Читать книгу Nach dem Leben ist vor dem Leben - Tina Baumgartner - Страница 10

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Himmelwärts

Wie ein Strahl aus Licht, der die Form einer weißen Taube annimmt, fliegt Mari himmelwärts, immer weiter der strahlenden hellgelben Sonne entgegen.

Die weiße Taube ist FREI!!!

Glückselig flattern ihre gleißenden Flügel, mit eleganter Leichtigkeit bewegt sie sich in immer größer werdenden Kreisen dem Licht entgegen. Fliegen, einfach nur frei und leicht, unbeschwert und wieder jung sein, wie sehr hatte sich Mari danach gesehnt...

**

Mit einem kurzen Schütteln ihres Gefieders landet die weiße Taube nach langem Flug durch die Dimensionen und Ebenen von Raum und Zeit auf weichem Grund. Sie tritt kurz auf ihren kleinen Füßen hin und her, um den Boden zu spüren, anzukommen, und öffnet langsam ihre Augen. Das Erste, was sie wahrnimmt, ist ein helles, gleißendes Leuchten um sie herum, ein Blumenmeer, schimmernde, glitzernde bunte Blüten in Farben, die das Auge noch nie erblickt hat. Große, kleine, sternförmige, runde, spitze Blumen, Gräser und Bäume jeglicher Art und Form wehen im sanften Sommerwind, und liebliche Düfte nach Zitrusfrüchten, exotischen Gewürzen, Vanilleblüten erfüllen die Luft. Als sie schnuppert, um möglichst viel davon aufzunehmen, sieht sie an ihrem Körper hinab und erschaudert vor Überraschung.

Der Taubenkörper ist verschwunden, eine völlig neue Gestalt enthüllt sich ihrem Blick. Einem menschlichem Körper der äußeren Form nach ähnlich, doch um ein Vielfaches wunderbarer. Mari betrachtet sich verwundert: Sie sieht aus wie in ihren allerbesten Jahren, zur schönsten Zeit ihrer Jugend, nur noch viel schöner, strahlender, lebendiger. Die Falten sind verschwunden, die Haut rosig, keine Narben alter Verletzungen mehr zu erkennen, volles, glänzendes blondes Haar fällt in Locken ihren Rücken hinab, sie ist wieder schlank, grazil und hat wohlgeformte Beine. Wie kann das sein?

Mari strahlt vor Glück. Und wie sie so darüber nachsinnt, fällt ihr auf, dass sie keine Brille trägt – und trotzdem alles scharf sehen kann. Auch ihre Gedanken sind wieder vollkommen klar, eine tiefe Glückseligkeit erfüllt sie, denn die Schwere, das mühselige nach Worten und Gedanken Suchen, das sie jahrelang begleitet hatte, ist einfach weg. Es ist ein Gefühl von brillanter Klarheit, von umfassendem Wissen um alle Dinge, ein Sicherinnern, alles ist plötzlich wieder da.

Vorsichtig macht sie zwei kleine Schritte nach vorne und schwebt so leicht über den Boden, als ob sie eine Feder wäre. Dann noch einen ... und noch einen ... und sie tanzt, völlig schwerelos, leicht, macht Luftsprünge, dreht sich in der Luft und lacht laut vor unfassbarer Freude. Das muss ein Traum sein, denkt sie sich, ein wunderschöner Traum.

Erfüllt von ihrer Freude über den wiedergewonnen Körper hat sie ihre Umwelt noch gar nicht wahrgenommen, nun blickt sie sich erstaunt um: Da hinten ist doch das Meer! Ihr geliebtes Meer, das sie so lange vermisst hatte, da sie aufgrund ihres Alters nicht mehr reisen konnte. Sie spitzt ihre Ohren und hört Meeresrauschen, das Gekreisch von Möwen und spürt den Wind, der ihr Haar zerzaust. Ein Gedanke genügt, ohne sich bewusst bewegt zu haben, findet sich Mari direkt am weißen Strand wieder, der sie an ihre Ferien an der Nordsee erinnert, unbeschwert und leicht. Der weiche warme Sand liebkost ihre Füße, der Wind bringt den Geruch von Salz nahe, Wellen rauschen, und eine Welle von unbändiger Lebensfreude durchströmt Mari.

Wie sie so ihren Blick auf das Türkis, Blau, aquamarinfarbene Glitzern der Wellen richtet, entdeckt Mari weit draußen eine Gestalt. Ein Surfer gleitet elegant durchs Wasser, verschwindet in den Wogen, taucht wieder auf. Gebannt bewundert Mari seine geschickten Bewegungen. „So bin ich also doch nicht alleine hier“, denkt sie.

Die Brandung treibt die Gestalt auf dem Surfbrett immer näher, sodass Mari einen Schopf dunkelblonder Haare erkennen kann, einen sonnengebräunten, durchtrainierten Körper, der offensichtlich einem Mann gehört. Mit einem energischen Schwung landet der Surfer direkt vor Mari und lässt das Surfbrett in den Sand fallen.

„Ich muss wohl träumen, und das ist ein unglaublicher, ein wunderschöner Traum... Der Mann sieht tatsächlich aus wie Tom, mein Liebster, auf den Bildern, als er jung war, bevor wir uns kennengelernt haben.“

Der junge Mann grinst übers ganze Gesicht und sagt laut: „Nein, mein Schatz, du träumst nicht!“ Er stellt sich direkt vor Mari hin, nimmt ihre beiden Hände in seine, sie sehen sich tief in die Augen, ohne den Blick abzuwenden.

Seele erkennt Seele.

Stille.

