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Frühling

Still sitzt die alte Frau in ihrem bequemen Lehnstuhl im Garten des Seniorenheims. Eine weiche, blaue Decke bedeckt ihre Beine, nebenan auf einem Tischchen steht eine Schnabeltasse mit Kaffee. In letzter Zeit friert Mari leicht, der in die Jahre gekommene Körper fordert seinen Tribut. Versonnen ruht ihr Blick auf den bunten Blüten des Frühlingsbeetes, ein Lächeln erhellt ihr Gesicht, als ein kleiner weißer Schmetterling fröhlich durch die blauen Kornblumen und die weißen Margeriten flattert. Einen winzigen Moment lang setzt er sich auf die faltige Hand der alten Dame, um dann seine Suche nach Sonnenschein fortzusetzen.

„Kommst du bald heim?“, vermeint sie es flüstern zu hören. Doch niemand ist zu sehen.

Die Terrassentür schlägt ungestüm an die Wand, als ein kleines blondes Mädchen an der Hand seines Vaters in den sonnengefluteten Garten hüpft. Elisa ist fünf Jahre alt, sie ist die jüngste Tochter von Maris Sohn David und freut sich, ihre Omama zu besuchen.

„Omama, ich hab' dich lieb!“, ruft die Kleine und wirft ihre Arme um die Großmutter.

„Weißt du, Elisa, genau das habe ich immer zu meinem Papa gesagt, wenn er abends von der Arbeit heimgekommen ist. Und er hat sich genauso darüber gefreut wie ich mich jetzt, wenn du so lieb zu mir bist“, flüstert ihr Mari ins Ohr.

Zu diesem Enkelkind spürt sie eine ganz besondere Verbindung, ganz ohne Worte, als ob sie sich schon Jahrhunderte lang kennen. Elisa ist ein ganz besonderes Kind, genau wie ihre Großmutter wird sie oft belächelt, da sie, wie die Leute sagen, eine übergroße Fantasie hat, sich die tollsten Geschichten ausdenkt und Dinge wahrnimmt, die andere nicht mal erahnen können.

„Wie schön, dass ihr beide da seid!“

Auch David erhält eine lange Umarmung. Der groß gewachsene und gut aussehende Karrieremann hat sich an diesem herrlichen Frühlingstag extra eine Stunde frei genommen, um seine Mutter zu besuchen. Entspannt legt er sich im Gartenstuhl zurück und erzählt, was in seiner Firma in der letzten Woche alles so los war. Elisa packt währenddessen ihr Kinderköfferchen aus, in dem sich Malstifte in allen Farben des Regenbogens befinden, und macht es sich, eng an ihre Oma gekuschelt, gemütlich.

„Omama, ich male jetzt ein schönes Bild, nur für dich!“, erklärt sie und sucht sich den hellsten Blauton aus, den sie finden kann.

Während die beiden Erwachsenen sich unterhalten, entsteht ein kleines buntes Kunstwerk. Ein strahlend blauer Sommerhimmel, an dem sich eine lachende knallgelbe Sonne tummelt, ein allfarbiger Regenbogen erstreckt sich übers Blatt. Unter dem Regenbogen steht inmitten vieler bunter Blumen eine lachende Großmutter Mari, die eine reinweiße Taube in den geöffneten Händen hält. Ein kleiner, weißer Schmetterling flattert vergnügt um sie herum. Über dem Regenbogen sieht man mehrere lachende Gesichter von winkenden Menschen.

„Da, schau mal, das habe ich für dich gemalt, Omama! Das in der Mitte bist du, und da oben ist der Opa Tom, der winkt und freut sich schon, dass du bald in den Himmel kommst.“

„Elisa, wirst du wohl still sein, so etwas sagt man doch nicht! Die Omama lebt noch ganz lange, und es geht ihr gut!“, zischt David, Elisas Papa, entsetzt und zieht sein Töchterchen zu sich.

Die alte Dame lächelt, ihr runzliges Gesicht erstrahlt.

