Читать книгу Nach dem Leben ist vor dem Leben - Tina Baumgartner - Страница 12
ОглавлениеFreundinnen
Unterdessen sitzt Mari beim Abendessen, das für Seniorenheimverhältnisse ungewöhnlich reichhaltig und lecker ist, und genießt eine Portion Bratfisch mit frischem Salat. Da stößt jemand von hinten ungeschickt an ihren Stuhl. Mari dreht sich um und sieht, dass Andrea versucht, mit ihrem Rollator durch die Stuhlreihen zum freien Platz neben ihr durchzudringen.
Andrea ist seit einigen Wochen ihre neue Zimmernachbarin. Nach dem für sie völlig überraschenden Tod ihres Mannes, mit dem sie 55 Jahre verheiratet gewesen war, kam sie zu Hause nicht mehr alleine zurecht und wurde von ihrer Tochter im Seniorenheim angemeldet. Obwohl die Tochter sich rührend um ihre Mutter kümmert und sie täglich besucht, ist Andrea noch ziemlich neben der Spur. Mari hört sie oft in ihrem Zimmer auf- und abwandern, nachts läuft sie ruhelos durch die langen Gänge und will von den anderen in Ruhe gelassen werden.
Einige Male hat Mari ihr leise zugelächelt, ihren Blick gesucht, vielleicht ist das der Grund, warum Andrea sich nun neben sie setzen mag.
Mari rückt ihr den Stuhl zurecht, sodass sie sich setzen kann, und zwinkert ihr zu. „Schön, dass Sie heute zum Essen gekommen sind. Der Bratfisch schmeckt fast wie an der Nordsee“, meint Mari. Die andere antwortet nicht, sieht sie jedoch mit verweinten Augen kurz an und versucht ein kleines Lächeln. Ohne viel zu reden, nehmen die beiden Zimmernachbarinnen ihre Mahlzeit zu sich.
Als sie sich erheben, um den Tisch zu verlassen, legt Mari kurz ihre Hand auf die der anderen Frau: „Ich bin übrigens Mari, und wir können uns gerne duzen, wenn das in Ordnung ist? Und wenn du jemanden zum Reden brauchst oder um nicht alleine zu sein, klopfst du einfach bei mir, ich bin ja im Zimmer nebenan.“
Überrascht nickt die andere und wispert: „Ja, mal schauen. Danke für das Angebot.“
In den nächsten Tagen ergibt es sich immer öfter, dass die beiden Frauen nebeneinandersitzen, wenn es ums Essen oder um Beschäftigungen geht. Eine Zuneigung entwickelt sich, ein leises Gefühl, auf einer ähnlichen Ebene zu sein. Und so kommt es, dass es eines Abends an Maris Zimmertür klopft. Sie legt ihren Krimi beiseite und öffnet Andrea die Tür.
„Da bist du ja. Das freut mich. Komm doch rein.“
Gemeinsam trinken sie einen Tee und erzählen sich aus ihrem Leben. Andrea taut allmählich etwas auf und fasst Vertrauen zu Mari. Sie finden heraus, dass sie beide ähnliche Interessen haben, Andrea war lange Jahre Yogalehrerin, ist viel gereist mit ihrem Mann, und beide hatten einen gesunden, ganzheitlichen Lebensstil gepflegt. Mari hatte mit ihrem Tom ebenfalls die halbe Welt bereist und gemeinsam ebenfalls Yoga praktiziert, außerdem war sie Heilpraktikerin und leidenschaftliche Homöopathin. Daher gibt es einigen Gesprächsstoff, wenn auch das eine, das schwere Thema, noch im Raum steht.
So kommt es, dass die beiden Freundinnen werden und abends oft im Zimmer der einen oder anderen zusammensitzen. Das ein oder andere Tässchen Tee oder auch mal ein Gläschen Rotwein wird dabei geleert, und gute Gespräche finden wie von selbst ihren Lauf, aber auch freundschaftliches Schweigen entsteht. Die beiden fühlen sich wohl miteinander. Mari ist ein feinsinniger Mensch, der oft Dinge wahrnimmt, die anderen verborgen bleiben, und seit ihrer Erfahrung „drüben“ hat sich diese Gabe noch verstärkt.
Als sie eines Abends entspannt zusammensitzen, hat Mari so ein Gefühl, dass nun eine gute Gelegenheit wäre, Andrea offen auf ihren Verlust und das im Raum stehende Thema anzusprechen. Sie schickt ein kurzes Gebet nach oben, bittet um Unterstützung, um der anderen Frau etwas sagen zu können; um gute Inspiration, die ihr hilft, die richtigen Worte zu finden, und ihrer Freundin den so bitter benötigten Trost zukommen zu lassen.
