Читать книгу Laufschuh gegen SUP - Timm Kruse, Philipp Jordan - Страница 19
TIMM
ОглавлениеEs fällt mir so schwer, das Glück uneingeschränkt zu genießen – Meditation hin oder her. Als mich der Rückenwind mit 40 Stundenkilometern die Elbe runterpeitscht, bin ich nicht glücklich, sondern voller Sorge vor dem Gegenwind nach der nächsten Linkskurve. Den Moment an sich zu genießen, ohne den marternden Sorgen eines stets aufgepeitscht-ängstlichen Unterbewusstseins zu lauschen, ist mir auf Abenteuertouren nur möglich, wenn ich meine Meditations-Tricks anwende.
Vielleicht ist das auch gut so, denn der Gegenwind kommt bestimmt, das sagt mir alle Erfahrung und Logik. Ich spare also Kräfte auf dem kurzen rauschenden Abschnitt, erfreue mich ein wenig an den 13 Stundenkilometern, die ich laut App mit Strömung und Wind aufs Wasser bringe, und nehme die Linkskurve so weit innen wie möglich, um anschließend nicht komplett gegenanpaddeln zu müssen; so kann ich vielleicht wenigstens ein bisschen »hart am Wind« SUPen.
Eine minimale weitere Linksbiegung, und mir peitschen fünf Beaufort ins Gesicht, die Gischt spritzt mir entgegen, kleine Wellen bremsen mein Brett, und doch gleite ich weiter Richtung Ziel. Die Elbe führt Hochwasser und fließt mit sieben Stundenkilometern dem Ozean entgegen. Stundenlang paddele ich auf einer Seite; meine rechte Hand sieht aus wie Schmirgelpapier, die linke, als hätte sie eine Maniküre genossen.
Auch wenn das Wetter durchwachsen ist, tut das der Schönheit der Elbe keinen Abbruch.
Nach einer Stunde sehe ich Philipp am Ufer. Wir rufen uns zu und feuern uns an. Was er leistet, übersteigt alles, was ich in meinem Leben gemacht habe. Im Vergleich zu ihm, bin ich dank der Strömung wie auf einem E-Bike unterwegs. Er aber hat Schritt für Schritt zu setzen, heute über 50 Kilometer, mal in der Hitze, mal durch den Regen, mal gegen den Wind. Jeden Tag. Wie ein Uhrwerk läuft er ohne ersichtliche Ermüdung.
Der Regen hat sich schon von Weitem angekündigt. Die Wolken werden immer dichter, bis es schließlich finster wird. Ich hole meine Regenjacke aus dem Rucksack, ziehe die Kapuze über und lasse das Unwetter über mir toben. Da der Wind Richtung Süd dreht, stehe ich auf meinem Brett und lasse alles geschehen. In solchen Momenten spüre ich die ganze Kraft der Natur und habe das Gefühl, sie übertrage sich auf mich. Das sind die intensiven Momente, die ich nur auf solchen Touren erlebe und die ein paar Minuten später schon wieder im Strudel der Erinnerung verschwinden.
In unserer überzivilisierten Welt kriegen wir keine Unwetter mehr ab – und das ist traurig. Wir haben uns vor den Unbilden der Natur hinter dicken Mauern und Dreifachverglasung abgeschottet, vor riesigen Monitoren und kleinen Bildschirmen. Wir erleben den Großteil unserer Welt virtuell und nicht mehr unmittelbar. Der Unterschied zwischen der ungefilterten Natur und einem Monitor ist ungefähr so wie der zwischen Pornos und wahrem Sex: irgendwie ähnlich und doch ganz anders.
Ein paar Kilometer hinter Meißen hören die Berge endgültig auf, von hier aus erstreckt sich plattes Land bis zur Nordsee. Die letzten Fachwerkhäuser ducken sich dicht an die Sandsteinfelsen heran, als malten sie Muster in den Stein, verschwinden fast unter den massiven Klippen, bis diese unspektakulär auslaufen. Weiden tun sich auf, und Schafgeruch zieht über die Elbe. Kurz drauf riecht der Raps so intensiv, als hätte jemand eine Mammut-Flasche Parfüm in der Luft zerstäubt, um auch den Schafen etwas Gutes für die Nase zu gönnen.