Als Mari und Tom sich damals nach beiderseits gescheiterten Ehen auf einem spirituellen Seminar kennengelernt oder vielmehr in diesem Leben zum ersten Mal getroffen hatten, war es ein ebensolcher Blick gewesen, der alles entschieden hatte, der Moment, in dem beide sonnenklar wussten: „Ich erkenne dich wieder. So siehst du also dieses Mal aus. Das hier ist heilig. Wir sind eins!“

Denn wahrhaft Liebende treffen nie aus Zufall aufeinander, sie sind von jeher ineinander, eins.

„Du bist es, wirklich? Wie kann das sein? Wenn das bedeutet, dass ich tot bin, dann will ich gerne tot sein, Hauptsache, ich bin endlich wieder bei dir! Ich hab dich so vermisst, mein Schatz.“

Glückselig umarmen sich die beiden, küssen sich voller Liebe und Leidenschaft. Ein funkelndes Leuchten, rosarot, orange, pink schimmernd, breitet sich um die beiden aus, hüllt sie ein, bis sie lange Zeit später wieder lachend aus ihrer Vereinigung auftauchen.

„Du bist nicht tot, Mari, ganz im Gegenteil“, versichert ihr Tom. „Ich bin froh, dass du jetzt endlich so weit bist, mich hier besuchen zu können. Ich habe auf dich gewartet, aber nicht lange, denn die Zeit vergeht hier anders. Mir kommt es vor, als ob ich vor ein paar Tagen erst hier angekommen wäre. Und doch weiß ich, wie sehr du mich vermisst hast, wie allein du warst in all der Zeit. Für dich waren es Jahre...!“

„Acht Jahre sind es nun ohne dich. Alleine zu sein und noch dazu immer älter zu werden, abzubauen, das ist schwer. Aber wie unglaublich, dass das alles wahr ist, was wir uns zusammen vorgestellt hatten. Manchmal dachte ich, es sei nur ein Wunschtraum gewesen, zu schön, um wahr zu sein. Zwick mich mal, ich glaube, ich träume!“, sagt Mari strahlend. Tom zwickt sie nicht, sondern nimmt sie nur noch einmal in die Arme...

„Spürst du es nun, dass ich echt bin, dass alles, alles wahr ist?“ Zustimmend nickt sie und fragt nachdenklich: „Bleibe ich jetzt hier bei dir?“ „Oh nein, meine Liebste, für dich ist die Zeit noch nicht gekommen. Bald wirst du ganz mit mir vereint sein, dann kann uns nichts mehr trennen, das verspreche ich dir! Aber von nun an hast du mit Hilfe deines Spirit Teams dein Energielevel so weit angehoben, dass du zwischen den Welten wandern kannst.“

Das „Spirit Team“ besteht aus verschiedenen Begleitern und geistigen Führern, vor allem natürlich aus dem Geistführer. Dieses Team begleitet die Seele durch die Zeit, durch den Raum, durch die jeweiligen Verkörperungen, und auch in der Heimat, wenn man zwischen den Leben wieder dorthin zurückkehrt, steht es uns stets zur Seite.

„Wann immer du schläfst oder meditierst mit der Absicht, hierherzukommen, wirst du das auch dürfen. Du hast auf Erden noch einige Aufgaben abzuschließen, und wie ich dich kenne, willst du dich auch in aller Ruhe von unseren Lieben dort verabschieden, ihnen noch einiges für ihr Leben mitgeben.“

„Das stimmt. Ich kann nicht einfach so verschwinden, sie sind noch nicht so weit.“

Lange unterhalten sie sich noch an diesem strahlenden Sommertag, mehr durch ihre Gedanken als durch Worte. Das war eine Kunst, die sie schon zu Lebzeiten perfektioniert hatten. Der eine vollendet die Sätze des anderen, und so bringen sie sich auf den neuesten Stand. Nahe aneinander gekuschelt auf einer Decke, die Tom in den Dünen ausgebreitet hat, finden sie kein Ende und möchten am liebsten nie wieder auseinandergehen.

„Wie wird das nun weitergehen?“, erkundigt sich Mari noch einmal bei ihrem Liebsten.

„Ganz einfach, du hast die große Gnade gewährt bekommen, eine Zeitlang Bewohnerin beider Welten sein zu dürfen. Drüben hast du die Gelegenheit, dein Leben in aller Ruhe abzuschließen, wirst dich aber an alles erinnern können, was du hier erlebst. Dem ein oder anderen darfst du auch ein wenig davon erzählen, um Trost und Hoffnung zu bringen. Du weißt ja, dass dir die meisten sowieso nicht glauben werden und meinen, es sei das Gefasel einer alten und verwirrten Frau. Aber diejenigen, die bereit sind, darfst du erhellen und ihnen das große Geschenk offenbaren. Das ist alles im Plan enthalten, den du mit diesen Seelen vereinbart hast.“

Glücklich lächelt Mari übers ganze Gesicht, denn da fallen ihr schon so einige Erdenmenschen ein, die diese Botschaft dringend benötigen. Und sie darf sie überbringen, etwas Schöneres kann sie sich nicht vorstellen.

Als die Sterne zu funkeln beginnen, wird es Zeit für Mari, ihren Liebsten noch einmal zu küssen und sich für dieses Mal zu verabschieden. Doch beide wissen, es wird nicht lange dauern, bis sie sich wiedersehen, und so steht Mari auf, dreht sich lächelnd noch einmal zu Tom um, dreht sich, dreht sich schneller, bis sie sich in einem strahlenden Sternenwirbel erhebt und aus Toms Blickfeld verschwindet. „Leb wohl, meine Seelengefährtin, auf bald“, flüstert er ihr zärtlich nach.

***

Nach dem Leben ist vor dem Leben

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