Читать книгу Laufschuh gegen SUP - Timm Kruse, Philipp Jordan - Страница 16

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So eine Reise besteht in großen Teilen aus Erholung. Nach 30 Kilometern auf der Elbe liege ich jetzt in einem fürstlichen Doppelbett, das ich mir mit dem Cäptn teile, über den Dächern von Meißen im Burghotel; purer Luxus, mit Badewanne, Kronleuchtern und Stuck in jedem Zimmer, nobler Küche und vor allem perfekter Ruhe, denn wir sind die einzigen Gäste in dem prunkvollen Kasten. Die Coronamaßnahmen erlauben nur aus beruflichen Gründen Aufenthalte in Hotels.

Der Cäptn hat mir extra eine Tube Rotes Rücken-Elexier für die Badewanne gekauft – ich muss stark über Rückenschmerzen gejammert haben. Als ich die rote Masse ins Wasser schütte, muss ich an Philipps Blase und seinen blutigen Urin denken. Wie schlimm ist es, wenn jemand Blut pinkelt – auch wenn die Blutung mittlerweile gestillt ist? Tritt das beim nächsten längeren Lauf nicht noch einmal auf? Ist unsere Tour in Gefahr? Und würde ich alleine weitermachen? Ich verdränge die schwierigen Fragen lieber – eine Antwort darauf finde ich sowieso nicht –, steige in die heiße Wanne und versuche, meinen Körper bewusst zu entspannen.

Im Lauf der Jahre habe ich gelernt, eine gewisse mentale Hygiene in mein Leben einzubauen: Ich versuche immer wieder, durch kurze Momente des totalen Bewusstseins ins Hier und Jetzt einzutauchen. Diese Methode habe ich vor vielen Jahren bei einer spirituellen Gemeinschaft in Indien gelernt – einfach kurz innehalten und sich voll bewusst machen, dass dies gerade der einzig aktuelle Moment in der Gegenwart einer unendlichen Timeline ist. Eine zweite Methode lautet, meinen Körper aktiv zu entspannen. Ich fange mit dem großen Zeh rechts an, wandere im Geiste die einzelnen Körperpartien durch, bis ich bei meiner Schädeldecke angelangt bin. Irgendwann spüre ich dann ein Kribbeln im ganzen Körper und fühle mich extrem energiegeladen. Und die dritte Methode ist Dankbarkeit. Heute zum Beispiel stand ich auf meinem Brett und ging im Kopf durch, wofür ich alles dankbar sein kann: den roten Milan, der über mir kreist. Die Schafe, die rechts so friedlich weiden, die Strömung, die mich fast ausnahmslos nach Cuxhaven trägt, die Sonne, die ab und zu durch die Wolken blitzt, meinen Körper, der ohne Murren stundenlang auf einem wackeligen Brett stehen kann und vor sich hinpaddelt.

Es gackert und kreucht um mich herum, die Wälder scheinen vollkommen unberührt. Am Ufer und im Dickicht herrscht das totale Chaos, und doch ist alles in Ordnung. Nicht vorzustellen, dass dieser Bach zum Fluss und irgendwann zum Strom wachsen wird. Dass er auf einer Länge von 100 Kilometern Deutschland geteilt hat, Soldaten patrouillieren ließ – Ost gegen West. Noch ist die Elbe Teil eines Ganzen, sie trennt nichts. Niemand kann an einer Seite des Ufers stehen und die auf der anderen Seite hassen oder fremd finden. Er eint viel mehr, als dass er scheidet.

Wie immer verändert sich mein seelischer Zustand auf so einer Tour. Dass dies schon nach drei Tagen eintritt, wundert mich zumindest. Ich möchte einer engen Freundin eine Geburtstagsnachricht senden und muss fünfmal ansetzen, weil mir jedes Mal die Tränen kommen. Erst als ich einen Müsliriegel gegessen und eine halbe Flasche Wasser getrunken habe, kriege ich die Nachricht trockenen Auges hin.

Auf Reisen öffnet sich etwas in mir, ich werde rührseliger, bescheidener, freundlicher. Ich spüre, wie abhängig ich von Gottes Gnade bin; bete, dass er mir keinen zu heftigen Gegenwind schicken möge, meinen Körper keine Malaisen spüren lässt, und dass mich die Menschen um mich herum unterstützen.