Kurz vor Riesa winken mir Menschen vom Ufer zu. »Ihr steht heute in der Zeitung«, rufen sie und wedeln mit ihren Armen in der Luft, als wäre ich ein alter Freund, den sie nach langer, langer Zeit endlich wieder treffen. »Tolle Aktion«, ruft ein anderer und wünscht mir Glück. Immer mehr Menschen winken und fotografieren. In Sachsen scheint der Leserschwund bei den Zeitungen noch nicht so stark fortgeschritten zu sein.
Ganz langsam kommt das Gefühl hoch, dass wir hier tatsächlich etwas Großes leisten. Nicht nur, dass wir täglich immense Strecken zurücklegen, sondern auch mit unserer Spendenaktion etwas Gutes tun. Wir sammeln Gelder für das Hamburger Unternehmen »Oll Inklusiv«, das sich für Seniorinnen und Senioren einsetzt und für diese beispielsweise Rikschas kauft, damit ältere Menschen damit herumkutschiert werden können. Leider haben wir bisher lächerliche tausend Euro gesammelt – das ist gerade mal der halbe E-Motor einer Rikscha.
In Riesa wartet der Oberbürgermeister auf uns. Mitte 40, charismatisch, offen – und in der CDU. In vier Wochen sind Wahlen, weshalb er den Termin mit diesen halbprominenten Ultratypen und ihrem guten Zweck gerne mitnimmt. Ich gebe mich sofort als linksgerichteter Grüner zu erkennen, und er fragt lachend, warum er nicht mit seiner Familie über Pfingsten in den Spreewald gefahren ist, als sich in seiner Stadt mit solchen Elementen treffen zu müssen. Seine Lache ist allerdings sehr sympathisch. Trotzdem schimpft er ernsthaft über Annalena Baerbock – »Seminarsaal, Kreißsaal, Plenarsaal«, sonst hätte die ja nichts geleistet in ihrem Leben. Es ist die typische Rede, die von alten weißen Männern geschwungen wird. Ich gebe mich friedlich und schweige, vielleicht auch, weil ich keine brauchbaren Argumente zur Hand habe. Dass die Welt Alternativen für alte weiße Männer und das Patriarchat bräuchte, oder so etwas. Aber Spontanität ist das, was einem fünf Minuten zu spät einfällt. Philipp hält sich lieber von dem Mann fern und macht mit dem Cäptn ein Live-Breakdance-Video. Wie gern wäre ich dazugehüpft und hätte meinen Moonwalk vorgeführt, aber das wäre dem Bürgermeister gegenüber zu unhöflich gewesen. Ein bisschen alte Schule steckt selbst in mir. So ganz ohne Etikette geht es nicht – und das ist sicherlich gut so.
Der Cäptn hat Philipp und mich immer wieder mit großartigem Picknick am Uferrand überrascht.
Noch 20 Kilometer bis zum Ziel, der Wind hat aufgefrischt und weiter Richtung Westen gedreht. Mittlerweile sendet meine linke Schulter ein Stechen aus, und mein rechtes Handgelenk brennt wie Feuer. Könnte ich doch nur für ein paar Paddelschläge die Seite wechseln. Aber dann würde ich sofort Richtung Flussmitte getrieben werden und wäre dem Wind noch stärker ausgesetzt. Auf der linken Flussseite nahe dem Wall zieht er wenigstens ein bisschen über mich hinweg.
Wie mag es Philipp gehen? Die ganze Zeit muss ich an ihn denken. Ihm muss der Gegenwind auch zu schaffen machen. Ob seine Blase gesund bleibt? Was, wenn er heute erneut Blut pinkelt? Wieder überlege ich, ob ich die Tour ohne ihn fortsetzen würde. Wie schrecklich er sich fühlen müsste, wenn er es aus gesundheitlichen Gründen nicht bis an die Nordsee schafft.
