Читать книгу Laufschuh gegen SUP - Timm Kruse, Philipp Jordan - Страница 15
PHILIPP
ОглавлениеSchier endlose Getreidefelder ziehen an mir vorbei, oder eigentlich ist es eher umgekehrt. Heute fühlt sich vieles anders an – ohne Begleitung und ohne Ziehwagen, nicht mal einen Laufrucksack habe ich dabei, nur eine Flasche in der Hand und einen Energiegel in der Hose. Ich muss »nur« 26 Kilometer laufen. Meine Beine erinnern mich deutlich daran, dass sie mich gestern über 54 Kilometer getragen haben. Trotzdem fühlt es sich leicht an. Meine Laufuhr bestätigt mir diesen Verdacht nach jedem Kilometer mit einem kurzen Piepen, und einer Kilometerzeit mit einer fünf ganz vorne – also weniger als sechs Minuten pro Kilometer.
Das Wetter könnte nicht besser sein. Vielleicht genieße ich das so sehr, weil ich bei dieser Tour von Dauerregen ausging. Schon wenige Minuten nach meinem Aufbruch verlasse ich Dresden, und kurz darauf umgibt mich ländliche Idylle. Eine knallgelbe Meise zwitschert mir von einem Schild aus zu. Ich muss an meine Kindheit denken. Der Geruch der Feldwege und das sich im leichten Wind wiegende Getreide erinnern mich an die vielen Stunden, in denen ich auf den Feldern rund um Waldbronn gespielt habe. Nachdem die Euphorie, die der Start und die Landschaft hervorgerufen haben, langsam schwindet, bin ich mit mir allein und versuche, mich zu beschäftigen.
Schnell bin ich bei meinem aktuellen Lieblingsthema angelangt. Es dreht sich um eine weitere, völlig unnötige Geldausgabe, mit der ich mir ein Wohlgefühl, ein Alltagshighlight beschert habe: ein elektrisches Fahrrad. Aber nicht irgendein elektrisches Fahrrad, oh nein, es ist das coolste elektrische Fahrrad, das es auf der Welt gibt, und sieht eigentlich schon fast aus wie ein Motorrad. Ob es mehr über meine prollige Natur oder über mein absolut erbärmliches Konsumverhalten aussagt, dass ich mir diesen Dickpisser-Drahtesel zulegen musste? Und ja, ich musste das tun. Meine Frau könnte darüber ein eigenes Buch schreiben, und manchmal tut sie mir ein wenig leid. Sie hat inzwischen eingesehen, dass sie gegen diese Naturgewalt, diesen Muss-ich-haben-Drang einfach keine Chance hat. Erst waren es Star-Wars-Figuren, dann musste ein Bonanzarad her, und jetzt eben dieses Fahrrad auf Steroiden. Und dann auch noch ein elektrisches! Für mich. Ich bin es noch nicht gefahren, aber der Gedanke, mich auf dieses Ding zu setzen, erfüllt mich mit Vorfreude und lenkt mich ab. Die Kilometer werden zweistellig, und ich überlege, wann ich mir das Energiegel gönnen soll. Also frühestens, wenn nur noch zehn Kilometer auf dem Plan stehen, entscheide ich mich, und versuche mich wieder mit meinem Halbstarkengefährt abzulenken. Aber es ist wie in einem Fiebertraum. Immer wieder die gleichen Bilder, dieselben Fantasien und Gedanken. Bringt keinen Spaß mehr, das E-Bike hat jetzt Feierabend in meinem Kopf.
Erstes Wiedersehen nach dem Start. Der Anfang ist geschafft. Was für eine Erleichterung.
Der Elberadweg führte nicht immer so dicht am Fluss entlang wie hier (oben). Über den Dächern Meissens (unten).
