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4. Hinhören, was der Geist sagt
ОглавлениеDieser Ansatz klingt sehr geistlich. Wer kann schon etwas dagegen sagen! Deswegen will ich voranstellen: Ich glaube, der Heilige Geist führt uns tatsächlich. Manchmal zieht er uns sogar den Boden unter den Füßen weg, zeigt uns Dinge in der Bibel, die wir gar nicht gesucht haben, vielleicht gar nicht sehen wollten.
Aber natürlich stammt nicht alles, was uns beim Bibellesen »einfällt«, vom Geist Gottes. Nicht einmal, wenn wir versuchen, auf Gottes Geist zu hören, ist alles, was uns dann einfällt, auch automatisch das, was Gott uns sagen möchte. Vor allem, wenn andere gar nicht erkennen können, dass diese oder jene Einsicht von Gott ist, sollten wir sehr zurückhaltend sein mit der Annahme: Gott hat mir gezeigt, was dieser Text zu sagen hat und wie er in die Praxis umzusetzen ist.
Ohne Frage können wir in unserer Stillen Zeit durch die Bibel eine Begegnung mit Gott erwarten. Aber Vorsicht bei dem Gedanken, dass wir als Einzelne beim persönlichen Warten auf Gottes Führung entscheidende Wegweisungen für die Theologie oder Ethik der ganzen Gemeinde gewinnen würden. Zwar behauptete schon die Urgemeinde: »Der Heilige Geist und wir haben beschlossen …« (Apostelgeschichte 15,28). Aber das war eben, nachdem sie gemeinsam als Versammlung einen Konsens erreicht hatten. Das ist etwas völlig anderes als die Behauptung eines Einzelnen: »Der Heilige Geist und ich …« (siehe auch Kapitel zehn).
Was wir »Gottes Führung« oder die »Stimme des Heiligen Geistes« nennen, ist manchmal in der Tat eine Mischung aus dem, was Gott sagt, und unserer Tradition, unserer Neigung, unseren Wünschen, den Einsichten, die wir meinen, aus dem Text gewonnen zu haben (die wir in Wirklichkeit aber in ihn hineingelesen haben). Ein zuverlässiger Führer sind meine persönlichen Meinungen daher kaum!
Dennoch: Selbst wenn wir diese Meinungen anders nennen, wenn wir nicht von der »Stimme des Heiligen Geistes« reden, sondern »mein Bauchgefühl« oder »mein Eindruck« sagen, spielen sie eine wichtige und manchmal hilfreiche Rolle bei unserem Versuch, der Bibel treu zu sein.
Jeder hat beim Umgang mit biblischen Texten irgendwelche »Bauchgefühle«. Nicht immer können wir genau erklären, warum wir zu bestimmten Überzeugungen gekommen sind, wie ein Text zu verstehen und anzuwenden ist. So durchwachsen diese Gefühle auch sein mögen, sie können uns durchaus vor Gefahren schützen. Das »Bauchgefühl« eines ernsthaft nach der Wahrheit suchenden Gläubigen ist manchmal zuverlässiger als das logische Denken mancher Theologen.
Angenommen, wir hätten zwei Menschen vor uns: Der eine ein junger Mann, frisch von der Bibelschule, ausgerüstet mit sehr viel Bibelwissen und einer sorgfältig durchdachten systematischen Theologie. Er ist sehr klug, kann logisch denken und überzeugend reden. Der andere ist eine alte Schwester, die nie die Gelegenheit hatte, eine Bibelschule zu besuchen. Vielleicht besuchte sie nur die Grundschule. Sie versteht keine Theorie der Hermeneutik, hatte auch nie ein Fachbuch in der Hand – hat aber eine lebenslange tiefe Beziehung zu Jesus Christus und zu seiner Gemeinde, liebt die Bibel und liest sie regelmäßig.
Nun steht die Gemeinde vor einer schwierigen Entscheidung: Was lehrt die Bibel über diese Frage? Beide sind überzeugt. Der junge Mann kann seine Meinung mit kräftigen Argumenten vertreten. Die alte Schwester kann keine stichhaltigen logischen Argumente aufstellen. Aber ihr Bauch fühlt sich sehr unwohl mit der theologischen Richtung, die von ihrem jungen Bruder vorgeschlagen wird.
Auf wessen Meinung sollte die Gemeinde nun hören? Ich würde mindestens genau so viel Vertrauen in das »Bauchgefühl« der lieben alten Schwester wie in die Logik des jungen Bruders setzen. Natürlich brauchen sie einander und auch die Gemeinde braucht beide. Aber es wäre problematisch, wenn dieses unbegründete »Bauchgefühl« in solch einer Auseinandersetzung nicht zählen würde. Der Geist Gottes bringt solche Eindrücke mindestens so oft hervor wie schlaue theologische Argumentationen.
Welcher dieser vier Ansätze ist nun der richtige?
1. Die direkte Anwendung
2. Das Prinzip neu anwenden
3. Sich in den Text hineindenken
4. Hinhören, was der Geist sagt
Alle! Alle vier sind wichtig. Jeder Ansatz kann die Schwächen der anderen korrigieren. Jeder trifft in bestimmten Situationen, bei bestimmten Texten und bestimmten Themen. Wir sind besser dran, wenn wir alle vier Ansätze in Betracht ziehen, als wenn wir uns auf einen beschränken. Und auch wenn ein Konsens in der Gemeinschaft vielleicht schwerer zu erreichen ist, wenn der eine diesen Ansatz bevorzugt und eine andere jenen – ich meine: Die Entscheidungen, die aus solch einem Gespräch heraus entstehen, bleiben vermutlich eher innerhalb biblischer Grenzen, als wenn wir uns nur auf einen Ansatz beschränken würden.
Das setzt freilich voraus, dass jeder bereit ist, auch die Meinungen anderer ernst zu nehmen; dass jeder bereit ist, seine eigene Meinung in Frage stellen zu lassen; und dass jeder bereit ist, sich einem breiten Konsens anzuschließen, auch wenn er oder sie die vorgeschlagene Richtungfür nicht richtig hält. Wir müssen als Gemeinde fähig sein, Entscheidungen zu treffen, selbst wenn nicht alle sie für richtig halten. Unsere Entscheidungen sind ja keine endgültigen, unfehlbaren Wegweisungen von Gott. Sondern sie sind die beste Abmachung, die wir unter diesen Umständen erreichen können. Das gelingt uns durch intensives Betrachten der Bibel und ein genauso intensives und offenes Gespräch über die Praxis.
Gott gebe uns viel Geduld miteinander, viel Freude am Bibelstudium und eine extra Portion Bereitschaft, gemeinsame Wege zu suchen! Und wenn wir am Ende solcher Prozesse Entscheidungen treffen, dann sollten wir das auch gebührend feiern! In zehn Jahren können wir das Thema ja wieder aufgreifen und fragen: »Sehen wir es noch so wie damals? Oder gibt es neue Erkenntnisse, die in eine andere Richtung deuten? Hat sich unsere Situation inzwischen geändert, in der Gottes unfehlbares und gleichbleibendes Wort gelebt sein will?«