Читать книгу Nach dem Leben ist vor dem Leben - Tina Baumgartner - Страница 11
ОглавлениеErdenzeit
Sonja Schulz, die Stationsleitung und erfahrene gute Seele der „Station Sonnenschein“, des Pflegeheims, in dem Mari seit einigen Jahren lebt, nähert sich sachte dem Gartenstuhl, in dem Mari gerade aus ihrem Schläfchen erwacht. Sanft berührt die Altenpflegerin Mari an der Schulter und sagt: „Frau Tannwald, nun wird es aber schon recht frisch hier draußen. Sie haben ein schönes Schläfchen gehalten hier im Garten, aber jetzt sollten wir langsam hineingehen, das Abendessen wird ja schon bald hergerichtet.“
Mari reckt und streckt sich, die Augen hat sie jedoch noch geschlossen. „Frau Schulz, am liebsten möchte ich jetzt meine Augen zulassen und für immer in meinem Traum bleiben ... das war so wunderschön. Sie werden es mir nicht glauben, aber ich habe von meinem Mann, von meinem Liebsten, geträumt, von Tom. Ich habe ihn besucht, dort drüben, auf der anderen Seite, und wir waren beide wieder jung“, seufzt sie ergriffen.
Frau Schulz lächelt versonnen und streichelt die Hand der älteren Frau. Sie betrachtet den glückseligen Ausdruck auf Maris Gesicht und ahnt, dass hier wohl etwas Besonderes geschehen war an diesem sonnigen Nachmittag im Garten.
In ihren langen Jahren im Seniorenheim hat sie schon so allerlei Erfahrung gesammelt, und das nicht nur im gesundheitlichen und pflegerischen Bereich, sondern auch in menschlicher und spiritueller Hinsicht. Dies sind Dinge, über die sie mit den meisten ihrer Kolleginnen nicht spricht, da sie dort nur Unverständnis ernten würde. Zu Mari spürt sie schon seit deren Einzug eine besondere Verbindung und schätzt die alte Dame sehr.
„Das klingt aber wirklich wunderschön, Frau Tannwald. Sie strahlen ja richtiggehend. Erzählen Sie mir ein wenig davon?“
„Sie glauben nicht, wie gerne ich das tue! Ich weiß ja, dass Sie mich verstehen.“
Und sie erzählt der anderen Frau ausführlich von ihren Erlebnissen da drüben in der anderen Welt, von all dem, was Tom ihr anvertraut hat, davon, dass sie nun endlich eine felsenfeste Bestätigung all ihrer Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod erhalten hat, dass sie dies an Menschen weitergeben soll, die dieses Wissen benötigen und, vor allem, wie unendlich glücklich sie ist, nun zu wissen, wohin die Reise gehen wird.
Gebannt hört ihr Frau Schulz trotz all der Arbeit, die noch auf sie wartet, zu, und ihr ist klar, dass dies einer dieser goldenen Augenblicke ist, an die sie sich in den traurigen und schweren Momenten ihres Lebens zurückerinnern wird. Ein Anker, der ihr, und vielleicht auch anderen, Trost bringen wird. Mit Tränen in den Augen umarmt sie Mari und sagt einfach nur „Danke!“
Nachdem sie Mari in den Saal zum Abendessen begleitet hat, steht noch eine Teambesprechung im Stationszimmer an, die sie leiten soll. Kaum sind alle Unterlagen bereit, trudeln die Kolleginnen auch schon ein. Auch Emily ist nach dreiwöchiger krankheitsbedingter Fehlzeit wieder anwesend, sie ist Auszubildende im 2. Lehrjahr und die jüngste im Team.
„Schön, dass du wieder zurück bist, Emily. Du hast uns gefehlt. Ich hoffe, du bist nun wieder gesund und einsatzbereit“, richtet Frau Schulz das Wort an sie.
Emily nickt nur kurz. Sämtliche Ereignisse des Tages werden kurz besprochen, damit alle auf dem aktuellen Stand sind.
