Читать книгу Nach dem Leben ist vor dem Leben - Tina Baumgartner - Страница 9

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Mit dem Tod ist alles vorbei

Tot ist tot, so hatte es der Vater seit jeher behauptet. Er war im Krieg gewesen, hatte den Tod oft aus nächster Nähe mit anschauen müssen und im Gemetzel der Kämpfenden nie auch nur einen Hauch von Gottes Gegenwart wahrgenommen. Verzweifelt war er daran, an dieser Frage „Mein Gott, wo warst du in all dem Leid? Warum hast du uns nicht geholfen? Warum hast du das zugelassen?“

Das kleine, empfindsame Mädchen hatte diese Gefühle der Resignation, von Gott verlassen zu sein, des Verzweifelns am Leben, übernommen, obwohl sie es tief in sich eigentlich anders spürte. Ihr war im tiefsten Inneren immer klar gewesen, dass sie niemals wirklich sterben würde, dass es in ihr etwas gab, das leben würde, über alle Körper hinaus, über alle Zeiten hinweg. Doch dieses innere Wissen war ihr verlorengegangen.

Denn die Türen zur Erkenntnis öffnen sich erst durch die Erfahrung von Leid, persönlichem Kummer – dem Gefühl, am Ende zu sein.

Am Ende, ganz am Ende, kommt der Neubeginn, und das Licht leuchtet sanft durch die Tränen, die den Tunnel erfüllen.

Der Tod ihrer geliebten Mutter stellte den Türöffner für Mari dar. Und das kam so:

Schon als kleines Kind hatte Mari furchtbare Angst, ihre Mutter zu verlieren. Allein, das wusste sie, würde sie nicht überleben können, gab es doch niemanden auf dieser Welt, der sie so bedingungslos und unendlich liebte und verstand wie ihre Mutter. Als Maris Mutter erfuhr, dass sie noch einmal schwanger war, empfand sie es zunächst als Katastrophe, gab es doch bereits drei ältere Kinder, die gerade ihre Pubertätswirren erlebten, und die demente Großmutter, die ebenfalls zu Hause gepflegt wurde. Für alle diese Aufgaben war die Mutter zuständig, es war wie drei Vollzeitjobs gleichzeitig, und oft war sie komplett überfordert. Zeit für sie selbst blieb nie. Und dann noch einmal ein Kleinkind? Noch einmal ganz von vorne anfangen? Wie sollte sie das nur schaffen?

Verzweifelt brach sie vor ihrem Frauenarzt, der ihr mitgeteilt hatte, dass sie mit 39 Jahren noch einmal schwanger geworden sei, in Tränen aus. Dieser nahm sie erst einmal verständnisvoll in den Arm, er war noch von der guten, alten Sorte, ein Arzt, der sich Zeit nahm für seine Patienten. Als die ersten Tränen versiegt waren und sich Maris Mutter wieder halbwegs beruhigt hatte, sagte der Arzt Worte, an die sie sich bis zu ihrem Tod erinnern sollte:

„Es wird schon alles gut werden, haben Sie nur Vertrauen. Der Herrgott weiß schon, warum er Ihnen dieses Kind noch geschickt hat.“

Und so bekam auch dieses unerwartete Geschenk noch seinen Platz im Leben, in einer wunderbaren Familie voller Liebe und Zusammenhalt. Maris Angst um die Mutter war berechtigt, denn obwohl sie ihr Möglichstes tat, den schweren Alltag zu bewältigen, gab es doch immer wieder Stunden der Verzweiflung, in denen sie am liebsten nicht mehr leben wollte. Die Kleine empfand jedes Gefühl der Mutter mit, tröstete sie in ihren dunkelsten Stunden, legte die Ärmchen um sie, und die beiden wuchsen zu einer untrennbaren Einheit zusammen.

Später sagte die Mutter oft zu ihr: „Dich hat mir der Himmel geschickt!“, und umgekehrt empfand Mari es genauso. Diese Mutter hatte ihr der Himmel geschickt!

Doch immer war ihr bewusst, dass der Tag kommen würde, an dem die Mutter sie für immer verlassen würde, und je älter und gebrechlicher diese wurde, desto mehr Angst hatte Mari davor, alleine übrig zu bleiben. Immer war ihr klar, sie würde entweder daran zugrunde gehen, oder in ihrer Entwicklung einen großen Schritt nach vorne machen und endlich das Geheimnis um Leben und Tod für sich lüften. Entweder zerbrechen oder Klarheit gewinnen, und an dieser Aufgabe wachsen.