„Lass sie nur, David, sie hat schon Recht. Schau, ich bin alt, und es wird wirklich langsam Zeit für mich, endlich nach Hause zu gehen zu all denen, die mich lieben. Tom ist schon so lange weg, und er fehlt mir so sehr. Und du, mein kleiner Schatz Elisa, hast mir das schönste Bild gemalt, das ich je bekommen habe, ich danke dir. Das werde ich mir oben in meinem Zimmer an die Wand hängen, und dann sehe ich es jeden Tag und denke an dich.“

Dem dunkelblonden David stehen plötzlich Tränen in den Augen. Auch wenn er mitten im Leben steht, Familie, eine wunderbare Frau und ein erfolgreiches Berufsleben hat und glücklich geworden ist, kann er sich doch eine Welt ohne seine Mutter nicht vorstellen. Sie war es doch, die immer da gewesen war, ihn von seinem ersten Atemzug an beschützt, geliebt und begleitet hat, durch alle freudigen oder traurigen Momente hindurch, eine unermüdliche Stütze. Der Mensch, der ihn mit all seinen guten und auch gerade mit seinen nicht so guten Eigenschaften von Grund auf kennt und ihn trotzdem oder gerade deswegen bedingungslos liebt. Die Frau, die seine ganze Geschichte miterlebt hat, seine Geburt, Kindheit, Jugend, Pubertät, die ersten Schritte ins Mannesalter, seine Erfolge und Misserfolge, sein Glück und seine Tränen – und die ohne Vorbehalte unendlich stolz auf ihn ist.

„Weißt du, Mama, früher war das ganz klar für mich, dass man alt wird und irgendwann stirbt, ich war da nie sentimental, aber wenn du einmal nicht mehr da bist...“

Für den sachlichen, nüchternen Geschäftsmann ist das schon so viel wie eine Liebeserklärung, und Mari kennt ihren Sohn nur zu genau. Mit Spiritualität, großen Gefühlen, Gott oder dem Leben nach dem Tod konnte er noch nie viel anfangen. Es waren Zahlen, Fakten und Erfolge, die seine Begeisterung weckten. Lange hatte sie darauf gewartet, dass er sich öffnen möge für die andere Seite der Realität, die ihr so nahe war, mit der sie sich befasst hatte, seit sie denken und fühlen konnte. Sie hatte immer gewusst, dass dies eines Tages der Fall sein würde, dass ihr Sohn dann Trost brauchen und den Schritt durch die Tür der Logik hin zum Empfinden tun würde. Dann würde er all den Schatz an Lebensweisheit und innerem Wissen brauchen, den sie ihr Leben lang gesammelt hatte. Und er würde ihn annehmen können.

Nun ist dieser erste Moment da. Behutsam legt sie ihre Hand auf die seine, Tränen laufen ihre Wangen herab.

„Mein Sohn, da ist noch so viel mehr, als du jetzt glaubst oder dir vorstellen kannst. Mein Körper ist alt, er wird mir zur Last, und eines Tages wird er mich nicht mehr tragen können. Aber ich bin trotzdem da, immer! Das, was ich wirklich bin, das bleibt. Ich verspreche dir eins: Ich werde dich niemals verlassen, mein Schatz! Wann immer du an mich denkst, bin ich da, und du wirst mich spüren können, tief in deinem Herzen. Und wenn du magst, schicke ich dir genauso einen weißen lustigen Schmetterling, wie ihn Elisa gerade gemalt hat. Dann weißt du, ich bin da. So hat das nämlich meine Mutter damals für mich auch gemacht.“

Tief berührt drückt David die Hand seiner Mutter und lächelt sie mit Tränen in den Augen an. So ganz kann er nicht glauben, was er da eben gehört hat, auch wenn er es für sein Leben gerne annehmen möchte. Doch wie seine Mutter ist auch er ein Mensch, der nicht blind glaubt, was ihm gesagt wird, sondern sich grundsätzlich nur das zu eigen macht, was er selbst erlebt und für wahr befunden hat.

Nachdem die drei noch eine Zeitlang geplaudert haben, wird Mari müde, sie verabschieden sich und freuen sich bereits auf Jamies baldige Geburtstagsfeier, bei der sie sich wiedersehen werden. Jamie ist Maris älterer Sohn, nach langen Jahren der Einsamkeit hat er doch noch Majala, seine Seelengefährtin, gefunden und mit dieser einzigartigen Frau das Zwillingspärchen Lucas und Taya bekommen. Die Teenager machen ihren Eltern das Leben nicht immer leicht, sind jedoch beide frohe, lebenslustige und warmherzige junge Menschen, die das Herz auf dem rechten Fleck tragen.

Entspannt lehnt sich Mari in ihrem Liegestuhl zurück, die Sonnenstrahlen scheinen ihr liebkosend ins Gesicht, und ihre Augenlider schließen sich müde zu einem kleinen Schläfchen.

***

Nach dem Leben ist vor dem Leben

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