Abschließend erwähnt Frau Schulz: „Unsere Frau Tannwald hat mir heute übrigens etwas erzählt, sie hatte wohl einen wunderschönen Traum, dass sie ihrem verstorbenen Mann begegnet ist. Es war toll, dass sie mir das anvertraut hat, und ich möchte euch bitten, dass ihr ihr mit Verständnis entgegentretet, wenn sie euch auch etwas in der Art berichten sollte.“
Die meisten Kolleginnen lächeln verständnisvoll, eine wirft nüchtern in die Runde: „Na klar, die alte Dame halluziniert, da geht es wohl schon etwas in Richtung Demenz, in letzter Zeit sind mir da auch schon ein paar Anzeichen aufgefallen. Naja, die Jüngste ist sie nicht mehr, wer weiß, wie lange das noch dauert mit ihr.“
Zustimmend nicken einige der Pflegerinnen, die auch schon erlebt haben, dass alte Leute mitunter merkwürdig werden und absurde Geschichten von sich geben.
„Nein, sie halluziniert nicht, für sie ist das ihre persönliche Erfahrung, und genau deshalb erzähle ich euch davon. Mir ist es wichtig, die Menschen ernst zu nehmen, auch wenn ihr nicht alles nachvollziehen könnt. Ich möchte euch bitten, dass ihr sie nicht auslacht, sondern ihr mit Wertschätzung begegnet.“
Wohl wissend, dass diese Botschaft nicht von allen Pflegekräften angenommen wird, manche jedoch verstehen, was sie damit sagen will, beendet Frau Schulz das Meeting für den heutigen Tag, schlüpft in ihre Alltagkleider und tritt den Heimweg an. Unterwegs entschließt sie sich kurzerhand, noch einmal auf die Schnelle bei Rolf, ihrem Bruder, vorbeizuschauen.
Es ist eine schlimme Sache mit Rolf. Vor einigen Wochen bekam er völlig aus dem Nichts heraus die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ihn selbst und seine Frau Ina und auch den kleinen Sohn Anton traf das mit aller Wucht, und die ganze Familie war noch immer im Schockzustand. Wegen geringfügiger Verdauungsbeschwerden hatte er den Hausarzt aufgesucht, da er zudem noch eines Morgens mit gelben Bindehäuten der Augen aufgewacht war. Der machte einige Untersuchungen, schickte ihn zur Abklärung in die Universitätsklinik, wo er erfuhr, dass es nicht gut um ihn stand. Chemo, Operation und trotz alledem nicht viel Hoffnung, ein paar Monate noch vielleicht?
Rolf ist Ingenieur, ein Mensch, für den Zahlen und Fakten zählen, an Gott glaubt er nicht. Für ihn bedeutet diese Diagnose die Auslöschung, das schwarze Loch, in das er fällt, das absolute Nichts.
Rolf ist noch im Krankenhaus, die Operation und die erste Chemo sind geschafft, doch es geht ihm nicht gut. Die Ärzte machen ihm wenig Hoffnung. Sonja Schulz kennt ihren Bruder nur zu gut: Auch wenn er sich nach außen hart gibt, den Kämpfer zeigt, fühlt sie doch seine unbändige Angst, seine Wut und seine Hilflosigkeit. Ehrlich gesagt fehlen auch ihr die Worte, sie weiß einfach nicht, wie sie ihm begegnen soll. Sie hat im Laufe ihres Berufslebens dem Tod schon oft ins Auge geschaut, Menschen beim Sterben begleitet und ihre Angehörigen getröstet, so gut es ging. Nicht immer konnte sie die professionelle Distanz wahren, oft verfolgten sie die Erlebnisse bis nach Hause, wo sie einige Zeit brauchte, um ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden, vor allem, wenn sie die Patienten in ihr Herz geschlossen hatte. Doch dieses Mal ist es anders. Es ist ihr großer Bruder, zu dem sie schon seit der Kindheit eine tiefe Zuneigung hat und der ihr noch heute besonders nahesteht.
