Abgaben an Honig oder Apfelsaft freuen. Wer gerne selbst mit anpacken will, der kann sich bei Initiativen der Umweltinitiativen BUND oder NABU als freiwilliger Helfer melden.
Das Berliner Start-up Ostmost geht den entscheidenden Schritt weiter und macht Streuobstwiesen zum zentralen Teil seines Geschäftsmodells. Der edle Most wird als Schorle in Flaschen abgefüllt und über Bioläden und Partner in der Gastronomie in ganz Deutschland verkauft. Mit Erfolg: Inzwischen beträgt der Absatz mehr als eine Million Flaschen im Jahr. Parallel hat Ostmost den gemeinnützigen Verein Äpfel und Konsorten e. V. gegründet. Der hat seinen Sitz im brandenburgischen Storkow und verfolgt das Ziel, »Streuobstwiesen zu schützen und die regional typische Obstsortenvielfalt in Berlin und Brandenburg zu fördern«. Die Obstfreunde bespielen das komplette Programm. Sie organisieren den Aufbau von Streuobstwiesen als Ausgleichsflächen, etwa für die Windenergie, kaufen Äcker, die sie in Streuobstwiesen umwandeln genauso wie bestehende Altbestände und organisieren deren Pflege. Mit »Reclaim Streuobstwiese« haben sie einen kämpferischen Slogan geschaffen, der gerade in der Großstadt Berlin gut ankommt. Dennoch ist in Brandenburg der Lebensraum Streuobstwiese nur noch in Restbeständen vorhanden. Das liegt unter anderem daran, dass in der DDR genau wie in Westdeutschland Abholzungsprämien für Streuobstbestände gezahlt wurden. Die wenigen Bäume, die diesem Irrsinn nicht zum Opfer gefallen sind, wurden meist vor dem Zweiten Weltkrieg, einige sogar noch vor dem Ersten, gepflanzt. Ihre Lebensspanne neigt sich inzwischen dem Ende zu.
2017 gelang dem Verein der Coup, die Landesumweltminister aus ganz Deutschland auf einer ihrer Streuobstwiesen zu versammeln, wo sie die Politiker mit blauen Plastiktüten ums edle Schuhwerk den »Ministersortengarten« einbuddeln ließen. Es kamen zwar längst nicht alle Minister, und auch die Bundesumweltministerin Svenja Schulze ließ sich durch eine Staatssekretärin vertreten. Dennoch war die Aktion ein guter PR-Erfolg und am Ende standen 19 neue Apfel- und Birnbäume auf der Wiese. Jedes der 16 Bundesländer bekam einen Baum von landestypischer Lokalsorte zugesprochen. Zusätzlich wurde ein »Gravensteiner« als Europasorte und »Edelborsdorfer« als Bundesapfelsorte gepflanzt.
Ich will mehr wissen und spreche mit Jakob Schuckall und Lukas Küttner von Ostmost.
Wie kam es dazu, dass Ostmost gegründet wurde, was treibt euch an?
Lukas Küttner: Der Gründer Bernd Schock war für ein Projekt zum Schutz des Goliathfrosches im Regenwald in Kamerun aktiv. Dort ist er mit gerodeten Flächen des Regenwaldes in Berührung gekommen und hat erlebt, welches Ausmaß und welchen Schaden der Verlust von Lebensraum und Artenvielfalt annehmen kann.
Zurück in Deutschland ist er in Brandenburg auf eine Streuobstwiese gestoßen und hat vom hiesigen Landwirt erfahren, dass diese Wiesen einen enormen Sorten- und Artenreichtum aufweisen, sie sozusagen die kleinen Geschwister des Regenwaldes sind, und, dass es diesen Flächen nicht besser geht als dem Regenwald auf der anderen Seite der Welt. Sie werden vernachlässigt und abgeholzt, die Vielfalt geht verloren.
Daraufhin wurde die Idee geboren, über ein Produkt die Wertschätzung und -schöpfung dieser Wiesen und ihrer Früchte wieder herzustellen, damit sie auch für künftige Generationen erhalten bleiben.