Eines Nachts, einige Jahre vor dem Tod der Mutter, hatte Mari einen ganz besonderen Traum: Ihr träumte, die Mutter sei weit weg und schriebe ihr von dort einen Brief.

„Ich werde Fieber bekommen, das ist der einzige Weg. Lass es dann geschehen, halte mich nicht zurück und lass mich gehen, denn du weißt, es ist mein Wunsch!“

Kaum erwacht, schrieb sie diesen Traum nieder, er hatte sie erschreckt, und sie wollte ihn möglichst schnell vergessen, wusste jedoch gleichzeitig, dass dies eine wichtige Botschaft gewesen war.

Bald danach ging es bergab mit der Gesundheit von Maris Mutter. Gerne wollte sie bleiben, weiter teilnehmen am Leben ihrer Kinder, Enkelkinder, ihres Mannes, ihrer geliebten Familie. Doch das Leben in diesem verbrauchten Körper wurde mehr und mehr zur Last, zur Bürde. Am schlimmsten traf es sie, als sie merkte, wie sich ihr Geist, ihr Denken und ihr Erinnerungsvermögen langsam vernebelten.

Nur die Liebe zu den Ihren blieb bis zum Schluss, niemals vergaß sie die Gesichter und die Namen der Menschen, die in ihrem Herzen waren. Die Besuche bei der Familie wurden immer schwieriger, der greise Körper machte immer größere Beschwerden, und irgendwann war ihr wohl klar, dass der Zeitpunkt zum Abschiednehmen gekommen war. Mit starken Bauchschmerzen wurde sie ins Krankenhaus gebracht, ein Magen-Darm-Infekt, so hieß es zunächst. Am nächsten Tag ging es ihr schon deutlich besser, die Familie schöpfte Hoffnung. Doch am darauffolgenden Tag, dem Karsamstag, bekam sie hohes Fieber, die Atmung wurde schwer, und in der Nacht zum Ostersonntag, dem Auferstehungstag, ging sie, an den Händen gehalten von Mari und ihrer Schwester, hinüber in die andere Welt.

Immer hatte Mari gedacht, der Tod der Mutter wäre das Ende für sie, doch es verhielt sich ganz anders. Noch am Sterbebett fühlte sie, für sich selbst völlig überraschend, in sich ein Jubilieren, eine tiefe Freude und Erleichterung, eine nie gekannte Freiheit und gleichzeitig unbändigen Stolz auf die Mutter, die das so mutig und tapfer gemeistert hatte. Ersteres waren die Gefühle der Mutter, die sie ein Stück weit in die Geistige Welt hatte begleiten dürfen.

Diese Gefühle blieben, eine innere Stärke, die auf ruhiger Gewissheit gründete, entstand in ihrem Innersten. Es gab auf einmal keinen Zweifel mehr, dass da mehr ist, dass es weitergeht nach dem Tod, dass die Liebe stärker ist als der Tod. So, wie es uns in der Osterbotschaft erzählt wird seit über zweitausend Jahren. Dass sich nur die äußere Form wandelt, wie ein altes Kleid, das abgelegt wird, weil es seinen Dienst getan hat, die Essenz jedoch wie ein frisch aus dem Kokon geschlüpfter Schmetterling wieder dorthin geht, woher sie ursprünglich gekommen ist: in die Heimat. Und gleichzeitig ist die Seele immer um ihre Liebsten herum, fühlt alles, was diese bewegt, und versucht, von der anderen Seite aus zu helfen.

An der Liebe zwischen Mutter und Kind änderte sich nichts, nach wie vor spürte Mari die Mutter in ihrem Herzen, jetzt deutlicher denn je. Mari war nicht zerbrochen, nein, im Gegenteil, sie hatte die Herausforderung gemeistert, derentwegen sie hergekommen war. Nun durften inneres Wissen, Inspiration, Gefühl und Spiritualität wieder Einzug halten in ihr Leben. Vielen Menschen konnte Mari seitdem helfen, denn sie gab ihr Licht, ihre Wärme und ihre Liebe freigiebig weiter an alle, die es brauchten.

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Nach dem Leben ist vor dem Leben

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