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1.4.2Die Polarisationsthese
ОглавлениеDie Gegenthese zum Gleichgewichtspostulat geht davon aus, dass Entwicklungen zur Polarisierung tendieren. Eine wichtige Wurzel dieser Debatte findet sich beim britischen Ökonom John Maynard Keynes (1883–1946), der mit seinen Arbeiten die keynesianische Perspektive begründet hat. Keynes hat auf volkswirtschaftlicher Ebene argumentiert und ein Eingreifen des Staates in Krisenzeiten gefordert. Die Polarisationstheorie hat in den 1950er-Jahren dann diese Perspektive weiterentwickelt im Hinblick auf den regionalen Maßstab und eine räumlich differenzierte Betrachtung (Myrdal 1957). Demnach kann ein negatives Ereignis in einer Region – z. B. die Schließung eines großen Betriebes – leicht zu weiteren Negativentwicklungen führen und gar in einer Abwärtsspirale münden (s. Abb. 10). Dabei kann eine ganze Branche und eine ganze Region in Mitleidenschaft gezogen werden. Um übertriebene und gefährliche Entwicklungen zu vermeiden, ist in dieser Denkschule ein rechtzeitiges Eingreifen der öffentlichen Hand vonnöten.
Abb. 10 Abwärtsspirale der keynesianischen bzw. polarisationstheoretischen Sicht
Umgekehrt kann ein positives Geschehnis, z. B. eine bedeutende Unternehmensansiedlung, auch einen dauerhaften Aufwärtstrend auslösen. Diese Annahme liegt zugrunde, wenn in strukturschwachen Gebieten oder auch in Entwicklungsländern Großinvestitionen getätigt werden, in der Hoffnung einen Impuls zu setzen, der sich langfristig und großräumig auswirkt.
Die keynesianische Sicht, die hier zugrunde liegt, vertraut in die Kompetenz und Wirksamkeit staatlichen Handelns. Während in der makroökonomischen Diskussion vor allem der Investitionszeitpunkt im Konjunkturverlauf diskutiert wird (sog. deficit-spending zu dem Zeitpunkt, wenn krisenbedingt ohnehin wenig Einnahmen zur Verfügung stehen), so ist auf der regionalen Ebene der räumliche Bezug gewissermaßen paradox: Es soll dort staatlich investiert werden, wo es nicht gut läuft; in den prosperierenden Teilräumen kann er sich zurückhalten.
Die Kritik auch an diesem Ansatz ist mannigfaltig: Staatliche Steuerungsmaßnahmen könnten demnach Prozesse des Strukturwandels verzögern und Innovationen letztlich verhindern. Staatliches Handeln hat eine recht lange Vorlaufzeit – zwischen dem Eintreten einer Krise, der Organisation des keynesianischen Handelns (wie z. B. einem Investitionsprogramm für Infrastruktur) bis zum Eintreten der Wirkungen können Jahre vergehen und an der Problemstellung vorbeizielen. Darüber hinaus wird kritisiert, dass staatliches Eingreifen stets der Gefahr ökonomischer Ineffizienz unterliegt, da es mit hohen Verwaltungskosten, z. B. für die Erhebung von Steuern und Überwachung der Ausgaben verbunden ist.
Abb. 11 Betriebsschließung bei wichtigstem Arbeitgeber einer prosperierenden Region – Reaktionsmöglichkeiten aus Perspektive des Gleichgewichts- und des Polarisationspostulats (verändert und ergänzt nach Braun & Schulz 2012: 109)
Am Rande sei vermerkt, dass die Polarisationstheorien in einigen Punkten Nähe zur neomarxistischen Perspektive haben (z. B. die Regulationstheorie). Diese geht davon aus, dass Trends dazu neigen, sich zu verschärfen, vor allem im negativen Sinne. Im Unterschied zu den Polarisationstheoretikern halten neomarxistische Denker dies aber nicht für ein Krisensymptom, das mit staatlicher Intervention zu heilen ist. Sie halten dies vielmehr für wesentliches Kennzeichen kapitalistisch organisierter Staaten. Diesen wird zugeschrieben, dass sie auf sogenannten Akkumulationsregimen beruhen, die sich aus der Organisation der Produktion und Kapitalflüsse ergeben. Diese Akkumulationsregimes führen langfristig zwingend zur Überakkumulation, also zur Krise. Diese kann vorübergehend überwunden werden, indem eine räumliche oder institutionelle Expansion der Akkumulationsregimes erfolgt: Die Globalisierung wird als ein solcher Expansionsschub gedeutet. Die zunehmend weltweite Organisation von Wirtschaftsprozessen ermöglicht Akkumulationen von Kapital, die in einem vor allem nationalstaatlich organisierten Wirtschaftssystem nicht möglich wären. Ein Beispiel ist die Immobilienwirtschaft, die durch Finanzialisierung der Branche eine Internationalisierung und spekulationsbasierte Umsatzerhöhung erreicht hat. Ein Platzen von Finanzblasen wie 2008 in den USA lässt sich insofern als Überakkumulation deuten, die am Ende nicht zu vermeiden ist (Aglietta 1976, Hirsch & Roth 1986, Moulaert & Swyngedouw 1989, Ipsen 2002 und 2006, Ossenbrügge 2011). Eine Entwicklung (auf regionaler oder internationaler Ebene), die Überakkumulationen und Systemkrisen vermeidet, wäre in dieser Sichtweise nur außerhalb der markwirtschaftlichen, kapitalistischen Staatsorganisation vorstellbar. Hier besteht der wesentliche Unterschied zur keynesianischen Perspektive: Dort sind Krisen durch geschicktes Agieren zu überwinden; in der neomarxistischen Denkweise sind Krisen zwingender Bestandteil des kapitalistischen Systems, das insgesamt abgelehnt wird.
Stellt man die liberale und die keynesianische Sicht gegenüber, lassen sich zahlreiche Unterschiede im Hinblick auf die Regionalentwicklung benennen. Hier ist zunächst auf die betrachtete Maßstabsebene zu verweisen. Die liberale Sicht denkt wenig kleinräumig. Ein wirtschaftlicher Strukturwandel auf regionaler Ebene stellt aus dieser Sicht kein wirkliches Problem dar – hier wird in aller Regel ein Bereinigungsprozess angenommen, der durchaus sinnvoll ist. Wichtig ist, dass ‚auf das Ganze gesehen‘, also eher großräumig und langfristig, die Wirtschaftsleistung wächst. Die keynesianische Sicht hingegen tendiert dazu, auch kleinräumigere und kurzfristige Probleme zu adressieren.
Beide Perspektiven halten es für wünschenswert, dass Krisen in der regionalen Entwicklung zu überwinden sind. Allerdings unterscheidet sich der Weg dorthin erheblich. Abb. 11 illustriert dies in stark vereinfachter Form.