Selbst die Giganten der Industrie haben ja ganz klein angefangen. Wie seht ihr die Chancen, dass Start-ups wie Ostmost eines Tages die großen Marken wie Coca-Cola vom Markt drängen können?
Lukas Küttner: Schon jetzt gibt es eine klare Entwicklung in Trend-Bezirken, also Gegenden, wo junge aufgeschlossene Leute zusammenkommen, in denen Marken wie Coca-Cola, Pepsi und Co. einen schweren Stand haben, weil junge Marken ihnen die Plätze streitig machen. Ein großer Treiber sind hier Gastronom*innen, die ein diverses Angebot schaffen wollen, weg vom Mainstream und der generelle Trend hin zu bewusstem Konsum und mehr Nachhaltigkeit – beides Punkte, bei denen große Konzerne in der Regel schlecht abschneiden.
Dennoch zeigt das nur einen Teil des Marktes, der überwiegende Part wird noch immer von Lebensmittelkonzernen dominiert, denn oft spielen Marktmacht und (niedrige) Preise eine große Rolle im Handel oder bei Gastro-Filialisten. Auch aufseiten der Endkonsument*innen gibt es immer noch eine große Mehrheit, denen Convenience – also ein niedriger Preis und Beibehaltung der alten Gewohnheiten – wichtiger ist, als die Nachhaltigkeit von Produkten. Auf lange Sicht werden sich Konzerne anpassen und so am Markt bleiben, das tun sie ja schon. Coca-Cola hat zum Beispiel Vio und Vio Bio oder die Coke Life ins Leben gerufen und zielt damit ganz klar auf eine neue bewusste Käuferschaft. Ich denke, dass Start-ups die großen Marken somit niemals komplett verdrängen können, sofern diese nicht stur an ihrem Programm festhalten, wohl aber vor sich hertreiben können und sie so Stück für Stück zu einem besseren – klimafreundlichen und sozialverträglichen Verhalten – drängen können.
Welchen Einfluss wird Ursula von der Leyens »European New Green Deal« auf Unternehmungen wie Ostmost/Äpfel und Konsorten e. V. haben?
Lukas Küttner: Grundsätzlich erhoffen wir uns, dass im Zuge des Green Deals klimapositives Verhalten durch viele Projekte immer mehr zum Standard in der Gesellschaft wird. Wenn ein breites Bewusstsein dafür entsteht, dass Konsum immer auch klimapolitische Effekte hat und somit jede Konsumentscheidung ein Beitrag für oder gegen Nachhaltigkeit ist, werden Projekte wie unsere davon profitieren. Gleichzeitig werden wir uns auch auf Mittel bewerben, um unsere Projekte weiter zu stärken und breiter aufzustellen.
Wie steht ihr zu der Idee, dass Biodiversität ein »Preisschild« bekommt? Produkte, die schädlich für unsere Artenvielfalt sind, werden dann teurer. Mit den Einnahmen könnten dann Projekte und Produktionsweisen gefördert werden, die der Artenvielfalt zuträglich sind.
Lukas Küttner: Ähnlich wie eine CO2-Steuer würde die Einpreisung der negativen Auswirkungen auf die Biodiversität von Produkten eine unmittelbare Veränderung des Konsumverhaltens nach sich ziehen. Hin zu Produkten, die weniger, keine oder besser noch: positive Auswirkungen auf Biodiversität haben. Das wäre sehr zu begrüßen und ist unserer Meinung nach eine faire Maßnahme, die Hersteller und Konsumenten gleichermaßen fordert und für gutes Verhalten belohnt. Leider ist die Bemessung von Biodiversität bzw. der Einfluss einzelner Produkte auf die Biodiversität extrem schwierig. Wir selbst haben seit längerem den Plan, ein Label ins Leben zu rufen, das Produkte aus Streuobst kennzeichnet und Konsument*innen so zeigt, dass dieses Produkt einen positiven Effekt auf Biodiversität hat.
Wie kann es gelingen, dass Investoren Gefallen am Erhalt der globalen Biodiversität finden?