Heute früh überraschte mich der Cäptn mit zwei Styropor-Platten, die ich mir unter den Hintern legen kann, wenn ich mal wieder zu heftigen Gegenwind habe und im Sitzen paddeln muss. Der Kerl wächst mir ans Herz. Heute saßen wir in der Meißener Frauenkirche, und der Cäptn kniete sich glatt auf dieses hölzerne Brettchen, faltete die Hände vor dem Gesicht, schloss die Augen und betete. Ich bete natürlich auch immer in Kirchen und bitte um Gottes Gnade – aber ich tue es heimlich. Mein Glaube geht in solchen Momenten niemanden etwas an. Aber der Cäptn ist auch hier schmerzbefreit und macht, was er für richtig hält.


Einer von mindestens 250.000 Paddelschlägen (oben). Nur selten konnten Philipp und ich uns während der Etappen zuwinken (unten).

Auf dieser Tour ist jeder jedem ein Spiegel. Philipp reagiert häufig auf mich und meine direkte, teils ruppige Art mit leichtem Kopfschütteln. Ich erkläre meinen Habitus mit meiner ostwestfälischen Herkunft, und er sagt lachend, dass er in Zukunft mal darauf achten wolle, ob alle Menschen aus diesem Landstrich Scheusale seien.

Gestern gab er mir seinen Text zum Durchlesen, und ich hielt ihm erst mal einen Vortrag, worauf man als Schriftsteller achten sollte – dabei war sein Text ganz hervorragend, und wäre ich Deutschlehrer, hätte ich ihm 15 Punkte gegeben. Ein andermal pflaumte ich den Cäptn an, als er auf einem Foto meine Füße abgeschnitten hatte. Manchmal überkommt mich diese schreckliche, familiär geprägte Oberlehrerart. Ich habe sie trotz jahrelanger Übung nie ablegen können, obwohl dieses Besserwissertum mich bei meiner Familie in den Wahnsinn treibt. Also noch mehr kurze Momente des absoluten Bewusstseins nehmen, mehr Körper- und Geistentspannung und noch mehr Dankbarkeit üben. Aber ein bisschen Arschloch steckt in jedem.

Zwischendurch bin ich kilometerlang allein. Ich singe laut vor mich hin, muhe den Kühen zu und weiche einem Schwan aus, der angriffslustig auf mich zuschwimmt. Mein Herz klopft, als hätte mich gerade ein Tiger angefaucht, und nicht dieses weiße, eitle Biest. Anschließend fällt mir ein, dass ich mein Paddel als Waffe gegen das Tier hätte benutzen können. Ab jetzt machen mir Schwäne keine Angst mehr.

Nach 20 Kilometern sehe ich Philipp auf dem Radweg vor mir. Ich hatte gedacht, dass er schon viel weiter vor mir läuft, weil er nicht jede Biegung der Elbe mitmachen muss. Lange beobachte ich ihn, ohne dass er mich sieht. Er läuft wie ein Uhrwerk, Schritt für Schritt, als würde ihm das Ganze nichts ausmachen. Sein Stil wirkt nicht nur sportlich, sondern vor allem effizient. Wir sind vielleicht 50 Meter voneinander entfernt, und doch befindet er sich in einer anderen Welt: der Welt des Festlands. Ich bin das Wasserwesen. Nicht zu greifen – so wie ich es am liebsten habe. Mein Sternzeichen ist Fische, das passt mir als Erklärung oder Entschuldigung für mein flüchtiges Wesen gut in den Kram. Ich kann ganz nah sein, intensiv sein. Und Sekunden später bin ich wieder entwischt. Es geht nicht anders.

ICH BIN DAS WASSERWESEN. NICHT ZU GREIFEN – SO WIE ICH ES AM LIEBSTEN HABE. MEIN STERNZEICHEN IST FISCHE, DAS PASST MIR ALS ERKLÄRUNG ODER ENTSCHULDIGUNG FÜR MEIN FLÜCHTIGES WESEN GUT IN DEN KRAM.


Schnappschuss von einer Brücke.

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