Entschlossen wischt sie sich die Tränen aus den Augen, Rolf soll nicht sehen, dass sie um ihn weint, und klopft an die Tür seines Krankenzimmers. Sie will helfen, auch wenn sie im Moment noch nicht recht weiß, wie sie das am besten anstellen soll. Schnell faltet sie die Hände vor der Brust zusammen und schickt ein kurzes Stoßgebet nach oben: „Bitte, lieber Gott, oder wer auch immer mich da hören mag, hilf mir jetzt, die rechten Worte zu finden. Ich liebe meinen Bruder so sehr.“
Als sie ins Zimmer tritt, steht Rolf mit dem Rücken zu ihr am Fenster. „Bist du das, Sonja?“, fragt er mit heiserer Stimme.
„Ja, Rolf. Ich komme gerade von der Arbeit und dachte, ich schaue schnell mal bei dir herein.“
Als sie ihn umarmen will, wehrt er sie ab. Er ist eine Mauer, hat komplett zugemacht. Nach einigen vergeblichen Versuchen, ein unverfängliches Thema zu finden, bei dem Rolf ihr nicht sofort das Wort abschneidet, bittet sie ihn, einige Schritte im Krankenhausgarten mit ihr zu gehen, da es für die Tageszeit noch hell und recht angenehm ist und sie gerne eine rauchen möchte. Brummelnd willigt er ein, zieht sich seinen gestreiften Bademantel über, und die beiden wandern schweigend durch ein Meer von Gräsern und bunten Sträuchern, ohne ihre Umgebung richtig wahrzunehmen.
Plötzlich ertappt sich Sonja dabei, wie sie ihrem Bruder von ihrem heutigen Erlebnis mit Mari Tannwald erzählt. Sie kann nicht einmal genau sagen, warum ihr das auf einmal durch den Kopf und über die Lippen geht. Sie erzählt ihm, dass die alte Frau etwas ganz Besonderes ist, dass sie ihr glückseliges Gesicht beobachtet hat, als sie vom Jenseits, von ihrem Geliebten, von all den Blumen und vom Meer sprach. Und vor allem davon, dass sie dort wieder jung und völlig gesund war, kein Zeichen von Krankheit, Gebrechen oder Alter.
Dass es eine Welt jenseits der unseren gibt, in der wir als ewige Seelen leben, die ab und an einen Ausflug ins Irdische machen, um dort Erfahrungen zu machen, zu lernen und dann bereichert an Wissen und Erlebnissen wieder heimzukehren. Dass alles einen Sinn ergibt. Dass alles gut wird.
Schweigend hört Rolf ihr zu, zumindest lässt er sie ausreden. Sein Blick weicht ihr aus, sucht den Boden ab. Als sie verstummt, nickt er nur knapp.
„Sonja, ich will dich nicht verletzen, und ich weiß, du sagst das alles, um mir zu helfen und mich zu trösten. Aber sei mir nicht böse, ich kann damit absolut nichts anfangen, was irgend so eine alte Frau daherfaselt. Jenseits, Wiedergeburt, Himmel und Gott, das sind doch alles nur Hirngespinste, Wunschvorstellungen von Leuten, die die Tatsache nicht ertragen können, dass tot einfach nun mal tot ist. Da gibt es nichts danach, das hätten unsere Wissenschaftler doch schon längst herausgefunden. Wenn das Gehirn stirbt, ist Sense.“
Traurig umarmen sich die beiden Geschwister, und Sonja macht sich auf zu ihrem Auto, um nach Hause zu fahren.
„Oh je, was hat mich denn da geritten, Rolf von solchen Themen zu erzählen? Ich weiß doch ganz genau, dass er das alles für Quatsch hält und mich für ein naives kleines Mädchen, das an Märchen glaubt“, denkt sie sich bedrückt.
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