Lukas Küttner: Die Frage ist, ob es rechtzeitig gelingen kann. Es gibt bereits einige Investoren und auch schon Fonds, die gezielt nach grünen Start-ups suchen, um sich dort zu beteiligen. Aber der Großteil des Investmentbankings ist sicherlich rein (monetär) profitgetrieben, um so schnell wie möglich so viel Profit wie möglich aus ihrem Investment zu ziehen. Bei dem Erhalt von Biodiversität geht es aber um langfristige Pläne und Projekte, die diesem Gedankengang komplett konträr gegenüberstehen. Sofern von politischer Seite dahingehend keine Anreize geschaffen werden, zum Beispiel durch die Einpreisung von positivem beziehungsweise negativem Verhalten von Unternehmen auf die Biodiversität, und weiterhin negatives Verhalten kostenlos ist, werden Investments weiterhin zu den kurzfristig profitabelsten Unternehmen fließen. Früher oder später wird sich die gesamte Wirtschaft, und somit auch das Investmentbanking, verändern müssen, oder das Ökosystem Erde – die Lebensgrundlage von uns allen – geht zugrunde. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Inwiefern spielt Weidewirtschaft eine Rolle in euren Planungen? Obstwiesen müssen ja einerseits freigehalten werden, andererseits ist Weidehaltung die natürlichste und beste Form, mit unserem Nutzvieh umzugehen. Mit anderen Worten: Wie haltet ihr es mit der Diversifizierung?
Jakob Schuckall: Die Beweidung von Streuobstwiesen, vor allem mit Schafen, spielt eine große Rolle in unserer Planung – es ist ja auch die traditionelle Doppelnutzung der Obstwiesen und bietet viele Vorteile. Zum Beispiel wird durch die Beweidung der Wühlmausdruck erheblich reduziert, im Sommer, wenn die Tiere Schatten suchen, werden die Nährstoffe direkt zu den Bäumen transportiert, und nicht zuletzt spart es natürlich den Einsatz von Maschinen. Momentan wagen wir uns sogar an ein Projekt, bei dem eine Beweidung durch Wasserbüffel geplant ist. Wir sehen uns als Botschafter für Biodiversität und planen Streuobstwiesen als Biotope – dies gelingt nur mit Diversifizierung. Außerdem setzen wir uns für eine vielfältige, moderne und nachhaltige Streuobst- und Agroforstwirtschaft ein, Diversifizierung kann eigentlich nur der Albtraum von sehr dummen oder sehr kurzsichtigen BWL-ern sein.
Wie steht ihr zu anderen Ansätzen zum Schutz der Artenvielfalt wie Paludikultur, Waldgartensystemen, Feld-Wald-Wirtschaft, Obst- und Nusswäldern, Essbaren Städten, Permakulturen und anderen?
Jakob Schuckall: Jeder dieser extensiven Ansätze Nahrungsmittel und andere Rohstoffe zu produzieren, bei denen gleichzeitig die Artenvielfalt geschützt werden soll, ist grundsätzlich sinnvoll! Die Permakultur orientiert sich bei der Planung von landwirtschaftlichen Systemen an der Funktionsweise von natürlichen Ökosystemen. Meistens ist ein Ökosystem umso stabiler, je vielfältiger und komplexer es ist, also je mehr Lebewesen mit ihm in Wechselwirkung treten. Wenn man sich auf ein Produkt spezialisiert und die Vielfalt und Nachhaltigkeit der Gewinnmaximierung opfert, dann hat man ein extrem energieaufwendiges und maximal störungsanfälliges System, wie wir es etwa aus dem konventionellen Obstanbau kennen. Die Streuobstwiese mit Beweidung ist doch eigentlich ein tolles Beispiel dafür, wie der Spagat zwischen Produktivität und Naturverträglichkeit gelingen kann. Leider werden diese Ansätze meist immer noch als unwirtschaftlich betrachtet, weil immer in viel zu kleinen Zeitfenstern gedacht wird, dabei sind sie auf lange Sicht hochproduktiv und speichern CO2 durch stetigen Humusaufbau.
Habt ihr euch schon Gedanken darüber gemacht, die Äpfel eurer Hochstämme als Tafelobst auf den Markt zu bringen?