Bei einer Pipipause erschrecke ich fürchterlich: Knallrot plätschert mein Urin ins Gras. Ich pinkle Rotwein, aber keine Rotweinschorle, sondern besten Bordeaux. So ein Mist. In Filmen meiner Jugend war Blut urinieren fast schon eine Metapher für Aids. Natürlich ist mir bewusst, dass ich nicht an HIV leide, und mir ist ebenso klar, dass ich mich nicht in Lebensgefahr befinde. Trotzdem ist das ein doofes Gefühl.
Ich laufe weiter. Da ist jetzt dieser rote Strahl, und der geht da so schnell auch nicht mehr weg. Ich hatte schon einmal Blut gepinkelt und bin damals direkt zum Arzt gerannt. Aus dieser Geschichte habe ich eines gelernt: nie wieder eine Blasenuntersuchung, denn der Tubus wird nicht über den Mund eingeführt, da warte ich lieber noch ein bisschen, bis das Filmequipment des Urologen durch einen technischen Quantensprung etwas filigraner wird als dieses dicke Plastikrohr, das sich damals den Weg durch meinen besten Freund bahnte.
Ich versuche, mich zu beruhigen. Das muss durchs Laufen gekommen sein. Genug getrunken habe ich. Das heilt sicher über Nacht, und morgen ist alles wieder gut. Aber es hilft leider nichts. Ständig denke ich an mein Problem. Meine Sextanerblase tut ihr übriges. Mit Sorgen im Kopf und Harndrang in der Hose laufe ich weiter. Zum Glück stehen heute nur 26 Kilometer auf dem Plan. So schnell wie möglich ins Hotel zu kommen, lautet jetzt die oberste Devise für mich.
Plötzlich sehe ich Timm neben mir. Mit ihm habe ich jetzt überhaupt nicht gerechnet. Durch mein mit gestern vergleichsweise hohes Tempo war ich mir eigentlich sicher, ihn weit hinter mir gelassen zu haben. Wir verabreden uns bei einem Steg wenige Meter flussabwärts. Er muss sich die Seele aus dem Leib gepaddelt haben. Ich bin froh, ihn zu sehen. Als ich ihm erzähle, dass ich inzwischen mehrfach Blut gepinkelt habe, fragt er zweimal ungläubig nach.
Ich versuche, ihn und vielleicht vor allem mich zu beruhigen. Habe ich nicht zum ersten Mal, gehört ja irgendwie zum Ultralaufen dazu. Aber er guckt mich sehr skeptisch und sorgenvoll an. Kurz darauf verabschieden wir uns. Ich laufe weiter, drehe mich noch einmal um, und sehe wie Timm in einem beneidenswert hohen Strahl vom Steg in die Elbe pinkelt. Wir bleiben also beim Thema.
Gefährde ich mit meinem Blasenproblem das ganze Abenteuer? Ist hier schon Schluss? Am Ortseingang kommt mir der Cäptn entgegengeradelt, und meine Stimmung hebt sich. Ich mag seine Art, seinen wundervollen platten Hamburger Sprech und vor allem seinen Humor. Er eröffnet mir, dass wir heute fürstlich residieren werden. Erst jetzt sehe ich die imposante Kulisse zu meiner Linken. Meißen scheint direkt dem Mittelalter entsprungen zu sein. Auf einer Anhöhe, die wir über ein Kopfsteinpflaster erreichen, befindet sich unser Romantik Hotel Burgkeller. Angesichts dieser Kulisse fühle ich mich ohne Ritterrüstung underdressed. In meinem Hotelzimmer angekommen, gehe ich angstvoll und doch hastig aufs Klo. Ein Stoßgebet und einen angstvollen Blick nach unten später bin ich glücklich und erleichtert: Der Wein ist weg. Es lebe die Apfelschorle.
AUF EINER ANHÖHE, DIE WIR ÜBER EIN KOPFSTEINPFLASTER ERREICHEN, BEFINDET SICH UNSER ROMANTIK HOTEL BURGKELLER. ANGESICHTS DIESER KULISSE FÜHLE ICH MICH OHNE RITTERRÜSTUNG UNDERDRESSED.