„Andrea, weißt du, da gibt es etwas, das ich dir gern erzählen möchte. Ich weiß nicht, wie du zu diesen Dingens stehst, Spiritualität, das Leben nach dem Tod, Medialität...?“
„Naja, ich habe einige Bücher gelesen, Elisabeth Kübler-Ross und so weiter, habe viel meditiert, aber ehrlich gesagt, so einen richtigen Zugang habe ich nicht dazu gefunden. Mit dem Kirchenkram konnte ich nie viel anfangen, Antworten gab es da keine, die mich angesprochen hätten. Ich kann mir schon vorstellen, dass es irgendwie weitergeht nach dem Tod, ich hoffe es zumindest. Es wäre so schön, wenn ich Stephan, meinen Mann, irgendwann wiedersehen könnte. Aber ehrlich gesagt, ich weiß nicht recht, so konkret...?“
Als Mari merkt, dass Andrea durchaus offen für diese Themen ist, fasst sie all ihren Mut zusammen und erzählt ihr von ihrem ganz besonderen „Traumerlebnis“.
„Ich bin im Garten eingeschlafen, habe geträumt, ich sei eine weiße Taube, und stell dir vor, ich hatte tatsächlich das Gefühl, meinen Körper zu verlassen und bin geflogen! Das war so wunderschön, das glaubst du nicht! Und dann landete ich und merkte plötzlich, dass ich wieder so jung aussah wie in meinen Zwanzigern, ich fühlte mich gesund und energiegeladen und einfach rundum großartig. Ich hatte ganz vergessen, wie man sich fühlt, wenn man jung ist. Ich war an einem wunderschönen Ort, da sah es genauso aus, wie ich mir immer den Himmel vorgestellt habe. Da waren herrliche Blumen und Düfte, Schmetterlinge, Vögel und sogar das Meer. Und dann ist etwas ganz Besonderes passiert, das ich bis heute nicht vergessen habe. Ich bin meinem Tom begegnet, meinem Mann! Du weißt ja, dass er vor einigen Jahren verstorben ist, er war ja etliche Jahre älter als ich. Seitdem bin ich allein, und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht morgens als Erstes und abends als Letztes an ihn denke. Aber da stand er plötzlich, jung, gesund, gut aussehend und voller Leben. Wir waren so glücklich, uns endlich wiederzuhaben, das fühlte sich so gut an. Und so echt. Ich kann es dir nicht anders erklären, aber er war es wirklich, und ich spüre ganz sicher, dass das viel mehr als ein Traum war. Das war echt. Ich hatte jetzt einfach das Gefühl, dass ich dir das heute erzählen sollte...“, endete Mari.
Und dann brechen plötzlich alle Dämme bei Andrea. Die Tränen, so lange und so mühsam zurückgehalten, bahnen sich ihren Weg, Andrea bricht förmlich zusammen, schluchzt, weint, wirft ihre Arme um Maris Hals und lässt endlich all das heraus, was schon so lange gefühlt werden will. Der Fluss der Trauer fließt frei und ungehindert.
Als sich Maris Tür leise öffnet und eine Pflegekraft ins Zimmer schaut, die das laute Weinen bis auf den Flur gehört hat und nach dem Rechten sehen will, hebt Mari nur kurz den einen Arm, der um die Freundin gelegt ist, und signalisiert ihr mit einem kleinen verheulten Lächeln, dass alles in Ordnung sei. Und so ist es auch.
Noch lange sitzen die beiden an diesem Abend beieinander, eine Box mit Taschentüchern und eine Kanne Früchtetee zwischen sich, und reden. Andrea hat endlich das Gefühl, verstanden zu werden, so sein zu dürfen, wie sie sich fühlt, angenommen und wahrgenommen mit all ihrer Trauer, ihrer Sehnsucht, ihrer großen Liebe. Mari geht es ähnlich. Auch sie redet normalerweise mit kaum einem Menschen über ihre tiefe Traurigkeit, ihren Geliebten, ihre Einsamkeit.
Man will sich den anderen nicht zumuten in dieser unendlichen Trauer, die anderen wollen ja ihr Leben unbeschwert weiterleben, nicht zu tief in die dunklen Gefilde der Verzweiflung eintauchen. Wer versteht schon, dass die Zeit eben nicht alle Wunden heilt, dass das Gefühl, den anderen zu vermissen nach all den Jahren nicht weniger, sondern mehr wird? Dass der wilde und unbändige Trauerdrache noch immer und immer wieder seine Zähne fletscht, sie dir tief ins Fleisch gräbt, dir das Herz zerreißt? Wer will das schon hören?
Und doch hat Andrea an diesem Abend einen kleinen Funken Hoffnung ins Herz gesetzt bekommen. Hoffnung auf ein Wiedersehen, wenn auch nur im Traum...
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