Jakob Schuckall: Darüber denken wir sogar sehr viel nach! Ich denke, da steckt ein riesiges Potenzial drin. Die wenigen Sorten, die wir aus den Supermärkten und leider auch aus den Bioläden kennen, wurden alle paar Tage mit Spritzmitteln übergossen. Auf der Streuobstwiese kann Obst ohne jeglichen Einsatz von synthetischen Fungiziden, Pestiziden und Düngemitteln angebaut werden und viele der alten Apfelsorten sind durch ihren hohen Gehalt an Polyphenolen für Allergiker viel besser verträglich. Der Marktanteil von ungespritztem Obst liegt in Deutschland nur bei etwa 0,5 Prozent. Die Nachfrage danach ist groß und wächst ständig.
Streuobstwiesen sind sehr oft nicht biozertifiziert. Wie geht ihr damit um? Stammen die Quitten, Birnen, Pflaumen, Kirschen etcetera in den Ostmost-Schorlen in Wahrheit von Plantagen, die zwar bio, aber trotzdem artenarme Monokulturen sind?
Jakob Schuckall: So ganz stimmt das inzwischen nicht mehr. Laut dem NABU Streuobstrundbrief ist der Anteil von biozertifizierten Streuobstwiesen in vielen Anbauregionen, wie zum Beispiel Baden-Württemberg, auf etwa 50 Prozent gestiegen. Grund dafür ist der deutlich höhere Erzeugerpreis. In den Ostmost-Schorlen ist drin, was drauf steht, die Pflaumen, Mirabellen und Sauerkirschen kommen von ehemaligen Plantagen aus Thüringen, die inzwischen extensiv bewirtschaftet werden – genau wie Streuobstwiesen.
Später im Jahr kommt Jakob Schuckall mich bei uns zu Hause besuchen. Er ist von kerniger Statur und gut drauf. Der Job als Baumhirte scheint nicht nur ihm gutzutun: Er berichtet von dem erfolgreichen jungen Unternehmer in seinem Team, der dem großen Geld, dem damit verbundenen Stress und der Sinnentleertheit den Rücken gekehrt hat, um bei Ostmost einzusteigen. Vor allem Baumschnittarbeiten bereiten ihm Vergnügen. Ich zeige Jakob meine kleine Landwirtschaft, inklusive des Kakibaums (laut Jakob der neue Geheimtrend) und der Bienenkästen, und wir unternehmen bei strahlendem Sonnenschein einen Spaziergang durch den Rheinbreitbacher Obstwald, der bis hinunter an den Rhein reicht.
In vielen Weißdornbüschen tummeln sich Schwärme von Singdrosseln und laben sich an den roten Beeren. Es sind Zugvögel, die im milden Klima des Rheintals überwintern und das reichhaltige Nahrungsangebot des Obstwaldes für sich nutzen. So sparen sie sich den gefährlichen Flug in den Mittelmeerraum, wo die Art in der Regel überwintert. Hier laufen sie keine Gefahr, Opfer von Schrotflinten, Schlingen, Netzen oder Leimruten zu werden. Was für ein Gegensatz zu den ausgeräumten Agrarlandschaften, wo der Hunger zu einer weiteren großen Gefahr für den Vogelzug geworden ist. Jakob weist mich auf die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten des Weißdorns hin. Vor allem wegen der herzstärkenden, natürlichen Substanzen, die in Blüten, Blättern und Früchten schlummern, ist er in der alternativen Heilkunde äußerst beliebt und somit auch wirtschaftlich interessant.
Jakob versucht, Streuobstwiesenbesitzer aus der Eifel für Ostmost zu gewinnen. Die Eifel grenzt an die Umgebung von Meckenheim, dem Obstkorb des Rheinlands, wo vor allem Äpfel im Intensivanbau gedeihen. Jakob berichtet von einem Treffen mit Plantagenbesitzern, die ihre Ernte loswerden wollten. Als sie merkten, dass Plantagenobst nicht ins Geschäftsmodell von Ostmost passt, verlangten sie lautstark, dass Streuobstwiesen nicht gegen Plantagen »ausgespielt« werden sollen.
Die Forderung zeigt, das beide Ansätze grundsätzlich nur schwer vereinbar sind. Zu einem Konsens ist es dann letztlich nicht gekommen.