Mit diesem zermürbenden Kopfkino plätschern die Kilometer an mir vorüber. Bei Kilometer 129 liegen rechts und links der Elbe ein paar Dörfer. Ob ich schon da bin? Aber der Fluss macht eine Windung nach rechts, und der Rückenwind lässt mich übers Wasser fliegen, als wäre ich ein Wasserskiläufer. Plötzlich klingelt mein Handy – der Cäptn ist dran: »Hey Timm, bieg mal ab, du bist schon am Hotel vorbeigeprescht!« Über die App raceday.me kann man Philipp und mich gut online verfolgen. Zum Glück ist der Cäptn immer hellwach und hat gesehen, dass mir 50 Kilometer für heute offenbar nicht reichen.
Und der Tag ist noch nicht zu Ende, denn die erste Challenge steht an. Wir hatten uns vor der Tour fest vorgenommen, uns gegenseitig herauszufordern, um der stumpfen Eintönigkeit des Laufens und SUPens ein bisschen Pfeffer beizumischen. Heute müssen wir ein Gedicht über diese Tour schreiben. Das Ganze hat natürlich der Cäptn gefilmt – Sie finden die Bilder auf unseren Facebook-Accounts. Das Los hat entschieden, dass ich anfange. Ich baue mich also möglichst aufrecht und mit erhobener Brust vor Philipp und dem Cäptn auf, dann gebe ich mein Gedicht zum Besten:
ODE AN DAS BLUT, DEN SCHWEISS, DIE PLÄTE
Es ist doch stets dasselbe auf der Elbe, Es pfeift der Wind, es muhen Kälbe, links ein Schaf und rechts der Phil. Es riecht nach Gras und auch nach Grill.
Gestern 55, heute knappe 30. Hose, Hemd und Socken schweißig. Ich daneben, auf dem Strom. Lass mich treiben, blanker Hohn.
Bin ohne Kraft so schnell wie er. 7 Sachen macht die Elbe oder mehr. Er hingegen läuft sich Blasen, und wird trotzdem nie so schnell wie Hasen.
Nach 20 Kilometern trifft man sich. Voller Gram und Angst ist sein Gesicht. Rucke di Hase, Rucke di Hase, Blut ist in der Blase.
Sagt verzaget da der Phil, der so gerne an die Nordsee will. Sein Urin sei rot wie Wein. Die Tour gefährdet – oder nein?
Er beißt zusamm’n den Backenzahn Scheiß auf Blut und Schmerz und Schniedelhahn. Er rennt davon der ganzen Angst, Junge, was du dir alles abverlangst. Nun sind wir in Meißen, darauf reimt sich – alles Mögliche. Jetzt genug der Pamphelete, ich knutsch dir deine Pläte.
Philipp verzieht keine Miene, denn als früherem Rapper kann ich ihm in Sachen Endreim wenig vormachen. Er geht noch einmal in sich, und mit leiser, fast dramatisch-melancholischer Stimme füllt sein Gedicht das schnöde Hotelzimmer:
Oh ewig Nass, wo gehst du hin? Immer nach dort, wo ich nicht bin. Ich folg dir, täglich, Schritt für Schritt, immer dir nach, doch du fließt mit. Bist vor mir, hinter mir, an meiner Seit, Bist dünn und dick, bist schmal und breit, Bist manchmal Groll in meinem Trab, Ein andermal lenkt Schönheit ab. Du ziehst mich, bremst mich, treibst mich an, du liebst mich, kennst mich, bleibst entspannt, ziehst deine Kurven, deine Graden, hast zwischen Berge dich gegraben. durchschneidest Felder, Wälder, Wiesen, in Liedern, Bildern, du gepriesen. Bist meine Challenge, meine Hürde, bist meine Sorge, meine Bürde. Bist mir ne Freude, ein Genuss, auch kitzelst du in mir den Frust. Ich will dich lieben, will dich schlagen, will mit dir reifen, in den Tagen. Ein Ding, das wünsch ich mir so sehr: Will dich begleiten bis ans Meer.
Ich bin baff. Der Kerl hat’s wirklich drauf. Eigentlich ist er für den Klamauk zuständig, und ich gebe mich etwas seriöser. Doch in diesem Fall haben wir die Rollen getauscht. Ein schnelles Facebook-Voting ergibt einen knappen Vorteil für Philipp – aber wir geben den Leuten noch bis morgen früh Zeit. Dann muss der erste Sieger feststehen.
Schwielen und Hornhäute nach den ersten 100 Kilometern.